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Auch die zweite theoretische Polemik um das Problem der Akkumulation hat ihren Anstoß von aktuellen Ereignissen bekommen. Wenn Sismondi zu seiner Opposition gegen die klassische Schule durch die erste englische Krise und die von ihr ausgelösten Leiden der Arbeiterklasse angeregt war, so schöpft Rodbertus fast fünfundzwanzig Jahre später den Anstoß zu seiner Kritik der kapitalistischen Produktion von der inzwischen aufgekommenen revolutionären Arbeiterbewegung. Die Aufstände der Seidenweber in Lyon [1*], die Chartistenbewegung in England [2*] gellten ihre Kritik auf die herrlichste aller Gesellschaftsformen in die Ohren der Bourgeoisie noch ganz anders als die unbestimmten Gespenster, die die erste Krise auf den Plan gerufen hatte. Die früheste sozialökonomische Schrift Rodbertus’, die wahrscheinlich aus dem Ende der 30er Jahre stammt und die, für die Augsburger Allgemeine Zeitung geschrieben, von dem genannten Blatte aber nicht aufgenommen war, trägt den bezeichnenden Titel Die Forderungen der arbeitenden Classen und beginnt mit den Worten: „Was wollen die arbeitenden Klassen? Werden die andern ihnen dies vorenthalten können? Wird das, was sie wollen, das Grab der modernen Kultur sein? – Daß einst mit großer Zudringlichkeit die Geschichte diese Fragen tun würde, wußte der Denkende längst, durch die Chartistenversammlungen und die Birminghamszenen [3*] hat es auch die Alltagswelt erfahren.“ Bald sollte in Frankreich in den 40er Jahren die lebhafteste Gärung der revolutionären Ideen in den verschiedensten geheimen Gesellschaften und sozialistischen Schulen der Proudhonisten, Blanquisten, der Anhänger Cabets, Louis Blancs usw. [4*] – zum Ausdruck kommen und in der Februarrevolution, in der Proklamierung des „Rechts auf Arbeit“, in den Junitagen [5*], in einer ersten Generalschlacht zwischen den zwei Welten der kapitalistischen Gesellschaft eine epochemachende Explosion der in ihrem Schoße verborgenen Widersprüche herbeiführen. Was die andere sichtbare Form dieser Widersprüche, die Krisen, betrifft, so verfügt man zu den Zeiten der zweiten Kontroverse über ein unvergleichlich reicheres Beobachtungsmaterial als zu Beginn der 20er Jahre des Jahrhunderts. Die Debatte zwischen Rodbertus und v. Kirchmann fand statt unter den unmittelbaren Eindrücken der Krisen von 1837 [6*], 1839 [7*], 1847 [8*], ja der ersten Weltkrise 1857 [9*] (die interessante Schrift Rodbertus' „Die Handelskrisen und die Hypothekennoth der Grundbesitzer“ stammt aus dem Jahre 1858). Die inneren Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaft gaben also vor den Augen Rodbertus’ noch ganz anders eine grelle Kritik auf die Harmonielehren der englischen Klassiker und ihrer Vulgarisatoren in England wie auf dem Kontinent ab als zu den Zeiten, da Sismondi seine Stimme erhob.
