Rosa Luxemburg


Die Akkumulation des Kapitals

Dritter Abschnitt
Die geschichtlichen Bedingungen der Akkumulation


Einunddreißigstes Kapitel
Schutzzoll und Akkumulation

Der Imperialismus ist der politische Ausdruck des Prozesses der Kapitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus. Geographisch umfaßt dieses Milieu heute noch die weitesten Gebiete der Erde. Gemessen jedoch an der gewaltigen Masse des bereits akkumulierten Kapitals der alten kapitalistischen Länder, das um die Absatzmöglichkeiten für sein Mehrprodukt wie um Kapitalisierungsmöglichkeiten für seinen Mehrwert ringt, gemessen ferner an der Rapidität, mit der heute Gebiete vorkapitalistischer Kulturen in kapitalistische verwandelt werden, mit anderen Worten gemessen an dem bereits erreichten hohen Grad der Entfaltung der Produktivkräfte des Kapitals, erscheint das seiner Expansion noch verbleibende Feld als ein geringer Rest. Demgemäß gestaltet sich das internationale Vorgehen des Kapitals auf der Weltbühne. Bei der hohen Entwicklung und der immer heftigeren Konkurrenz der kapitalistischen Länder um die Erwerbung nichtkapitalistischer Gebiete nimmt der Imperialismus an Energie und an Gewalttätigkeit zu, sowohl in seinem aggressiven Vorgehen gegen die nichtkapitalistische Welt wie in der Verschärfung der Gegensätze zwischen den konkurrierenden kapitalistischen Ländern. Je gewalttätiger, energischer und gründlicher der Imperialismus aber den Untergang nichtkapitalistischer Kulturen besorgt, um so rascher entzieht er der Kapitalakkumulation den Boden unter den Füßen. Der Imperialismus ist ebensosehr eine geschichtliche Methode der Existenzverlängerung des Kapitals wie das sicherste Mittel, dessen Existenz auf kürzestem Wege objektiv ein Ziel zu setzen. Damit ist nicht gesagt, daß dieser Endpunkt pedantisch erreicht werden muß. Schon die Tendenz zu diesem Endziel der kapitalistischen Entwicklung äußert sich in Formen, die die Schlußphase des Kapitalismus zu einer Periode der Katastrophen gestalten.

Die Hoffnung auf eine friedliche Entwicklung der Kapitalakkumulation, auf den „Handel und Gewerbe, die nur bei Frieden gedeihen“, die ganze offiziöse manchesterliche Ideologie der Interessenharmonie zwischen den Handelsnationen der Welt – die andere Seite der Interessenharmonie zwischen Kapital und Arbeit – stammt aus der Sturm-und-Drang-Periode der klassischen Nationalökonomie und schien eine praktische Bestätigung zu finden in der kurzen Freihandelsära in Europa in den 60er und 70er Jahren. Sie hat zur Grundlage das falsche Dogma der englischen Freihandelsschule, als sei der Warenaustausch die einzige Voraussetzung und Bedingung der Kapitalakkumulation, als sei diese mit der Warenwirtschaft identisch. Die ganze Ricardoschule identifizierte, wie wir sahen, die Kapitalakkumulation und ihre Reproduktionsbedingungen mit der einfachen Warenproduktion und mit den Bedingungen der einfachen Warenzirkulation. Noch mehr tritt dies später bei dem praktischen Freihändler vulgaris zutage. Die ganze Beweisführung der Cobden-Liga war zugeschnitten auf die besonderen Interessen der exportierenden Baumwollfabrikanten von Lancashire. Ihr Hauptaugenmerk war darauf gerichtet, Käufer zu gewinnen, und ihr Glaubensartikel lautete: Wir müssen dem Auslande abkaufen, damit wir wiederum als Verkäufer der Industrieprodukte, will sagen: der Baumwollwaren, Abnehmer finden. Der Konsument, in dessen Interesse Cobden und Bright den Freihandel, namentlich die Verbilligung der Nahrungsmittel, forderten, war nicht der Arbeiter, der das Brot verzehrt, sondern der Kapitalist, der die Arbeitskraft verzehrt.

