Rosa Luxemburg


Lassalles Erbschaft

(Juni 1913)


Die Gleichheit (Stuttgart), 23. Jg. 1913, Nr.18, S.275-277.
Transkription: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
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„Huttens Irrtum ist nur der aller prophetischen Naturen gewesen, zugleich und in einem als glänzendes Ideal zu schauen und zu begehren, was die Menschheit nur Schritt um Schritt und Stück für Stück in jahrhundertelangem Ringen erreichen kann.“ Mit diesen Worten schließt David Friedrich Strauß seinen Hutten. Und was von diesem, gilt in gleichem Maße von Lassalle. Jahrhunderte kommen freilich bei dem rasenden Tempo der heutigen kapitalistischen Entwicklung nicht mehr in Betracht. Aber was Lassalle in zwei Jahren flammender Agitation der Geschichte abtrotzen wollte, das hat zu seinem Werden vieler Jahrzehnte bedurft. Doch gerade jener optischen Täuschung, der prophetische Naturen unterliegen, daß sie wie Riesen von ihren Berggipfeln die fernen Horizonte zum Greifen nahe wähnen, verdanken wir die kühne Tat, aus der die deutsche Sozialdemokratie hervorgegangen ist. Die Entstehung einer eigenen Klassenpartei des Proletariats war geschichtliche Notwendigkeit, sie war in dem kapitalistischen Wirtschaftsgetriebe wie in dem politischen Wesen des bürgerlichen Klassenstaats gegeben. Mit oder ohne Lassalle wäre die deutsche Sozialdemokratie entstanden, wie mit oder ohne Marx und Engels der Klassenkampf des internationalen Proletariats der herrschende Faktor der neuzeitlichen Geschichte geworden wäre. Daß aber die proletarische Klassenpartei in Deutschland schon vor fünfzig Jahren, reichlich zwei Jahrzehnte früher als in allen anderen Ländern und vorbildlich für alle anderen, daß sie mit solchem Glanze und Adel in die Schranken getreten ist, das verdankt sie dem Lebenswerk Lassalles und seinem „Ich hab’s gewagt!“.

Klassenkämpfe sind die treibende Kraft und der Kern der Weltgeschichte, seit das Privateigentum die Scheidung der menschlichen Gesellschaft in Ausbeuter und Ausgebeutete vollzogen hat. Der Kampf des modernen Proletariats ist nur der letzte in der Reihe der Klassenkämpfe, die sich wie ein roter Faden durch die geschriebene Geschichte ziehen. Und doch bieten die letzten fünfzig Jahre ein Schauspiel, für das die Weltgeschichte keine Beispiele sonst kennt: Zum erstenmal tritt die große Masse der Ausgebeuteten im organisierten und zielbewußten Kampfe um ihre Klassenbefreiung auf. Alle bisherigen Revolutionen waren Revolutionen von Minderheiten im Interesse der Minderheiten. Und als die ersten Regierungen des Proletariats in England, in Frankreich den modernen Klassenkampf eröffneten, da trat jedesmal die Masse nur für Augenblicke auf die Bühne, um nach einer revolutionären Sturzwelle immer wieder zu zerrinnen, in der bürgerlichen Gesellschaft aufzugehen.

Die von Lassalle ins Leben gerufene deutsche Sozialdemokratie war der erste welthistorische Versuch, eine dauernde Organisation der Masse, der Mehrheit des Volkes für den Klassenkampf zu schaffen. Dank der politischen Tat Lassalles wie dank der Theorie von Marx hat die deutsche Sozialdemokratie die neue Aufgabe glänzend gelöst. Die fünfzig Jahre ihrer Geschichte haben den Beweis erbracht, daß auf dem Boden der proletarischen Klasseninteressen sich wohl ein revolutionäres Endziel mit geduldigem Tageskampf, eine wissenschaftliche Theorie mit nüchernster Praxis, stramme und disziplinierte Organisation mit dem Massencharakter der Bewegung, Einsicht in die historische Notwendigkeit mit bewußtem, tatkräftigem Willen vereinigen lasse. Die heutige Größe und Macht der Sozialdemokratie ist die Frucht dieser Vereinigung.