Daß die Kritik von Rodbertus übrigens unter dem direkten Einfluß der Sismondischen stand, bezeugt ein Zitat aus Sismondi in seiner ältesten Schrift. Mit der französischen zeitgenössischen Literatur der Opposition gegen die klassische Schule war Rodbertus also wohl vertraut, vielleicht weniger mit der viel zahlreicheren englischen, in welchem Umstand bekanntlich die Legende der deutschen Professorenwelt über die sogenannte „Priorität“ Rodbertus’ vor Marx in der „Begründung des Sozialismus“ ihre einzige schwache Wurzel hat. So schreibt Professor Diehl in seiner Skizze über Rodbertus im Handwörterbuch der Staatswissenschaften:
„Rodbertus ist als der eigentliche Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus in Deutschland zu bezeichnen, denn schon vor Marx und Lassalle hatte er in seinen Schriften aus den Jahren 1839 und 1842 ein vollständiges sozialistisches System geliefert, eine Kritik des Smithianismus, eine neue theoretische Grundlage und soziale Reformvorschläge.“
Dies bieder, fromm und gottesfürchtig im Jahre 1901 (2. Auflage) – nach allem und trotz allem, was Engels, Kautsky und Mehring zur Zerstörung der professoralen Legende geschrieben hatten. Daß übrigens der monarchisch, national und preußisch gesinnte „Sozialist“ Rodbertus, der Kommunist für die Zukunft nach 500 Jahren und für die Gegenwart Anhänger einer festen Ausbeutungsrate von 200 Prozent, gegenüber dem internationalen „Umstürzler“ Marx in den Augen aller deutschen Gelehrten der Nationalökonomie ein für allemal die Palme der „Priorität“ erringen mußte, versteht sich von selbst und kann durch die triftigsten Nachweise nicht erschüttert werden. Doch uns interessiert hier eine andere Seite der Rodbertusschen Analyse. Derselbe Diehl setzt seinen Panegyrikus folgendermaßen fort: „Doch nicht nur für den Sozialismus hat Rodbertus bahnbrechend gewirkt, sondern die gesamte nationalökonomische Wissenschaft verdankt ihm große Anregung und Förderung, die theoretische Nationalökonomie besonders durch die Kritik der klassischen Nationalökonomen, durch die neue Theorie der Einkommensverteilung, durch die Unterscheidung der logischen und historischen Kategorien von Kapital usw.“ Mit diesen letzteren Großtaten Rodbertus’ namentlich mit den „usw.“, wollen wir uns hier befassen.
Die Kontroverse zwischen Rodbertus und v. Kirchmann wurde angeregt durch die grundlegende Schrift des ersteren Zur Erkenntniß unserer staatswirthschaftlichen Zustände aus dem Jahre 1842. v. Kirchmann antwortete darauf in den Demokratischen Blättern in zwei Abhandlungen: Über die Grundrente in socialer Beziehung und Die Tauschgesellschaft, worauf Rodbertus 1850 und 1851 mit den Socialen Briefen replizierte. Damit kam die Diskussion auf jenes theoretische Gebiet, auf dem dreißig Jahre früher die Polemik zwischen Malthus-Sismondi und Say-Ricardo-MacCulloch ausgefochten wurde. Rodbertus hatte bereits in seiner frühesten Schrift jenen Gedanken ausgesprochen, daß in der heutigen Gesellschaft bei der steigenden Produktivität der Arbeit der Arbeitslohn eine immer kleinere Quote des Nationalprodukts wird – ein Gedanke, den er als den seinigen „in Anspruch nahm“, den er aber auch seitdem und bis zu seinem Tode, also während dreier Jahrzehnte, immer nur zu wiederholen und zu variieren verstand. In dieser fallenden Lohnquote erblickt Rodbertus die gemeinsame Wurzel aller Übel der heutigen Wirtschaft, namentlich des Pauperismus und der Krisen, die er zusammen als „die soziale Frage der Gegenwart“ bezeichnet.
v. Kirchmann ist mit dieser Erklärung nicht einverstanden. Er führt den Pauperismus auf die Wirkungen der steigenden Grundrente zurück, die Krisen aber auf den Mangel an Absatzwegen. Von diesem behauptet er namentlich, daß „der größte Teil der sozialen Übel nicht in der mangelnden Produktion, sondern in dem mangelnden Absatze der Produkte liege; daß ein Land, je mehr es zu produzieren vermöge, je mehr es Mittel habe, alle Bedürfnisse zu befriedigen, desto mehr der Gefahr des Elends und Mangels ausgesetzt sei“. Auch die Arbeiterfrage ist hier mit begriffen, denn „das berüchtigte Recht auf Arbeit löse sich am Ende auf in eine Frage der Absatzwege“. „Man sieht“, folgert v. Kirchmann, „daß die soziale Frage beinahe identisch ist mit der Frage nach den Absatzwegen. Selbst die Übel der vielgeschmähten Konkurrenz werden mit sicheren Absatzwegen verschwinden; es wird nur das Gute an ihr bleiben; es wird der Wetteifer bleiben, gute und billige Waren zu liefern, aber es wird der Kampf auf Tod und Leben verschwinden, der nur in den für alle ungenügenden Absatzwegen seinen Grund hat.“ (1)