Dieses Evangelium war nie der wirkliche Ausdruck der Interessen der Kapitalakkumulation im ganzen. In England selbst wurde es schon in den 40er Jahren durch die Opiumkriege Lügen gestraft, die mit Kanonendonner die Interessenharmonie der Handelsnationen in Ostasien proklamierten, um mit der Annexion von Hongkong in das Gegenteil, in das System der „Interessensphären“ umzuschlagen. (1) Auf dem europäischen Kontinent war der Freihandel der 60er Jahre schon aus dem Grunde kein Ausdruck der Interessen des industriellen Kapitals, weil die führenden Freihandelsländer des Kontinents in jener Zeit noch vorwiegend agrarische Länder, ihre Großindustrie noch verhältnismäßig schwach entwickelt war. Das Freihandelssystem wurde vielmehr als Maßnahme der politischen Konstituierung der mitteleuropäischen Staaten durchgesetzt. In Deutschland war es in der Manteuffelschen und Bismarckschen Politik ein spezifisch preußisches Mittel, Österreich aus dem Bund und dem Zollverein herauszudrängen und das neue Deutsche Reich unter Preußens Führung zu konstituieren. Ökonomisch stützte sich der Freihandel hier nur auf die Interessen des Kaufmannskapitals namentlich des am Welthandel interessierten Kapitals der Hansastädte, und auf agrarische Konsumenteninteressen; von der eigentlichen Industrie ließ sich die Eisenproduktion nur mit Mühe um die Konzession der Abschaffung der Rheinzölle für den Freihandel gewinnen, die süddeutsche Baumwollindustrie aber blieb unversöhnlich in der schutzzöllnerischen Opposition. In Frankreich waren die Meistbegünstigungsverträge, die die Grundlage für das Freihandelssystem in ganz Europa gelegt haben, von Napoleon III. ohne und gegen die kompakte schutzöllnerische Mehrheit des Parlaments aus Industriellen und Agrariern abgeschlossen. Der Weg der Handelsverträge selbst wurde von der Regierung des Zweiten Kaiserreichs nur als ein Notbehelf eingeschlagen und von England als solcher akzeptiert, um die parlamentarische Opposition Frankreichs zu umgehen und hinter dem Rücken der gesetzgebenden Körperschaft auf internationalem Wege den Freihandel durchzusetzen. Mit dem ersten grundlegenden Vertrag zwischen Frankreich und England wurde die öffentliche Meinung in Frankreich einfach überrumpelt. (2) Das alte Schutzzollsystem Frankreichs wurde von 1853 bis 1862 durch 32 kaiserliche Dekrete abgetragen, die dann 1863 in lässiger Beobachtung der Form insgesamt „auf gesetzgeberischem Wege“ bestätigt wurden. In Italien war der Freihandel ein Requisit der Cavourschen Politik [1*] und ihres Anlehnungsbedürfnisses an Frankreich. Schon 1870 wurde unter dem Drängen der öffentlichen Meinung eine Enquete eröffnet, die den Mangel an Rückhalt für die freihändlerische Politik in den Interessentenkreisen bloßgelegt hat. Endlich in Rußland war die freihändlerische Tendenz der 60er Jahre nur erst eine Einleitung zur Schaffung einer breiten Grundlage für die Warenwirtschaft und die Großindustrie: begleitete sie doch erst die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Herstellung eines Eisenbahnnetzes. (3)

So konnte der Freihandel als internationales System von vornherein nicht mehr als eine Episode in der Geschichte der Kapitalakkumulation bleiben. Schon aus diesem Grunde ist es verkehrt, die allgemeine Umkehr zum Schutzzoll seit Ende der 70er Jahre lediglich als eine Abwehrmaßregel gegen den englischen Freihandel erklären zu wollen. (4)

Gegen diese Erklärung sprechen die Tatsachen, daß in Deutschland wie in Frankreich und Italien bei der Umkehr zum Schutzzoll die führende Rolle den agrarischen Interessen zufiel, die sich nicht gegen die Konkurrenz Englands, sondern gegen die der Vereinigten Staaten richteten, daß im übrigen das Schutzbedürfnis für die aufkommende einheimische Industrie in Rußland sich z. B. viel stärker gegen Deutschland, in Italien aber gegen Frankreich richtete als gegen England. Die allgemeine dauernde Depression auf dem Weltmarkt, die sich seit der Krise der 70er Jahre hinzog und die Stimmung für den Schutzzoll vorbereitet hatte, war ebensowenig mit Englands Monopol verbunden. Die allgemeine Ursache der schutzzöllnerischen Frontänderung lag denn auch tiefer. Der reine Standpunkt des Warenaustausches, dem die freihändlerische Illusion der Interessenharmonie auf dem Weltmarkt entstammte, ist aufgegeben worden, sobald das großindustrielle Kapital in den wichtigsten Ländern des europäischen Kontinents so weit Fuß gefaßt hatte, um sich auf seine Akkumulationsbedingungen zu besinnen. Diese aber schoben gegenüber der Gegenseitigkeit der Interessen der kapitalistischen Staaten ihren Antagonismus und die Konkurrenz im Kampfe um das nichtkapitalistische Milieu in den Vordergrund.

