Rosa Luxemburg


Ermattung oder Kampf?


V

Wie ist denn die Sachlage im ganzen? Zum erstenmal haben wir in Deutschland endlich eine lebhafte Massenbewegung bekommen, zum erstenmal sind wir über die bloßen Formen des parlamentarischen Kampfes hinausgegangen und haben es fertig gebracht, den Acheron in Bewegung zu setzen. Umgekehrt, wie es in Österreich fast ein Jahrzehnt lang der Fall war, sind wir nicht vor die harte Aufgabe gestellt, eine Massenaktion mitten in der allgemeinen Apathie mit aller Gewalt heraufzubeschwören, sondern wir haben nur die dankbare und natürliche Aufgabe, die kampffreudige, erregte Stimmung der Massen auszunutzen, um ihr die politischen Losungen zu geben, um sie in politische, sozialistische Aufklärung umzuprägen, um den Massen wegweisend voranzugehen, sie vorwärts zu führen. Aus dieser Situation heraus ergibt sich auch auf die natürlichste Weise, daß die Losung des Massenstreiks in den Vordergrund getreten ist, und es ist Pflicht der Partei, sie offen und klar zu erörtern, als ein Mittel, das sich früher oder später aus der anschwellenden Demonstrationsbewegung und dem hartnäckigen Widerstand der Reaktion ergeben muß. Nicht darauf kommt es an, plötzlich von heute auf morgen einen Massenstreik in Preußen zu kommandieren oder für die nächste Woche zum Massenstreik „aufzufordern“, sondern im Zusammenhang mit der Kritik aller bürgerlichen Parteien und der Beleuchtung der ganzen Situation in Preußen-Deutschland geschichtlich, ökonomisch, politisch den Massen klarzumachen, daß sie nicht auf bürgerliche Bundesgenossen und nicht auf die parlamentarische Aktion, sondern bloß auf sich selbst, auf die eigene entschlossene Klassenaktion angewiesen sind. Die Losung des Massenstreiks ergibt sich dabei nicht als ein ausgeklügeltes, patentiertes Mittel zur Erfechtung von Siegen, das angepriesen wird, sondern als die Formulierung, die Zusammenfassung der politischen und historischen Lehren der heutigen Verhältnisse in Deutschland.

Eine so geartete Agitation für den Massenstreik gibt die Möglichkeit, die ganze politische Situation, die Gruppierung der Klassen und Parteien in Deutschland in schärfster Weise zu beleuchten, die politische Reife der Massen zu steigern, ihr Kraftgefühl, ihre Kampffreude zu wecken, an den Idealismus der Massen zu appellieren, neue Horizonte dem Proletariat zu zeigen. Dadurch wird die Erörterung des Massenstreiks zum hervorragenden Mittel, indifferente Schichten des Proletariats aufzurütteln, proletarische Anhänger der bürgerlichen Parteien, namentlich des Zentrums, zu uns herüberzuziehen, die Massen für alle Eventualitäten der Situation bereit zu machen und endlich in wirksamster Weise auch für die Reichstagswahlen vorzuarbeiten.

Wenn nun Genosse Kautsky gegen diese Agitation den Feldzug eröffnet, die Erörterung des Massenstreiks für gefährlich erklärt und die ganze Wahlrechtsbewegung auf die kommenden Reichstagswahlen als den einzigen Zielpunkt zu richten sucht, so heißt das einfach, die bereits auf neuen Bahnen erfreulich vorgeschrittene Parteibewegung wieder in die alten ausgetretenen Geleise des reinen Parlamentarismus zurückzuschrauben.