Der Unterschied zwischen dem Gesichtswinkel Rodbertus’ und v. Kirchmanns springt in die Augen. Rodbertus sieht die Wurzel des Übels in einer fehlerhaften Verteilung des Nationalprodukts, v. Kirchmann in den Marktschranken der kapitalistischen Produktion. Bei allem Konfusen in den Ausführungen v. Kirchmanns, namentlich in seiner idyllischen Vorstellung von einer auf löblichen Wetteifer um die beste und billigste Ware reduzierten kapitalistischen Konkurrenz sowie in der Auflösung des „berüchtigten Rechts auf Arbeit“ in die Frage der Absatzmärkte, zeigt er doch zum Teil mehr Verständnis für den wunden Punkt der kapitalistischen Produktion: ihre Marktschranken, als Rodbertus, der an der Frage der Verteilung haftet. Es ist also v. Kirchmann, der diesmal das Problem wieder aufnimmt, das früher von Sismondi auf die Tagesordnung gestellt war. Bei alledem ist v. Kirchmann mit der Beleuchtung und Lösung des Problems durch Sismondi keineswegs einverstanden, er steht eher auf seiten der Opponenten Sismondis. Er akzeptiert nicht nur die Ricardosche Theorie der Grundrente, nicht nur das Smithsche Dogma, „daß die Preise der Waren sich nur aus den zwei Teilen, aus dem Kapitalzins und dem Arbeitslohn, zusammensetzen“ (v. Kirchmann verwandelt den Mehrwert in „Kapitalzins“), sondern auch den Say-Ricardoschen Satz, daß Produkte nur mit Produkten gekauft werden und die Produktion ihren eigenen Absatz bilde, so daß, wo auf der einen Seite zuviel produziert zu sein scheine, auf der anderen Seite nur zuwenig produziert sei. Man sieht, v. Kirchmann folgt den Spuren der Klassiker, aber allerdings ist das eine „deutsche Klassikerausgabe“ – mit allerlei Wenn und Aber. So findet v. Kirchmann zunächst, daß das Saysche Gesetz des natürlichen Gleichgewichts zwischen Produktion und Nachfrage „die Wirklichkeit noch nicht erschöpfe“, und er fügt hinzu: „Es liegen noch andere Gesetze in dem Verkehr verborgen, welche die reine Verwirklichung dieser Sätze verhindern und durch deren Auffindung allein die gegenwärtige Überfüllung der Märkte erklärt werden kann, durch deren Auffindung aber vielleicht auch der Weg entdeckt werden kann, diesem großen Übel aus dem Wege zu gehen. Wir glauben, daß drei Verhältnisse in dem gegenwärtigen Systeme der Gesellschaft es sind, welche diese Widersprüche zwischen jenem unzweifelhaften Gesetze Says und der Wirklichkeit herbeiführen.“ Diese Verhältnisse sind: die „zu ungleiche Verteilung der Produkte“ – hier neigt sich v. Kirchmann, wie wir sehen, in gewissem Maße dem Standpunkt Sismondis zu –, die Schwierigkeiten, welche die Natur der menschlichen Arbeit in der Rohproduktion bereitet, endlich die Mangelhaftigkeit des Handels als der vermittelnden Operation zwischen Produktion und Konsumtion. Ohne uns auf die beiden letzten „Hindernisse“ des Sayschen Gesetzes näher einzulassen, betrachten wir die Argumentation v. Kirchmanns im Zusammenhang mit dem ersten Punkt:
„Das erste Verhältnis“, erklärt er, „kann kürzer dahin ausgedrückt werden, ‚daß der Arbeitslohn zu niedrig steht‘, daß daraus eine Stockung des Absatzes entsteht. Für denjenigen, der weiß, daß die Preise der Waren sich nur aus den zwei Teilen, aus dem Kapitalzins und dem Arbeitslohn, zusammensetzen, kann dieser Satz auffallend erscheinen; ist der Arbeitslohn niedrig, so sind auch die Warenpreise niedrig, und sind jene hoch, so sind auch diese hoch. (Man sieht, v. Kirchmann akzeptiert das Smithsche Dogma auch noch in seiner verkehrtesten Fassung: nicht der Preis löst sich in Arbeitslohn + Mehrwert auf, sondern er setzt sich als einfache Summe aus ihnen zusammen – eine Fassung, in der Smith sich von seiner Arbeitswerttheorie am weitesten entfernt hatte. – R.L.) Lohn und Preis stehen so in geradem Verhältnis und gleichen sich einander aus. England hat nur deshalb seine Getreidezölle und seine Zölle auf Fleisch und andere Lebensmittel aufgehoben, um die Arbeitslöhne sinken zu machen und so den Fabrikanten in den Stand zu setzen, durch noch billigere Ware auf den Weltmärkten jeden anderen Konkurrenten zu verdrängen. Es ist indes dies nur zum Teil richtig und berührt nicht das Verhältnis, in dem sich das Produkt zwischen Kapital und Arbeiter verteilt. In der zu ungleichen Verteilung zwischen diesen beiden liegt der erste und wichtigste Grund, weshalb Says Gesetz sich in der Wirklichkeit nicht vollzieht, weshalb trotz der Produktion in allen Zweigen doch alle Märkte an Überfüllung leiden.“
Diese seine Behauptung illustriert v. Kirchmann ausführlich an einem Beispiel. Nach dem Muster der klassischen Schule werden wir natürlich versetzt in eine imaginäre isolierte Gesellschaft, die ein widerstandsloses, wenn auch nicht dankbares Objekt für die nationalökonomischen Experimente darbietet.