Die bisherige Geschichte der Sozialdemokratie läßt sich kurz zusammenfassen als die Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus zur Aufklärung und Zusammenfassung des Proletariats in seiner Klassenpartei. Auf dieser Bahn, von der sie sich weder durch brutale Ausnahmegesetze noch durch demagogische List weglocken ließ, ist unsere Partei Jahrzehnt für Jahrzehnt vorwärtsgeschritten, bis sie die weitaus stärkste politische Partei des Deutschen Reiches, die stärkste Arbeiterpartei der Welt geworden ist. In diesem Sinne sind die letzten fünfzig Jahre bis zum heutigen Tage aber auch nur eine Ausführung des Aktionsprogramms Lassalles gewesen, das auf zwei nächste Ziele konzentriert war: die Schaffung einer von der liberalen Bourgeoisie unabhängigen Klassenorganisation der Arbeiter und die Erringung des allgemeinen Wahlrechts, um es in den Dienst der Arbeitersache zu stellen.

Der Aufbau der Organisation und die systematische Ausnützung des allgemeinen Wahlrechts – dies war in der Tat im großen und ganzen der Lebensinhalt der Sozialdemokratie während des verflossenen halben Jahrhunderts.

Dieses Programm ist aber auch so ziemlich bis zu jener äußersten Grenze verwirklicht worden, wo nach dem Gesetz der geschichtlichen Dialektik die Quantität in die Qualität umschlagen, wo das bloße unaufhaltsame Wachstum der Sozialdemokratie auf dem Boden und im Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus allgemach von selbst über diesen hinausführen muß.

Die kapitalistische Entwicklung Deutschlands wie der gesamten Weltwirtschaft hat heute einen Grad erreicht, demgegenüber die Verhältnisse, in denen Lassalle sein unsterbliches Werk vollbrachte, wie unbeholfene Kindheit erscheinen. Während damals in Europa erst der Rahmen der bürgerlichen Nationalstaaten für die ungehemmte Herrschaft des Kapitals zurechtgezimmert wurde, werden heute die letzten Fetzen nichtkapitalistisch beherrschter Erdstriche von dem imperialistischen Ungestüm zerrissen, das Kapital ist im Zuge, seine Weltherrschaft durch eine Kette blutiger Expansionskriege zu krönen. Der bürgerliche Parlamentarismus war auf dem europäischen Festland schon von der Geburt an aus Furcht vor dem roten Gespenst des revolutionären Proletariats mit Ohnmacht geschlagen. Nunmehr wird er von den eisernen Hufen des zügellos dahinsprengenden Imperialismus zermalmt; er wird zur leeren Schale, wird zum ohnmächtigen Anhängsel des Militarismus degradiert.

Die Sozialdemokratie hat in fünfzig Jahren vorbildlicher Arbeit aus dem nunmehr steinigen Boden so ziemlich herausgeholt, was an greifbarem materiellem Gewinn für die Arbeiterklasse wie an Klassenaufklärung für sie herauszuholen war, Der jüngste, größte Wahlsieg unserer Partei [1] hat jetzt für aller Augen klargemacht, daß eine sozialdemokratische Fraktion von 110 Mann in der Ära der imperialistischen Delirien und der parlamentarischen Impotenz sozialreformerisch wie agitatorisch nicht mehr, sondern weniger herauszuholen imstande ist als früher eine Fraktion von einem Viertel dieser Stärke. Und der heutige Knotenpunkt der innerpolitischen Entwicklung Deutschlands, das preußische Wahlrecht, hat durch seine hoffnungslose Versumpfung alle Aussichten auf eine durch bloßen Druck der Wahlaktionen erzwungene parlamentarische Reform vernichtet. In Preußen wie im Reiche stößt die Sozialdemokratie in ihrer ganzen Macht ohnmächtig an die Schranke, die Lassalle schon im Jahre 1851 in den Worten formulierte: „Nie hat, nie wird eine (gesetzgebende) Versammlung den bestehenden Zustand umstürzen. Alles, was eine solche Versammlung je getan und gekonnt hat, ist, den draußen bestehenden Zustand proklamieren, den draußen schon vollzogenen Umsturz der Gesellschaft sanktionieren und ihn in seine einzelnen Konsequenzen, Gesetze usw. auszuarbeiten. Aber ewig wird eine solche Versammlung impotent sein, die Gesellschaft selber umzustürzen, die sie vertritt.“ [2] Wir sind aber an einer Entwicklungsstufe angelangt, wo die dringendsten und unabweisbarsten Abwehrforderungen des Proletariats – das allgemeine Wahlrecht in Preußen, die allgemeine Volkswehr im Reich – einen tatsächlichen Umsturz der bestehenden preußisch-deutschen Klassenverhältnisse bedeuten. Will die Arbeiterklasse heute im Parlament ihre Lebensinteressen durchsetzen, dann muß sie erst „draußen“ den tatsächlichen Umsturz vollziehen. Will sie dem Parlamentarismus wieder politische Fruchtbarkeit verleihen, dann muß sie durch außerparlamentarische Aktionen die Masse selbst auf die politische Bühne führen.

