Rosa Luxemburg


Die Theorie und die Praxis


I

Die erste Frage, die in unserer gegenwärtigen Auseinandersetzung das Interesse der Parteikreise beansprucht, ist die, ob der Diskussion über den Massenstreik in der Parteipresse, namentlich im Vorwärts und in der Neuen Zeit, Hindernisse in den Weg gelegt worden sind oder nicht. Genosse Kautsky bestreitet dies, indem er behauptet, es sei ihm „natürlich nie eingefallen, das Diskutieren des Massenstreiks ‚verbieten‘ zu wollen“. [1] Genosse Kautsky will mich da mißverstehen. Es handelte sich selbstverständlich nicht um ein Verbot des Genossen Kautsky – ein einzelner Redakteur kann nichts „verbieten“ – sondern um ein Verbot der „höheren Instanzen“, dem Genosse Kautsky in seinem Machtbereich, in der Neuen Zeit, gefolgt war, entgegen seiner ursprünglichen- Aufnahme meines Artikels. Was die andere Frage – die Propagierung der Republik – betrifft, so stellt Genosse Kautsky auch hier in Abrede, daß er mir Hindernisse in den Weg gelegt hatte. Das falle ihm gar nicht ein. Es hätte sich bloß um einen Passus über Republik in meinem Massenstreikartikel gehandelt, „dessen Fassung“ der Redaktion der Neuen Zeit „unzweckmäßig schien“. Ich hätte dann selbst meinen Artikel in der Dortmunder Arbeiter-Zeitung veröffentlicht. [2]Aber vergebens wird man in diesem Artikel jenen Passus über die Republik suchen.[3] Genosse Kautsky hat auch „nicht gefunden“, daß ich diesen Passus irgendwo anders veröffentlicht hätte. „Die feige Prinzipienverhüllung, die uns die Genossin Luxemburg vorwirft“, schließt er, „reduziert sich also darauf, daß wir einen Passus ihres Artikels beanstandeten, dessen Veröffentlichung sie selbst seitdem freiwillig unterlassen hat. Solche Strategie ist kein Heldenstück, Oktavia!“ [4] Genosse Kautsky ist in dieser für mich so blamablen Darstellung der Tatsachen das Opfer seltsamer Irrtümer geworden. In Wirklichkeit handelte es sich gar nicht um „einen Passus“ und die etwaige Gefährlichkeit seiner „Fassung“, es handelte sich um den Inhalt, um die Losung der Republik und die Agitation dafür, und Genosse Kautsky muß mir schon gestatten, daß ich in der prekären Lage, in die er mich mit seiner Darstellung des Sachverhaltes versetzt bat, ihn selbst zum Kronzeugen und Retter in der Not anrufe. Genosse Kautsky schrieb mir nämlich, nachdem er meinen Massenstreikartikel erhalten:

Dein Artikel ist sehr schön und sehr wichtig, ich bin nicht mit allem einverstanden und behalte mir vor, dagegen zu polemisieren. Heute habe ich keine Zeit, das brieflich zu tun. Genug, ich nehme den Artikel gerne, wenn Du die Seiten 29 bis Schluß streichst. Die kann ich auf keinen Fall bringen. Schon ihr Ausgangspunkt ist falsch. In unserem Programm steht kein Wort von der Republik. Nicht aus Versehen, nicht wegen einer redaktionellen Liebhaberei, sondern aus wohlerwogenen Gründen. Auch das Gothaer Programm sprach nicht von der Republik, und Marx, sosehr er dies Programm verurteilte, erkannte an, daß es nicht anginge, offen die Republik zu fordern, in seinem Briefe (Neue Zeit, IX, 1, S. 573). [5] Über die gleiche Angelegenheit im Erfurter Programm sprach Engels (Neue Zeit, XX, 1, S. 11) [6]. Ich habe nicht die Zeit, Dir die Gründe, die Marx und Engels, Bebel und Liebknecht als stichhaltig anerkannten, auseinanderzusetzen. Genug, was Du willst, ist eine völlig neue Agitation, die bisher stets abgelehnt worden war. Diese neue Agitation ist aber der Art, daß es nicht gut angeht, sie öffentlich zu diskutieren. Du würdest mit Deinem Artikel auf eigene Faust, als einzelne Person, eine völlig neue Agitation und Aktion proklamieren, die die Partei stets verworfen hat. In dieser Weise können und dürfen wir nicht vorgehen. Eine einzelne Persönlichkeit, wie hoch sie stehen mag, darf nicht auf eigene Faust ein Fait accompli schaffen, das für die Partei unabsehbare Folgen haben kann.