Man stelle sich einen Ort vor – suggeriert uns v. Kirchmann –, der ausgerechnet 903 Einwohner umfaßt, und zwar 3 Unternehmer mit je 300 Arbeitern. Der Ort befriedige alle Bedürfnisse seiner Einwohner durch eigene Produktion, und zwar in drei Unternehmungen, von denen die eine für Kleidung sorgt, die zweite für Nahrung, Licht, Feuerung und Rohstoffe, die dritte für Wohnung, Möbel und Werkzeuge. In jeder dieser drei Abteilungen liefere der Unternehmer „das Kapital samt Rohstoffen“. Die Entlohnung der Arbeiter erfolgt in jedem dieser drei Geschäfte so, daß die Arbeiter die Hälfte des jährlichen Produkts als Lohn erhalten und der Unternehmer die andere Hälfte „als Zins seines Kapitals und als Unternehmergewinn“. Die von jedem Geschäft gelieferte Menge Produkt reiche gerade hin, um alle Bedürfnisse sämtlicher 903 Einwohner zu decken. So enthält dieser Ort „alle Bedingungen eines allgemeinen Wohlseins“ für seine sämtlichen Einwohner, alles macht sich demgemäß frisch und mutig an die Arbeit. Aber nach wenigen Tagen wandelt sich Freude und Wohlgefallen in allgemeinen Jammer und in Zähneklappern, es passiert nämlich auf der v. Kirchmannschen Insel der Glückseligen etwas, was man dort sowenig erwarten mochte wie den Einsturz des Himmels: Es bricht eine regelrechte moderne Industrie- und Handelskrise aus! Die 900 Arbeitet haben nur die allernotdürftigste Kleidung, Nahrung und Wohnung, die drei Unternehmer aber haben ihre Magazine voll Kleider und Rohstoffe, sie haben Wohnungen leer stehen; sie klagen über Mangel an Absatz, während die Arbeiter umgekehrt über unzureichende Befriedigung ihrer Bedürfnisse klagen. Und woher illae lacrimae? Etwa weil, wie Say und Ricardo annahmen, von den einen Produkten zuviel und von den anderen zuwenig da sei? Mitnichten! antwortet v. Kirchmann; in dem „Ort“ gibt es von allen Dingen eine wohlproportionierte Menge, die alle just ausreichen würden, um sämtliche Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen. Woher also „das Hemmnis“, die Krise? Das Hemmnis liegt einzig und allein in der Verteilung. Doch das will in eigenen Worten v. Kirchmanns genossen werden: „Das Hemmnis, daß dieses (glatter Austausch) dessenungeachtet nicht geschieht, liegt lediglich und allein in der Verteilung dieser Produkte; die Verteilung erfolgt nicht gleich unter alle, sondern die Unternehmer behalten als Zins und Gewinn die Hälfte für sich und geben nur die Hälfte an ihre Arbeiter. Es ist klar, daß der Kleiderarbeiter sich deshalb mit seinem halben Produkt auch nur die Hälfte der Produkte an Nahrung und Wohnung und so fort eintauschen kann, und es ist klar, daß die Unternehmer ihre andere Hälfte nicht loswerden können, weil kein Arbeiter noch ein Produkt hat, um sie von ihnen eintauschen zu können. Die Unternehmer wissen nicht wohin mit ihrem Vorrat, die Arbeiter wissen nicht wohin mit ihrem Hunger und ihrer Blöße.“ Und die Leser – fügen wir hinzu – wissen nicht wohin mit den Konstruktionen des Herrn v. Kirchmann. Das Kindische seines Beispiels stürzt uns in der Tat aus einem Rätsel ins andere.