Das letzte Jahrzehnt – mit der Massenstreikresolution in Jena [3] unter dem Eindruck der russischen Revolution, der Straßendemonstrationskampagne im Kampfe um das preußische Wahlrecht vor drei Jahren [4] – zeigt deutlich, daß sich der Übergang von der rein parlamentarischen zur Massenaktion allmählich unbezwingbar Bahn bricht, wenn auch das Bewußtsein der Partei in Deutschland wie anderwärts nur im Zickzack und mit wankelmütigen Rückfällen dieser Bahn folgt.

Das fünfzigjährige Jubiläum des Bestehens der deutschen Sozialdemokratie ist eine stolze, siegreiche Vollendung in der Ausführung des politischen Testamentes Lassalles. Es ist aber zugleich eine Mahnung an das sozialistische Proletariat, sich dessen voll bewußt zu werden, daß nichts dem Geiste Lassalles mehr widerspräche, als in verrosteter Routine und in gewohntem Trott an einem taktischen Programm zäh festzuhalten, das bereits vom Laufe der Geschichte überholt worden ist. Lassalles großes schöpferisches Werk bestand darin, daß er zur rechten geschichtlichen Stunde die richtige Aufgabe des Proletariats erkannt und sie mit kühner Tat zu erfüllen gewagt hat. Was ist heute die rechte Fortsetzung des Lassalleschen Werkes? Nicht, daß das deutsche Proletariat an Lassalles politischem Programm festhält, vielmehr, daß es die neuen großen Aufgaben der heutigen Situation erkennt und an sie zur rechten Stunde mit kühner Tat herantritt. Dann kann es auch von sich im Geiste Lassalles sagen: Ich hab’s gewagt!

Anmerkungen

1. Die Reichstagswahlen wurden am 12. Januar 1912 durchgeführt. Die Sozialdemokratie konnte dabei 4,2 Millionen Stimmen gegenüber 3,2 Millionen im Jahre 1907 erringen und die Zahl ihrer Mandate von 43 auf 110 erhöhen. sie wurde damit die stärkste Fraktion des Reichstags.

2. Aus dem literarischen Nachlaß von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle. Hrsg. von Franz Mehring. IV: Briefe von Ferdinand Lassalle an Karl Marx und Friedrich Engels, Stuttgart 1902, S.38.

3. Die auf dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie vom 17. bis 23. September 1905 in Jena beschlossene Resolution bezeichnete die umfassendste Anwendung der Massenarbeitseinstellung als eines der wirksamsten Kampfmittel der Arbeiterklasse, beschränkte allerdings die Anwendung des politischen Massenstreiks im wesentlichen auf die Verteidigung des Reichstagswahlrechts und des Koalitionsrechts

4. Im Frühjahr 1910 hatte sich in ganz Deutschland eine Massenbewegung für die Erringung des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts zum preußischen Landtag entwickelt. Rosa Luxemburg verteidigte die Anwendung des politischen Massenstreiks als objektiv notwendiges Kampfmittel gegenüber der Ansicht der rechten Parteiführer, die Wahlrechtsbewegung in den alten Bahnen des Parlamentarismus zu belassen, um angeblich die Reichstagswahlen 1912 nicht zu gefährden.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012