Aber Genosse Kautsky trägt wieder Eulen nach Athen, wenn er uns in Deutschland parlamentarischen Optimismus und parlamentarische Aktion predigt. Wir haben ohnehin schon seit Jahrzehnten unser Parteileben auf die Reichstagswahlen als die Hauptaktion eingerichtet, und unsere Taktik wird ohnehin mehr als genug von Rücksichten auf die Parlamentswahlen beeinflußt. Mit dem Hinweis auf bevorstehende Reichstagswahlen werden periodische Auseinandersetzungen über die Taktik gerügt. Aus Rücksicht auf die Reichstagswahlen wurde im Jahre 1907 die völlig verkehrte Politik vom Vorwärts befolgt, alle Kanonen gegen den Liberalismus zu richten und das Zentrum, weil es sich parlamentarisch in der Opposition befand, aus dem Spiele zu lassen. Nur weil unsere Provinzpresse, namentlich im westlichen Bezirk, diesem Beispiel nicht gefolgt war und das Zentrum rücksichtslos bekämpft hat, ist es gelungen, unsere Position zu behaupten. Auf die Reichstagswahlen ist ja ohnehin das Hauptaugenmerk unserer Parteileitung gerichtet, und während zum Beispiel bei jeder Reichstagswahl es als selbstverständlich gilt, daß im ganzen Lande eine unermüdliche Agitation entfaltet wird, sämtliche Redner aufgeboten, in jeder Stadt und jedem Städtchen zahllose Versammlungen abgehalten werden, wird jetzt, während der Wahlrechtsbewegung, nichts Derartiges getan. Die in Versammlungen und Flugschriften geleistete Agitation ist allerminimalst. Aus parlamentarischen Gesichtspunkten ist unter anderem der 18. März in diesem Jahre für die Agitation ungenützt geblieben: die für den 15. März angeordneten Berliner Versammlungen sollten an die dritte Lesung [der Wahlrechtsvorlage] des preußischen Abgeordnetenhauses, statt an die Revolution anknüpfen. Endlich aus Rücksicht auf den Parlamentarismus und aus parlamentarischen Gewohnheiten wird bei uns die republikanische Agitation so sehr vernachlässigt, die jetzt dringender erforderlich ist wie je.

War es also wirklich eine noch größere Zuspitzung unserer ganzen Taktik auf die Reichstagswahlen, eine noch größere Faszinierung der Massen durch Parlamentswahlen, was uns gerade jetzt in Deutschland Not tat?

Ich finde es nicht. Irgendwelche „Gefahren“, gegen die es aufzutreten galt, konnten nur in der Einbildung derjenigen existieren, die sich von den anarchistischen Vorstellungen über den Massenstreik nicht losmachen können. Der wirkliche Effekt des Auftretens des Genossen Kautsky ist also nur der, daß er eine theoretische Schirmwand für die Elemente in der Partei und in den Gewerkschaften geliefert hat, die sich bei der weiteren rücksichtslosen Entfaltung der Massenbewegung unbehaglich fühlen, sie im Zaume halten und sich am liebsten so schnell wie möglich auf die alten bequemen Bahnen des parlamentarischen und gewerkschaftlichen Alltags zurückziehen möchten. Indem Genosse Kautsky unter Berufung auf Engels und den Marxismus diesen Elementen für ihr Vorgehen eine Gewissensberuhigung gebracht hat, hat er zugleich ein Mittel geliefert, um derselben Demonstrationsbewegung wieder für die nächste Zeit das Genick zu brechen, die er immer machtvoller gestalten möchte.

Es ist aber klar, daß die weiteren Auswischten der Wahlrechtsbewegung jetzt, umgekehrt, gerade eine Fortsetzung und machtvollere Entfaltung der Massenaktion erfordern. Der parlamentarische Zusammenbruch der Wahlrechtsvorlage bedeutet den Bankrott der Regierung wie des konservativklerikalen Blocks. [1] Die Aktion der Gegner ist vorläufig mit ihrem Latein zu Ende, die Aktion des Proletariats muß um so nachdrücklicher einsetzen. Der Gegner befindet sich auf dem Rückzug, uns gebührt die Offensive. Nicht tröstliche Erwartungen auf die grandiose Revanche in anderthalb Jahren an der Wahlurne, sondern Schlag auf Schlag jetzt schon, nicht Ermattung, sondern Kampf auf der ganzen Linie, das ist es, was uns Not tut. Und ich wiederhole: Wenn die Masse der Parteigenossen dies begreift und empfindet, dann werden auch unsere Führer auf dem Posten sein. „Die Menge tut es.“