Im gleichen Sinne ging es noch etwa zwei Seiten lang.

Die „völlig neue Agitation“, die für die Partei „unabsehbare Folgen“ haben konnte, hatte folgenden Wortlaut:

Das allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht für alle Erwachsenen, ohne Unterschied des Geschlechts, ist das nächste Ziel, das uns die begeisterte Zustimmung der breitesten Schichten im gegenwärtigen Moment sichert. Aber dieses Ziel ist nicht das einzige, das wir jetzt predigen müssen. Indem wir in Beantwortung der infamen Wahlreformstümperei [7] der Regierung und der bürgerlichen Parteien die Losung eines wahrhaft demokratischen Wahlsystems proklamieren, befinden wir uns immer noch – die politische Situation im ganzen genommen – in der Defensive. Gemäß dem alten guten Grundsatz jeder wirklichen Kampftaktik, daß ein kräftiger Hieb die beste Verteidigung ist, müssen wir die immer frecheren Provokationen der herrschenden Reaktion damit beantworten, daß wir in unserer Agitation den Spieß umdrehen und auf der ganzen Linie zum scharfen Angriff übergehen. Dies kann aber am sichtbarsten, deutlichsten, sozusagen in lapidarster Form geschehen, wenn wir diejenige politische Forderung klar in der Agitation vertreten, die den ersten Punkt unseres politischen Programms ausmacht: die Forderung der Republik. In unserer Agitation hat bisher die republikanische Parole eine geringe Rolle gespielt. Dies hat seine guten Gründe darin gehabt, daß unsere Partei die deutsche Arbeiterklasse vor jenen bürgerlich- oder richtiger kleinbürgerlich-republikanischen Illusionen bewahren wollte, die zum Beispiel für die Geschichte des französischen Sozialismus so verhängnisvoll waren und bis heute noch geblieben sind. In Deutschland wurde der proletarische Kampf von Anfang an konsequent und entschlossen nicht gegen diese oder/jene Formen und Auswüchse des Klassenstaates im einzelnen, sondern gegen den Klassenstaat als solchen gerichtet, er zersplitterte nicht in Antimilitarismus, Antimonarchismus und anderen kleinbürgerlichen „Ismen“, sondern gestaltete sich stets zum Antikapitalismus, zum Todfeind der bestehenden Ordnung in allen ihren Auswüchsen und Formen, ob unter monarchischem oder republikanischem Deckmantel. Durch vierzig Jahre dieser gründlichen Aufklärungsarbeit ist es dann auch gelungen, die Überzeugung zum ehernen Besitz der aufgeklärten Proletarier in Deutschland zu machen, daß die beste bürgerliche Republik nicht weniger ein Klassen staat und Bollwerk der kapitalistischen Ausbeutung ist als eine heutige Monarchie und daß nur die Abschaffung des Lohnsystems und der Klassenherrschaft in jeglicher Gestalt, nicht aber der äußere Schein der „Volksherrschaft“ in der bürgerlichen Republik die Lage des Proletariats wesentlich zu verändern vermag.

Allein, gerade weil in Deutschland den Gefahren republikanisch-kleinbürgerlicher Illusionen durch die vierzigjährige Arbeit der Sozialdemokratie so gründlich vorgebeugt worden ist, können wir heute ruhig dem obersten Grundsatz unseres politischen Programms in unserer Agitation mehr von dem Platz einräumen, der ihm von Rechts wegen gebührt. Durch die Hervorhebung des republikanischen Charakters der Sozialdemokratie gewinnen wir vor allem eine Gelegenheit mehr, unsere prinzipielle Gegnerschaft als einer Klassenpartei des Proletariats zu dem vereinigten Lager sämtlicher bürgerlicher Parteien in greifbarer, populärer Weise zu illustrieren. Der erschreckende Niedergang des bürgerlichen Liberalismus in Deutschland äußert sich ja unter anderem besonders drastisch in dem Byzantinismus vor der Monarchie, in dem das liberale Bürgertum noch das konservative Junkertum um einige Nasenlängen schlägt.