Zunächst ist ganz unerfindlich, auf welcher Grundlage und zu welchem Zweck die Dreiteilung der Produktion fingiert ist. Wenn in den analogen Beispielen Ricardos und MacCullochs gewöhnlich die Pächter den Fabrikanten entgegengestellt werden, so ist das u. E. nur die antiquierte Vorstellung der Physiokraten von der gesellschaftlichen Reproduktion, die von Ricardo übernommen war, trotzdem sie mit seiner Werttheorie, die der physiokratischen entgegengesetzt war, jeden Sinn verloren hatte, und trotzdem schon Smith bedeutende Anläufe zur Berücksichtigung wirklicher sachlicher Grundlagen des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses gemacht hatte. Immerhin haben wir gesehen, daß sich jene physiokratische Unterscheidung der Landwirtschaft und Industrie als Grundlagen der Reproduktion in der theoretischen Nationalökonomie traditionell erhalten hatte, bis Marx seine epochemachende Unterscheidung der beiden gesellschaftlichen Abteilungen: Produktion von Produktionsmitteln und Produktion von Konsummitteln, eingeführt hat. Hingegen haben die drei Abteilungen v. Kirchmanns überhaupt keinen begreiflichen Sinn. Da hier Werkzeuge mit Möbeln, Rohstoffe mit Nahrungsmitteln zusammengeworfen sind, die Kleider eine Abteilung für sich bilden, so sind offenbar gar keine sachlichen Standpunkte der Reproduktion, sondern reine Willkür bei dieser Einteilung maßgebend gewesen. Es könnte an sich ebensogut oder schlecht eine Abteilung für Lebensmittel, Kleider und Baulichkeiten, eine andere für Apothekerwaren und eine dritte für Zahnbürsten fingiert werden. Es kam v. Kirchmann offenbar nur darauf an, die gesellschaftliche Arbeitsteilung anzudeuten und für den Austausch einige möglichst „gleich große“ Produktenmengen vorauszusetzen. Allein der Austausch selbst, um den es sich bei der ganzen Beweisführung dreht, spielt im v. Kirchmannschen Beispiel gar keine Rolle, da nicht Wert, sondern Produktenmenge, Masse der Gebrauchswerte als solcher zur Verteilung gelangt. Andererseits findet in dem interessanten „Ort“ der v. Kirchmannschen Phantasie erst Verteilung der Produkte statt, alsdann soll darauf, nach geschehener Verteilung, der allgemeine Austausch stattfinden, während es auf der platten Erde der kapitalistischen Produktion bekanntlich der Austausch ist, der umgekehrt die Verteilung des Produkts einleitet und vermittelt. Dabei passieren in der v. Kirchmannschen Verteilung die wunderlichsten Dinge: Zwar besteht der Preis der Produkte, also auch des gesellschaftlichen Gesamtprodukts, „wie man weiß“, nur aus „Arbeitslohn und Kapitalzins“, nur aus v + m, und das Gesamtprodukt gelangt auch demgemäß restlos zur individuellen Verteilung unter die Arbeiter und Unternehmer, allein v. Kirchmann hat dabei zu seinem Pech eine schwache Erinnerung bewahrt, daß zu jeglicher Produktion so etwas wie Werkzeuge und Rohstoffe gehören. Er schmuggelt auch in seinem „Ort“ unter den Nahrungsmitteln Rohstoffe und unter Möbeln Werkzeuge ein, es fragt sich aber alsdann, wem bei der allgemeinen Verteilung diese unverdaulichen Dinge zufallen: den Arbeitern als Lohn oder den Kapitalisten als Unternehmergewinn? Beide Teile würden sich wohl bedanken. Und unter solchen Voraussetzungen soll dann noch der Clou der Vorstellung stattfinden: der Austausch zwischen den Arbeitern und den Unternehmern. Der grundlegende Austauschakt der kapitalistischen Produktion: der zwischen Lohnarbeitern und Kapitalisten, wird von v. Kirchmann aus dem Austausch zwischen lebendiger Arbeit und Kapital in einen Produktenaustausch verwandelt! Nicht der erste Akt: der Austausch zwischen Arbeitskraft und variablem Kapital, sondern der zweite: die Realisierung des aus variablem Kapital erhaltenen Lohns, wird in den Mittelpunkt des Getriebes