Zum Schlusse eine kleine historische Reminiszenz, die aber nicht ohne artige Parallelen mit der Gegenwart ist. Genosse Kautsky lehnt die Beispiele anderer Länder, in denen der Massenstreik in der letzten Zeit in Anwendung gekommen ist, für Preußen ab. Rußland tauge als Beispiel nicht, auch nicht Belgien und selbst nicht Osterreich. Überhaupt „gehe es nicht an, sich für die gegenwärtige Situation in Preußen auf das Vorbild anderer Länder zu berufen“. [2] Genosse Kautsky selbst geht aber, um das richtige Muster für unsere Taktik zu holen, auf die alten Römer und Hannibal zurück. Hier findet er das Beispiel, an dem sich das deutsche Proletariat erbauen soll, in Fabius dem Zauderer mit seiner angeblich siegreichen „Ermattungsstrategie“. Mir scheint es etwas weit ausgeholt, auf die antiken Römer zurückzugreifen, da aber Genosse Kautsky dies nun einmal tut, so möchte ich immerhin konstatieren, daß auch hier die Tatsachen nicht ganz zutreffen. Die Fabel von der notwendigen und siegreichen Strategie des Cunctators hat schon Mommsen zerstört, indem er nachwies, daß „die natürliche und richtige Verwendung“ der römischen Streitmacht von Anfang an ein entschlossener Angriff gewesen wäre, und daß die zaudernde Haltung des Fabius, die Mommsen das „methodische Nichtstun“ nennt, nicht die Äußerung irgendeines tiefen und durch Umstände gebotenen strategischen Planes, sondern ein Ausfluß der ganzen konservativen, greisenhaften Politik des Senats war. „Quintus Fabius“, sagt Mommsen, „war ein hochbejahrter Mann, von einer Bedachtsamkeit und Festigkeit, die nicht wenigen als Zauderei und Eigensinn erschien; ein eifriger Verehrer der guten alten Zeit, der politischen Allmacht des Senats und des Bürgermeisterkommandos, erwartete er das Heil des Staates nächst Opfern und Gebeten von der methodischen Kriegführung.“ „An einem leitenden, die Verhältnisse im Zusammenhang beherrschenden Staatsmann muß es gefehlt haben“, sagt er an einer anderen Stelle; „überall war entweder zu wenig Geschehen oder zuviel. Nun begann der Krieg, zu dem man Zeit und Ort den Feind hatte bestimmen lassen; und im wohlbegründeten Vollgefühl militärischer Überlegenheit war man ratlos über Ziel und Gang der nächsten Operationen.“ Der Angriff in Spanien und Afrika war das erste Gebot der Taktik, „allein man versäumte das Gebot des Vorteils nicht minder wie das der Ehre“. Daß durch jene Zögerung die spanischen Bundesgenossen Roms zum zweitenmal aufgeopfert wurden, konnte man ebenso sicher vorhersehen, als die Zögerung selbst sich leicht vermeiden ließ.“ „So weise es war, sich römischerseits verteidigend zu verhalten und den Haupterfolg von dem Abschneiden der Subsistenzmittel des Feindes zu erwarten, so war es doch ein seltsames Verteidigungs- und Aushungerungssystem, bei welchem der Feind unter den Augen einer an Zahl gleichen römischen Armee ganz Mittelitalien ungehindert verwüstet und durch eine geordnete Fouragierung im größten Maßstab sich für den Winter hinreichend verproviantiert hatte.“ „Endlich, was das römische Heer anlangte, so konnte man nicht sagen, daß es den Feldherrn zu dieser Kriegführung nötigte; es bestand wohl zum Teil aus einberufener Landwehr, aber doch seinem Kerne nach aus den dienstgewohnten Legionen von Arminum, und weit entfernt, durch die letzten Niederlagen entmutigt zu sein, war es erbittert über die wenig ehrenvolle Aufgabe, die sein Feldherr, „Hannibals Lakai“, ihm zuwies, und verlangte mit lauter Stimme, gegen den Feind geführt zu werden. Es kam zu den heftigsten Auftritten in den Bürgerversammlungen gegen den eigensinnigen alten Mann.“ In diesem Sinne geht es bei Mommsen eine ganze Strecke weiter. „Nicht der ‚Zauderer‘ hat Rom gerettet“, sagt er mit dürren Worten, „sondern die feste Fügung seiner Eidgenossenschaft und vielleicht nicht minder der Nationalhaß, mit dem der phönizische Mann von den Okzidentalen empfangen ward.“ Dies war so offenkundig, daß schließlich sogar „die Majorität des Senats trotz der Quasilegitimation, welche die letzten Ereignisse dem Zaudersystem des Fabius gegeben hatten, doch fest entschlossen war, von dieser den Staat zwar langsam aber sicher zugrunde richtenden Kriegführung abzugehen.“ [1*]