Doch nicht genug. Die ganze Lage der inneren wie der äußeren Politik Deutschlands in den letzten Jahren weist auf die Monarchie als den Brennpunkt oder zum mindesten die äußere, sichtbare Spitze der herrschenden Reaktion hin. Die halbabsolutistische Monarchie mit dem persönlichen Regiment bildet zweifellos seit einem Vierteljahrhundert und mit jedem Jahre mehr den Stützpunkt des Militarismus, die treibende Kraft der Flottenpolitik, den leitenden Geist der weltpolitischen Abenteuer, wie sie den Hort des Junkertums in Preußen und das Bollwerk der Vorherrschaft der politischen Rückständigkeit Preußens im ganzen Reiche bildet, sie ist endlich sozusagen der persönliche geschworene Feind der Arbeiterklasse und der Sozialdemokratie. Die Losung der Republik ist also in Deutschland heute unendlich mehr als der Ausdruck eines schönen Traumes vom demokratischen Volksstaat oder eines in den Wolken schwebenden politischen Doktrinarismus, sie ist ein praktischer Kriegsruf gegen Militarismus, Marinismus, Kolonialpolitik, Weltpolitik, Junkerherrschaft, Verpreußung Deutschlands, sie ist nur eine Konsequenz und drastische Zusammenfassung unseres täglichen Kampfes gegen alle diese Teilerscheinungen der herrschenden Reaktion. Insbesondere aber weisen nach derselben Richtung gerade die Vorgänge der jüngsten Zeit: Es sind dies die absolutistischen Staatsstreichdrohungen des Junkertums im Reichstag [8] und die frechen Attacken des Reichskanzlers gegen das Reichstagswahlrecht im preußischen Landtag [9] sowie die Einlösung des königlichen Wortes in Fragen des preußischen Wahlrechtes durch die Bethmannsche Reformvorlage. [10]

Ich kann diese „völlig neue Agitation“ um so ruhigeren Gewissens hierher setzen, als sie bereits im Druck erschienen ist, ohne daß die Partei den geringsten Schaden an Leib und Seele genommen hätte. Ich habe nämlich, nachdem mir Genosse Kautsky trotz der Zustimmung, die ich zwar mit Achselzucken, aber mit Resignation zur Streichung des Kapitels über die Republik gegeben, doch schließlich den ganzen Artikel über den Massenstreik retourniert hatte, die von ihm verpönten Seiten „29 bis Schluß“, ohne ein Wort daran zu ändern, mit Einleitung und Abschluß versehen und als selbständigen Artikel unter dem Titel Zeit der Aussaat in der Breslauer Volkswacht vom 25. März veröffentlicht [11], worauf er von einer Reihe von Parteiblättern, soviel ich mich erinnere in Dortmund, Bremen, Halle, Elberfeld, Königsberg und in thüringischen Blättern, nachgedruckt worden ist. Das alles war sicher kein Heldenstück von mir, es ist bloß mein Pech, daß Genosse Kautsky ebenso flüchtig die Parteipresse in jener Zeit las, wie er die Stellung der Partei zur Losung der Republik überlegte. Hätte er nämlich reiflicher die Sache überlegt, so konnte er unmöglich in der Frage der Republik Marx und Engels gegen mich ins Feld führen. Der Engelssche Aufsatz, auf den Genosse Kautsky verweist, ist die Kritik des vom Parteivorstand ausgearbeiteten Entwurfes des Erfurter Programms vom Jahre 1891. Hier sagt Engels im Kapitel II Politische Forderungen:

Die politischen Forderungen des Entwurfs haben einen großen Fehler. Das, was eigentlich gesagt werden sollte, steht nicht drin. Wenn alle diese 10 Forderungen bewilligt wären, so hätten wir zwar diverse Mittel mehr, um die politische Hauptsache durchzusetzen, aber keineswegs die Hauptsache selbst. [12]

Die dringende Notwendigkeit, diese „Hauptsache“ der politischen Forderungen der Sozialdemokratie klarzustellen, begründet Engels mit dem Hinweis auf den „in einem großen Teil der sozialdemokratischen Presse einreißenden Opportunismus“. [13] Dann fährt er fort:

Welches sind nun diese kitzligen, aber sehr wesentlichen Punkte?