Als die Freihandelsära anhub, wurde Ostasien erst durch die Chinakriege erschlossen, in Ägypten stellte das europäische Kapital die ersten Schritte. In den 80er Jahren setzt parallel mit dem Schutzzoll die Expanionspolitik mit zunehmender Energie ein: Die Okkupation Ägyptens durch England [2*], die deutschen Kolonialeroberungen in Afrika [3*], die französische Okkupation von Tunis und die Expedition nach Tonking [4*], die Vorstöße Italiens in Assab und Massaua, der abessinische Krieg und die Bildung Eritreas [5*], die englischen Eroberungen in Südafrika [6*] –, alle diese Schritte folgten sich in einer ununterbrochenen Kette die 80er Jahre hindurch. Der Konflikt zwischen Italien und Frankreich wegen der Interessensphäre in Tunis war das charakteristische Vorspiel zu dem franko-italienischen Zollkrieg sieben Jahre später, der als drastischer Epilog die freihändlerische Interessenharmonie auf dem europäischen Kontinent abgeschlossen hat. [7*] Die Monopolisierung der nichtkapitalistischen Expansionsgebiete im Innern der alten kapitalistischen Staaten wie draußen in den überseeischen Ländern wurde zur Losung des Kapitals, während der Freihandel, die Politik der „offenen Tür“ zur spezifischen Form der Schutzlosigkeit nichtkapitalistischer Länder gegenüber dem internationalen Kapital und des Gleichgewichts dieses konkurrierenden Kapitals geworden ist, zum Vorstadium ihrer partiellen oder gänzlichen Okkupation als Kolonien oder Interessenssphären. Wenn England allein bisher dem Freihandel treu geblieben ist, so hängt das in erster Linie damit zusammen, daß es als ältestes Kolonialteich in seinem gewaltigen Besitz an nichtkapitalistischen Gebieten von Anfang an eine Operationsbasis fand, die seiner Kapitalakkumulation bis in die jüngste Zeit fast schrankenlose Aussichten bot und es tatsächlich außerhalb der Konkurrenz anderer kapitalistischen Länder stellte. Daher der allgemeine Drang der kapitalistischen Länder, sich voneinander durch Schutzzölle abzusperren, obwohl sie zugleich füreinander in immer höherem Maße Warenabnehmer, aufeinander bei der Erneuerung ihrer sachlichen Reproduktionsbedingungen immer mehr angewiesen sind und obwohl die Schutzzölle heute, vom Standpunkte der technischen Entwicklung der Produktivkräfte, völlig entbehrlich geworden sind, ja vielfach umgekehrt zur künstlichen Konservierung veralteter Produktionsweisen führen. Der innere Widerspruch der internationalen Schutzzollpolitik ist, gleich dem widerspruchsvollen Charakter des internationalen Anleihesystems, bloß ein Reflex des geschichtlichen Widerspruchs, in den die Interessen der Akkumulation, d. h. der Realisierung und Kapitalisierung des Mehrwerts, der Expansion, zu den reinen Standpunkten des Warenaustausches geraten sind.

Letzteres findet namentlich darin seinen handgreiflichen Ausdruck, daß das moderne Hochschutzzollsystem – entsprechend der kolonialen Expansion und den verschärften Gegensätzen innerhalb des kapitalistischen Milieus – wesentlich auch als Grundlage der verstärkten Militärrüstungen inauguriert wurde. In Deutschland wie in Frankreich, Italien und Rußland wurde die Umkehr zum Schutzzoll Hand in Hand mit Heeresvergrößerungen und in deren Dienste durchgeführt, als Basis des gleichzeitig begonnenen Systems des europäischen Wettrüstens erst zu Lande und dann auch zu Wasser. Der europäische Freihandel, dem das kontinentale Militärsystem mit dem Schwerpunkt im Landheer entsprach, hat dem Schutzzoll als der Basis und Ergänzung des imperialistischen Militärsystems, bei dem der Schwerpunkt immer mehr in der Flotte liegt, den Platz geräumt.