So sieht es mit der siegreichen „Ermattungsstrategie“ des Fabius Cunctator aus. Tatsächlich ist sie eine Legende, die auf unseren Schulen den Gymnasiasten gepredigt wird, um sie im konservativen Geiste zu drillen und vor „Überstürzung“ und „Umstürzlern“ zu warnen, ihnen als Geist der Weltgeschichte das Motto einzubleuen, nach dem der Landsturm marschiert: „Immer langsam voran.“ Daß diese Legende nun für das revolutionäre Proletariat gelten soll, heute, in dieser Situation – das ist eine von den unerwarteten Fügungen des Schicksals.

Wie dem auch sei, ist jedenfalls das Element des edlen Quintus Fabius, der nächst Opfern und Gebeten von der methodischen Kriegführung das Heil des Staates erwartete, in unserem obersten Senat der Partei und der Gewerkschaften, wie mich dünkt, hinlänglich vertreten. An einem Mangel des Zauderns, an jugendlichem Übermut und Überstürzung haben wir in unserer Parteileitung, soviel ich weiß, noch nicht viel gelitten. Wie Genosse Adler auf dem Deutsch-Österreichischen Parteitag in Graz gesagt hat: „Die Peitsche tut immer gut, und ich gestehe, daß mir Äußerungen auf dem Parteitag, die sich beklagen, daß zu wenig geschehe, weit lieber sind als solche, die zur Klugheit und Besonnenheit raten. Die Besonnenheit besorgen schon wir, vielleicht in zu großem Masse. Zum Bremsen brauchen wir Sie nicht.“ [3] So ungefähr, denke ich, ist es auch bei uns. Daß Genosse Kautsky seine Feder und sein historisches Wissen der Befürwortung der Cunctator-Strategie lieh, war zum mindesten eine Verschwendung. Zum Bremsen, Genosse Kautsky, brauchen wir Sie nicht.


Fußnote

1*. Theodor Mommsen, Römische Geschichte, 3. Aufl., 1. Band, 1856, S. 551–577.



Anmerkungen

1. Während der Debatte über die Reichsfinanzreform im Sommer 1909 zerfiel der Bülow-Block und wurde durch den sogenannten Schnapsblock oder Schwarz-Blauen Block aus Konservativen und Zentrum ersetzt.

2. K. Kautsky, Was nun?, in Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, 2. Bd., S. 36.

3. Verhandlungen des Parteitages der Deutschen Sozialdemokratie Oesterreichs, abgehalten zu Graz vom 2. bis einschließlich 6. September 1900, S. 83.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012