Erstens. Wenn etwas feststeht, so ist es dies, daß unsre Partei und die Arbeiterklasse nur zur Herrschaft kommen kann unter der Form der demokratischen Republik. Diese ist sogar die spezifische Form für die Diktatur des Proletariats, wie schon die große französische Revolution gezeigt hat. Es ist doch undenkbar, daß unsre besten Leute unter einem Kaiser Minister werden sollten wie Miquel. Nun scheint es gesetzlich nicht anzugehn, daß man die Forderung der Republik direkt ins Programm setzt, obwohl das sogar unter Louis-Philippe in Frankreich ebenso zulässig war wie jetzt in Italien. Aber das Faktum, daß man nicht einmal ein offen republikanisches Parteiprogramm in Deutschland aufstellen darf, beweist, wie kolossal die Illusion ist, als könne man dort auf gemütlich-friedlichem Weg die Republik einrichten, und nicht nur die Republik, sondern die kommunistische Gesellschaft.

Indes kann man an der Republik sich allenfalls vorbeidrücken. Was aber nach meiner Ansicht hinein sollte und hinein kann, das ist die Forderung der Konzentration aller politischen Macht in den Händen der Volksvertretung. Und das würde einstweilen genügen, wenn man nicht weitergehen kann.

Zweitens. Die Rekonstitution Deutschlands ...

Also einheitliche Republik ...

Von allen diesen Sachen wird nicht viel ins Programm kommen dürfen. Ich erwähne sie auch hauptsächlich, um die Zustände in Deutschland zu kennzeichnen, wo so etwas zu sagen nicht angeht, und damit gleichzeitig die Selbsttäuschung, die solche Zustände auf gesetzlichem Weg in die kommunistische Gesellschaft überführen will. Und ferner, um dem Parteivorstand in Erinnerung zu bringen, daß es noch andre politische Fragen von Wichtigkeit gibt als die direkte Gesetzgebung durch das Volk und die unentgeltliche Rechtspflege, ohne die wir am Ende auch vorankommen. Bei der allgemeinen Unsicherheit können jene Fragen von heute auf morgen brennend werden, und was dann, wenn wir sie nicht diskutiert, uns nicht darüber verständigt haben? [14]

Man sieht, Engels erblickt „einen großen Fehler“ des Parteiprogramms darin, daß es nicht die Forderung der Republik enthält, nur auf die kategorischen Vorstellungen aus Deutschland hin, daß dies aus polizeilichen Gründen „nicht angehe“, entschließt er sich mit sichtlichem Unbehagen und einigen Zweifeln, in den sauren Apfel zu beißen und sich „allenfalls“ an der Forderung der Republik „vorbeizudrücken“. Was er aber ganz unumwunden für notwendig erklärt, ist die Erörterung der Losung der Republik in der Parteipresse:

Ob es sonst noch möglich ist – sagt er nochmals, in bezug auf die soeben diskutierten Punkte Programmforderungen zu formulieren – kann ich hier nicht so gut beurteilen als Ihr dort. Aber wünschenswert wäre es, daß diese Fragen innerhalb der Partei debattiert würden, ehe es zu spät ist. [1*] [Hervorhebung – R.L.]

Dieses „politische Testament“ von Friedrich Engels wird allenfalls in eigentümlicher Weise vom Genossen Kautsky ausgelegt, indem er die Erörterung der Notwendigkeit einer Agitation für die Republik als „völlig neue Agitation“, die angeblich „stets von der Partei verworfen wurde“, aus der Neuen Zeit verbannt.

Was aber Marx betrifft, so ging er in seiner Kritik des Gothaer Programms so weit, daß er erklärte: habe man nicht die Möglichkeit, offen die Republik als oberste politische Programmforderung aufzustellen, dann dürfe man auch nicht all die anderen demokratischen Detailforderungen im Programm aufzählen. Er schreibt über das Gothaer Programm:

Seine politischen Forderungen enthalten nichts, außer der aller Welt bekannten demokratischen Litanei: allgemeines Wahlrecht, direkte Gesetzgebung, Volksrecht, Volkswehr etc. ...

Aber man hat eins vergessen. Da die deutsche Arbeiterpartei ausdrücklich erklärt, sich innerhalb des heutigen nationalen Staats, also ihres Staats, des preußisch-deutschen Reichs, zu bewegen ..., so durfte sie die Hauptsache nicht vergessen, nämlich daß alle jene schönen Sächelchen auf der Anerkennung der sog. Volkssouveränität beruhn, daß sie daher nur in einer demokratischen Republik am Platze sind.