Die kapitalistische Akkumulation hat somit als Ganzes, als konkreter geschichtlicher Prozeß, zwei verschiedene Seiten. Die eine vollzieht sich in der Produktionsstätte des Mehrwerts – in der Fabrik, im Bergwerk, auf dem landwirtschaftlichen Gut – und auf dem Warenmarkt. Die Akkumulation ist, von dieser Seite allein betrachtet, ein rein ökonomischer Prozeß, dessen wichtigste Phase zwischen dem Kapitalisten und dem Lohnarbeiter sich abspielt, der sich aber in beiden Phasen: im Fabrikraum wie auf dem Markt, ausschließlich in den Schranken des Warenaustausches, des Austausches von Äquivalenten bewegt. Friede, Eigentum und Gleichheit herrschen hier als Form, und es bedurfte der scharfen Dialektik einer wissenschaftlichen Analyse, um zu enthüllen, wie bei der Akkumulation Eigentumsrecht in Aneignung fremden Eigentums, Warenaustausch in Ausbeutung, Gleichheit in Klassenherrschaft umschlagen.

Die andere Seite der Kapitalakkumulation vollzieht sich zwischen dem Kapital und nichtkapitalistischen Produktionsformen. Ihr Schauplatz ist die Weltbühne. Hier herrschen als Methoden Kolonialpolitik, internationales Anleihesystem, Politik der Interessensphären, Kriege. Hier treten ganz unverhüllt und offen Gewalt, Betrug, Bedrückung, Plünderung zutage, und es kostet Mühe, unter diesem Wust der politischen Gewaltakte und Kraftproben die strengen Gesetze des ökonomischen Prozesses aufzufinden.

Die bürgerlich-liberale Theorie faßt nur die eine Seite: die Domäne des „friedlichen Wettbewerbs“, der technischen Wunderwerke und des reinen Warenhandels, ins Auge, um die andere Seite, das Gebiet der geräuschvollen Gewaltstreiche des Kapitals, als mehr oder minder zufällige Äußerungen der „auswärtigen Politik“ von der ökonomischen Domäne des Kapitals zu trennen.

In Wirklichkeit ist die politische Gewalt auch hier nur das Vehikel des ökonomischen Prozesses, die beiden Seiten der Kapitalakkumulation sind durch die Reproduktionsbedingungen des Kapitals selbst organisch miteinander verknüpft, erst zusammen ergeben sie die geschichtliche Laufbahn des Kapitals. Dieses kommt nicht bloß „von Kopf bis Zeh, aus allen Poren blut- und schmutztriefend“ [8*] zur Welt, sondern es setzt sich auch so Schritt für Schritt in der Welt durch und bereitet so, unter immer heftigeren konvulsivischen Zuckungen, seinen eigenen Untergang vor.

Fußnoten von Rosa Luxemburg

1. Und nicht nur in England. „Schon 1859 hatte eine durch ganz Deutschland verbreitete Flugschrift, als deren Verfasser man den Fabrikanten Diergardt aus Viersen bezeichnete, die eindringliche Mahnung an Deutschland gerichtet, sich des ostasiatischen Marktes rechtzeitig zu versichern. Es gab nur ein Mittel, um den Japanern, überhaupt den Ostasiaten gegenüber handelspolitisch etwas zu erreichen, das ist militärische Machtentfaltung. Die aus dem Sparpfennig des Volkes erbaute deutsche Flotte war ein Jugendtraum gewesen. Sie war längst durch Hannibal Fischer versteigert. Preußen hatte einige Schiffe, freilich keine imponierende Marinemacht. Man entschloß sich aber, ein Geschwader auszurüsten, um in Ostasien Handelsvertragsverhandlungen anzuknüpfen. Die Führung der Mission, welche auch wissenschaftliche Zwecke verfolgte, erhielt einer der fähigsten und besonnensten preußischen Staatsmänner, Graf zu Eulenburg. Derselbe führte seinen Auftrag unter den schwierigsten Verhältnissen mit großem Geschick durch. Auf den Plan, damals auch mit den Hawaiischen Inseln Vertragsbeziehungen anzuknüpfen, mußte man verzichten. Im übrigen erreichte die Expedition ihren Zweck. Trotzdem die Berliner Presse damals alles besser wußte und bei jeder Nachricht über eingetretene Schwierigkeiten erklärte, das habe man längst vorausgesehen und alle solche Ausgaben für Flottendemonstrationen seien eine Verschwendung der Mittel der Steuerzahler, läßt sich das Ministerium der neuen Ära nicht irremachen. Den Nachfolgern wurde die Genugtuung des Erfolges zuteil.“ (W. Lotz: Die Ideen der deutschen Handelspolitik, S. 80.)