gestellt und umgekehrt der ganze Warenaustausch der kapitalistischen Gesellschaft auf diese Realisierung des Arbeitslohns reduziert! Doch dann kommt das schönste: Dieser in den Brennpunkt des Wirtschaftslebens gerückte Austausch zwischen den Arbeitern und den Unternehmern ist bei näherem Zusehen gar keiner, er findet überhaupt nicht statt. Denn nachdem alle Arbeiter ihren Lohn in Naturalien, und zwar in der Hälfte ihres eigenen Produkts erhalten haben, kann jetzt nur noch der Austausch unter den Arbeitern selbst stattfinden, indem die einen ihren in lauter Kleidungsstücken, die anderen den in lauter Nahrungsmitteln und die dritten den in lauter Möbeln bestehenden Lohn nunmehr so untereinander austauschen, daß jeder Arbeiter seinen Lohn zu je einem Drittel in Nahrung, Kleidung und Möbeln realisiert. Mit Unternehmern hat dieser Austausch nichts mehr zu tun. Diese sitzen ihrerseits mit ihrem Mehrwert, der in der Hälfte aller von der Gesellschaft hergestellten Kleider, Nahrungsmittel und Möbel besteht, da und wissen allerdings, drei Mann, die sie sind, nicht, „wohin“ mit dem Krempel. Doch gegen dieses von v. Kirchmann angerichtete Malheur würde auch keine noch so generöse Verteilung des Produkts etwas helfen. Im Gegenteil, je großer die Portion des gesellschaftlichen Produkts, die den Arbeitern zugewiesen wäre, um so weniger hätten sie mit den Unternehmern bei ihrem Austausch zu tun, es würde nur der gegenseitige Austausch der Arbeiter untereinander an Umfang zunehmen. Allerdings würde auch der die Unternehmer bedrückende Haufe von Mehrprodukt entsprechend zusammenschmelzen, aber nicht etwa weil dadurch der Austausch dieses Mehrprodukts erleichtert, sondern nur weil der Mehrwert selbst abnehmen würde. Von einem Austausch des Mehrprodukts zwischen Arbeitern und Unternehmern könnte nach wie vor keine Rede sein. Man muß gestehen, daß die hier auf verhältnismäßig kleinem Raum zusammengetragene Anzahl von Kindereien und ökonomischen Absurditäten sogar jenes Maß übersteigt, das einem preußischen Staatsanwalt zugute gehalten werden darf – v. Kirchmann war bekanntlich Staatsanwalt, und zwar zu seinen Ehren ein disziplinarisch zweimal gemaßregelter Staatsanwalt. Trotzdem geht v. Kirchmann nach seinen wenig versprechenden Präliminarien direkt auf die Sache los. Er sieht ein, daß die Unverwendbarkeit des Mehrwerts hier durch seine eigene Prämisse gegeben ist: durch die konkrete Gebrauchsgestalt des Mehrprodukts. Er läßt nun die Unternehmer mit der halben als Mehrwert angeeigneten gesellschaftlichen Arbeitsmenge nicht „ordinäre Waren“ für die Arbeiter, sondern Luxuswaren herstellen. Da es „Wesen der Luxusware ist, daß sie dem Konsumenten es möglich macht, mehr an Kapital und Arbeitskraft zu verbrauchen als bei den ordinären Waren möglich ist“, so bringen es die drei Unternehmer ganz allein fertig, die ganze Hälfte des in der Gesellschaft geleisteten Arbeitsquantums in Spitzen, eleganten Kutschen und dergleichen zu verzehren. Nun bleibt nichts Unveräußerliches übrig, die Krise ist glücklich behoben, die Überproduktion ein für allemal unmöglich gemacht, die Kapitalisten wie die Arbeiter sind in sicheren Verhältnissen, und das Wundermittel v. Kirchmanns, das alle diese Wohltaten herbeigeführt und das Gleichgewicht zwischen Produktion und Konsumtion wieder hergestellt hat, heißt: Luxus! Mit anderen Worten, der Rat, den der gute Mann den Kapitalisten gibt, die nicht wissen, wohin mit ihrem unrealisierbaren Mehrwert, ist, sie sollen ihn selbst aufessen. In der kapitalistischen Gesellschaft ist nun freilich Luxus auch eine längst bekannte Erfindung, und die Krisen wüten trotzdem. – Woher kommt denn das? „Die Antwort kann nur die sein“, belehrt uns v. Kirchmann, „daß diese Stockung des Absatzes in der wirklichen Welt lediglich daher kommt, weil noch zu wenig Luxus vorhanden ist oder, mit anderen Worten, daß von den Kapitalisten, d. h. von denen, welche die Mittel zur Konsumtion haben, noch zu wenig konsumiert wird.