Da man nicht in der Lage ist – und weislich, denn die Verhältnisse gebieten Vorsicht [Notabene, Marx schrieb dies vor fünfunddreißig Jahren, in der Ära Tessendorf [15], als das Sozialistengesetz seine Schatten vorauswarf – R.L.] – die demokratische Republik zu verlangen, wie es die französischen Arbeiterprogramme unter Louis-Philippe und unter LouisNapoleon taten – so hätte man auch nicht zu der ... Finte flüchten sollen [die Punkte ersetzen ein burschikoses Adjektiv von Marx – R.L.], Dinge, die nur in einer demokratischen Republik Sinn haben, von einem Staate zu verlangen, der nichts andres als ein mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Beisatz vermischter, schon von der Bourgeoisie beeinflußter, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus ist.

Selbst die vulgäre Demokratie, die in der demokratischen Republik das Tausendjährige Reich sieht und keine Ahnung davon hat, daß grade in dieser letzten Staatsform der bürgerlichen Gesellschaft der Klassenkampf definitiv auszufechten ist – selbst sie steht noch berghoch über solcher Art Demokratentum innerhalb der Grenzen des polizeilich Erlaubten und logisch Unerlaubten. [2*]

Also auch Marx führte eine ganz andere Sprache in puncto Republik. Marx wie Engels ließen – auf Versicherungen aus Deutschland hin – kurz vor und gleich nach dem Sozialistengesetz allenfalls noch gelten, daß es vielleicht nicht anginge, die Forderung der Republik im Programm in aller Form aufzustellen. Daß aber diese Forderung heute, ein Vierteljahrhundert später, in der Agitation – und nur um diese handelte es sich ja – als etwas „völlig Neues“ und Unerhörtes gelten sollte, davon ließen sich die beiden sicher nicht träumen.

Genosse Kautsky beruft sich freilich darauf, daß er in der Neuen Zeit schon „ganz anders“ die Republik propagiert habe, als ich es in meiner harmlosen Art jetzt tue. Er muß es ja besser wissen, mich läßt mein Gedächtnis in diesem Falle etwas im Stich. Bedarf es aber eines überzeugenderen Beweises, daß in dieser Hinsicht auf Schritt und Tritt in der Praxis nicht das Nötige getan wird, als der Vorgänge der jüngsten Tage? Die Erhöhung der preußischen Zivilliste [16] bot wiederum die denkbar glänzendste Gelegenheit und schuf zugleich für die Partei die unabweisbare Pflicht, die Losung der Republik scharf und klar hervorzukehren und für ihre Propaganda zu sorgen. Die freche Herausforderung, die in dieser Regierungsvorlage unmittelbar nach dem schmählichen Ende der Wahlrechtsvorlage lag, hätte unbedingt mit der Aufrollung der politischen Funktion der Monarchie und des persönlichen Regiments in Preußen-Deutschland beantwortet werden müssen, mit der Hervorhebung ihres Zusammenhanges mit dem Militarismus, Marinismus, dem sozialpolitischen Stillstand, mit der Erinnerung an die berühmten „Reden“ und „Aussprüche“ von der „Rotte von Menschen“, der „Kompottschüssel“, mit der Erinnerung an die „Zuchthausvorlage [17], mit der Beleuchtung der Monarchie als des sichtbaren Ausdrucks der ganzen reichsdeutschen Reaktion. Die rührende Einmütigkeit sämtlicher bürgerlichen Parteien bei der byzantinischen Behandlung der Vorlage zeigte wieder einmal drastisch, daß die republikanische Losung in dem heutigen Deutschland zum Erkennungswort der Klassenscheidung, zur Parole des Klassenkampfes geworden ist. Nichts von alledem ist in der Neuen Zeit wie im Vorwärts geschehen. Nicht von politischer Seite, sondern hauptsächlich als Geldfrage, als Frage des Einkommens der Familie Hohenzollern ist die Erhöhung der Zivilliste behandelt und mit mehr oder weniger Witz breitgetreten, nicht mit einer Silbe aber ist die republikanische Losung in unseren beiden leitenden Organen vertreten worden.