“ Diese unangebrachte Enthaltsamkeit der Kapitalisten kommt aber von einer durch die Nationalökonomie fälschlich geförderten Untugend: vom Hang zum Sparen zu Zwecken der „produktiven Konsumtion“. Anders gesagt: Die Krisen kommen von der Akkumulation – das ist die Hauptthese v. Kirchmanns. Er beweist sie wieder an einem Beispiel von rührender Einfalt. Man setze den Fall, sagt er, „den von der Nationalökonomie als den besseren gepriesenen Fall“, wo die Unternehmer sagen: Wir wollen unsere Revenuen nicht in Pracht und Luxus bis auf den letzten Heller verzehren, sondern wir wollen sie wieder produktiv anlegen. Was heißt das? Nichts anderes als neue Produktionsgeschäfte aller Art begründen, mittelst deren wieder Produkte gewonnen werden, durch deren Verkauf die Zinsen (v. K. will sagen: Profit) für jenes Kapital erlangt werden können, das aus den nicht verzehrten Revenuen der drei Unternehmer abgespart und angelegt worden ist. Die drei Unternehmer entschließen sich demgemäß, nur das Produkt von 100 Arbeitern zu verzehren, d. h. ihren Luxus erheblich einzuschränken, und die Arbeitskraft der übrigen 350 Arbeiter mit dem von diesen benutzten Kapital zur Anlegung neuer Produktionsgeschäfte zu verwenden. Hier entsteht die Frage, in welchen Produktionsgeschäften sollen diese Fonds verwendet werden? „Die drei Unternehmer haben nur die Wahl, entweder wieder Geschäfte für ordinäre Waren einzurichten oder Geschäfte für Luxuswaren“, da nach der v. Kirchmannschen Annahme das konstante Kapital nicht reproduziert wird und das gesamte gesellschaftliche Produkt in lauter Konsumtionsmitteln besteht. Damit kommen die Unternehmer aber in das uns schon bekannte Dilemma: Produzieren sie „ordinäre Waren“, so entsteht eine Krise, da die Arbeiter keine Mittel zum Ankauf dieser zuschüssigen Lebensmittel haben, sind sie doch bereits mit der Hälfte des Produktenwerts abgefunden; produzieren sie aber Luxuswaren, so müssen sie sie auch selbst verzehren, Tertium non datur. Auch der auswärtige Handel ändert nichts an dem Dilemma, denn die Wirkung des Handels besteht nur darin, „die Mannigfaltigkeit der Waren des inländischen Markts zu vergrößern“ oder die Produktivität zu steigern. „Entweder also sind diese ausländischen Waren – ordinäre Waren, dann mag sie der Kapitalist nicht kaufen, und der Arbeiter kann sie nicht kaufen, weil er die Mittel nicht hat, oder es sind Luxuswaren, dann kann sie natürlich der Arbeiter noch weniger kaufen, und der Kapitalist mag wegen seines Bestrebens zu sparen sie ebenfalls nicht.“ So primitiv die Beweisführung, so kommt dabei doch der Grundgedanke v. Kirchmanns und der Alp der theoretischen Nationalökonomie ganz hübsch und klar zum Ausdruck: In einer lediglich aus Arbeitern und Kapitalisten bestehenden Gesellschaft erscheint die Akkumulation als eine Unmöglichkeit. v. Kirchmann zieht daraus die Konsequenz, indem er unumwunden die Akkumulation, das „Sparen“, die „produktive Konsumtion“ des Mehrwerts bekämpft, gegen die Befürwortung dieser Irrtümer durch die klassische Nationalökonomie heftig polemisiert und den mit der Produktivität der Arbeit steigenden Luxus als das Mittel gegen die Krisen predigt. Man sieht, wenn v. Kirchmann in seinen theoretischen Prämissen eine Karikatur Ricardo-Says war, so ist er in seinen Schlußfolgerungen eine Karikatur Sismondis. Es war jedoch notwendig, die Fragestellung v. Kirchmanns ganz scharf ins Auge zu fassen, um die Antikritik Rodbertus’ und den Ausgang der Kontroverse würdigen zu können.