Genosse Kautsky ist ein berufenerer Marxkenner als ich, er wird besser wissen, mit welchem punktierten Adjektiv Marx wohl diese „Finte“ belegen würde und diese Art Republikanertum „innerhalb der Grenzen des polizeilich Erlaubten und politisch Unerlaubten“.

Bei alledem befindet sich Genosse Kautsky im Irrtum, wenn er sagt, ich „beklage mich“ über die „schlechte Behandlung“ seitens der Redaktion der Neuen Zeit. [18] Ich finde, daß Genosse Kautsky nur sich selbst schlecht behandelt hat.

Fußnoten von Rosa Luxemburg

1*. Neue Zeit, XX, 1, S. 11/12. [Friedrich Engels: Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 22, S. 237.]

2*. Neue Zeit, IX, 1, S. 573. [Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 19, Berlin 1969, S. 29.]



Anmerkungen

1. K. Kautsky, Eine neue Strategie, in: Die Neue Zeit (Stuttgart), 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 334.

2. R. Luxemburg, Was weiter?, in: R. Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 289–299.

3. K. Kautsky: Eine neue Strategie, in: Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 337.

4. Ebenda.

5. Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 19, Berlin 1962, S. 29.

6. Friedrich Engels, Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 22, Berlin 1963, S. 235/236

7. Die auf dem Druck der Massenbewegung von der preußischen Regierung am 5. Februar 1910 eingebrachte vorlage zur Änderung des preußischen Wahlrechts, die nur eine geringfügige Änderung der Klasseneinteilung und die direkte Wahl unter Beibehaltung des Dreiklassenwahlrechts vorsah, wurde durch die Kommissionen des Abgeordnetenhauses und des Herrenhauses abgelehnt. Die machtvollen Wahlrechtskämpfe, die vom februar bis April 1910 ihren Höhepunkt erreichten, zwangen die Regierung, ihre Änderungsvorlage am 27. Mai zurückzuziehen.

8. Am 29. Januar 1910 hatte in der Reichstagsdebatte über den Militäretat der Konservative Elard von Oldenburg-Januschau eine direkte Aufforderung zum Verfassungsbruch an den Kaiser gerichtet. Gegen dieses provokatorische Auftreten kam es in zahlreichen Städten Deutschlands zu Protestversammlungen.

9. Am 10. Februar 1910 hatte Theobald von Bethmann Hollweg im preußischen Abgeordnetenhaus in scharfen Angriffen die Wahlrechtsreform als eine Frage von untergeordneter Bedeutung bezeichnet, die von der Sozialdemokratie künstlich aufgebauscht worden sei. Die daraufhin einsetzenden Massendemonstrationen und Aktionen, die das ganze Jahr über andauerten, kennzeichneten das Heranreifen einer politischen Krise in Deutschland.

10. R. Luxemburg, Zeit der Aussaat, in: R. Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 301–303. Hervorhebungen nur hier.

11. Ebenda, S. 300–304.

12. Friedrich Engels, Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 22. Berlin 1970, S. 233.

13. Ebenda, S. 234.

14. Ebenda, S. 235/236.

15. Hermann Tessendorf war von 1873 bis 1879 Erster Staatsanwalt am Berliner Stadtgericht und als Organisator der Sozialistenverfolgungen berichtigt. Seit 1886 war er Oberreichsanwalt in Leipzig.

16. Am 9. Juni 1910 war im preußischen Abgeordnetenhaus gegen die Stimmen der Sozialdemokraten der Gesetzentwurf über die Erhöhung der Krondotation angenommen worden. Die Vorlage brachte für den preußischen Hof eine zusätzliche Bewilligung von 3.5 Millionen. so daß ihm jährlich insgesamt 19.2 Millionen Mark aus staatlichen Mitteln zur Verfügung gestellt werden mußten.

17. Am 20. Juni 1899 hatte die Regierung im Reichstag einen Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“, die sogenannte Zuchthausvorlage, eingebracht, die sich gegen die zunehmende Streikbewegung richtete und die Beseitigung des Koalitions- und Streikrechts der Arbeiter bezweckte. Auf Grund gewaltiger Massenaktionen konnte diese Vorlage am 20. November 1899 im Reichstag gegen die Stimmen der Konservativen zu Fall gebracht werden.

18. Siehe K. Kautsky, Eine neue Strategie, in: Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 335.


Zuletzt aktualisiert am 15.1.2012