14. Kapitel – 16. Kapitel
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1. Die Kirchmannsche Beweisführung ist bei Rodbertus sehr ausführlich wörtlich zitiert. Ein vollständiges Exemplar der Demokratischen Blätter mit dem Originalaufsatz ist nach der Versicherung der Herausgeber Rodbertus’ nicht zu erlangen.
1*. In Lyon hatten sich 1831 und 1834 die Arbeiter der Seidenwebereien und Handwerker erstmals in selbständigen politischen Aufständen gegen die Bourgeoisie erhoben. Die aufkommende Industriekonkurrenz und die verschärfte Ausbeutung durch kapitalistische Verleger und Manufakturisten führten im Herbst 1831 zum Streik und am 21. November 1831 zum Aufstand der Lyoner Seidenweber, der nach 2 Wochen von Regierungstruppen niedergeworfen wurde. Der zweite Aufstand vom 9. bis 12. April 1834 wurde gleichfalls vom Militär niedergeschlagen.
2*. Die Chartistenbewegung in England, eine Frühform der Arbeiterbewegung, basierte auf den 1836 in London und 1837/1838 in Birmingham zur Durchsetzung eines Verfassungsvorschlages (der 6–Punkte-Peoples-Charter) entstandenen ersten politischen Arbeiterorganisationen. Ihre heterogene Zusammensetzung aus kleinbürgerlichen Radikalen, Handwerkern und Industrieproletariern verhinderte einheitliche Kampfaktionen in ganz England und führte letztlich zu ihrem Niedergang nach 1848/1849.
3*. Am 15. Juli 1839 begann in Birmingham ein Volksaufstand, nachdem das englische Unterhaus die erste Petition mit 1,25 Millionen Unterschriften zur 6–Punkte-Peoples-Charter zurückgewiesen hatte. Der Aufstand wurde am 17. Juli 1839 von Militär und Polizei niedergeschlagen. Gegen die Chartisten setzte eine grausame Verfolgungswelle ein.
4*. Die Proudhonisten waren Anhänger der nach Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865) benannten anarchistischen Strömung und Lehre, die den Kapitalismus vom kleinbürgerlichen Standpunkt aus kritisierte und auf reformistischem Wege eine Gesellschaft selbständiger kleiner Warenproduzenten anstrebte. Die Blanquisten waren Anhänger des Revolutionärs Louis-Auguste Blanqui (1805–1881), der die Idee der gewaltsamen Machtergreifung durch eine Verschwörerorganisation vertrat und die revolutionäre Diktatur anstrebte.
Etienne Cabet (1788–1856) war Schriftsteller und utopischer Sozialist, der ausschließlich friedliche Kampfmethoden befürwortete. Louis Blanc (1811–1882), Publizist und Historiker, war einer der einflußreichsten Vertreter des französischen utopischen Sozialismus kleinbürgerlicher Richtung.
5*. Während der Revolution von 1848 erhoben sich die Arbeiter von Paris vom 23. bis 26. Juni gegen die Auflösung der National Werkstätten. Das von seinen kleinbürgerlichen und bäuerlichen Verbündeten isolierte und ohne Gesamtleitung kämpfende Proletariat wurde von Armee und Mobilgarde niedergeworfen.
6*. Die Krise von 1837 war eine Überproduktionskrise, die besonders England und die USA erfaßte, wobei es in England zu einer Senkung der Produktion in der Schwerindustrie kam.
7*. Die Krise von 1839 war eine reine Geldkrise und nahm ihren Anfang, als die Vereinigte-Staaten-Bank 1839 die Liquidation anmelden mußte, da ihre Spekulation mit dem Monopol im Baumwollhandel in Pennsylvania im Sommer 1838 zusammengebrochen war.
8*. 1847 war über Europa eine allgemeine Handels- und Industriekrise hereingebrochen, die durch eine Reihe von Mißernten beschleunigt wurde. Ihr Hauptherd war England und die mit ihm verbundenen großen Handelsplätze. In Deutschland hatte diese Krise vor allem die Merkmale einer Unterkonsumtionskrise.
9*. Die erste Weltkrise, die sich von 1857 bis 1859 hinzog, breitete sich von den USA nach Europa aus und erfaßte den Aktien-, Waren-, Geld- und Kreditmarkt. Sie zwang die Bourgeoisie, von der Extensivierung zur Intensivierung ihrer Produktions- und Ausbeutungsmethoden überzugehen.
Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012