2. „Une négociation officielle fut ouverte (zwischen der französischen und der englischen Regierung, nachdem Michel Chevalier mit Rich. Cobden die vorbereitenden Schritte getan hatte) au bout de peu de jours: elle fut conduite avec le plus grand mystère. Le 5 Janvier 1860 Napoléon III annonça ses intentions dans une lettreprogramme adressée au ministère d’État, M. Fould. Cette déclaration éclata comme un coup de foudre. Après les incidents de l’année qui venait de finir, on comptait qu’aucune modification du régime douanier ne serait tentée avant 1861. L’émotion fut générale. Néanmoins le traite fut signe le 23 Janvier.“ (Auguste Devers: La politique commerciale de la France depuis 1860, Schriften des Vereins für Sozialpolitik, LI, S. 136.)

3. Die Revision des russischen Zolltarifs in liberalem Sinne 1857 und 1868, die endgültige Abtragung des wahnwitzigen Schutzzollsystems Kankrins, war eine Ergänzung und Äußerung des ganzen Reformwerkes, das durch das Debakel des Krimkrieges erzwungen wurde. Unmittelbar entsprach aber die Ermäßigung der Zölle vor allem den Interessen des adeligen Grundbesitzes, der sowohl als Konsument ausländischer Waren wie als Produzent des ins Ausland ausgeführten Getreides an einem ungehinderten Handelsverkehr Rußlands mit Westeuropa interessiert war. Hat doch die Verfechterin der landwirtschaftlichen Interessen, die Freie Ökonomische Gesellschaft, konstatiert:

„Während der verflossenen 60 Jahre, von 1822 bis 1882, hat die größte Produzentin Rußlands, die Landwirtschaft, viermal unermeßlichen Schaden erleiden müssen, wodurch sie in eine äußerst kritische Lage gebracht wurde, und in allen vier Fällen lag die unmittelbare Ursache an maßlos hohen Zolltarifen. Umgekehrt ist die 32jährige Zeitperiode von 1845 bis 1877, während der gemäßigte Zölle bestanden, ohne solche Notstände abgelaufen, ungeachtet der drei Kriege und eines inneren Bürgerkrieges (gemeint ist der polnische Aufstand 1863 – R.L.), von denen jeder eine größere oder geringere Anspannung der Finanzkräfte des Staates bewirkte.“ (Memorandum der Kaiserl. Freien Ökonomischen Gesellschaft in Sachen der Revision des russischen Zolltarifs, Petersburg 1890, S. 148.)

Wie wenig in Rußland bis in die jüngste Zeit die Verfechter des Freihandels oder wenigstens eines gemäßigten Schutzzolls als die Vertreter der Interessen des Industriekapitals betrachtet werden dürfen, beweist schon die Tatsache, daß die wissenschaftliche Stütze dieser freihändlerischen Bewegung, die genannte Freie Ökonomische Gesellschaft, noch in den 90er Jahren gegen den Schutzzoll gerade als gegen ein Mittel der „künstlichen Verpflanzung“ der kapitalistischen Industrie nach Rußland eiferte und im Geiste reaktionärer „Volkstümler“ den Kapitalismus als die Brutstätte des modernen Proletariats denunzierte, „jener Massen militärdienstuntauglicher, besitzloser und heimatloser Menschen, die nichts zu verlieren haben und die seit langer Zeit keinen guten Ruf genießen ...“. (l. c., S. 171.) Vgl. auch K. Lodyshenski: Geschichte des russischen Zolltarifs, Petersburg 1886, S. 239–258.

4. Auch Fr. Engels teilte diese Auffassung. In einem seiner Briefe an Nikolai—on schreibt er am 18. Mai 1892:

„Englische Interessen vertretende Schriftsteller können es nicht verstehen, daß alle Welt es ablehnt, ihr Freihandelsbeispiel zu befolgen, und statt dessen Schutzzölle eingeführt hat. Natürlich wagen sie nicht zu sehen, daß dieses jetzt fast allgemeine Zollsystem ein – mehr oder weniger kluges und in manchen Fällen absolut dummes – Mittel der Selbstverteidigung gegen ebendenselben englischen Freihandel ist, der das englische Industriemonopol zu seiner höchsten Vollendung geführt hat. (Dumm z. B. im Falle Deutschlands, das unterm Freihandel ein großes Industrieland geworden ist und wo der Schutzzoll auf landwirtschaftliche Produkte und Rohstoffe ausgedehnt wird, was die Kosten der industriellen Produktion erhöht!) Ich betrachte dieses allgemeine Zurückgreifen auf den Schutzzoll nicht als einen bloßen Zufall, sondern als Reaktion gegen das untragbare Industriemonopol Englands; die Form dieser Reaktion mag, wie gesagt, unzuträglich sogar noch schlechter sein, aber die historische Notwendigkeit einer solchen Reaktion scheint mir klar und offensichtlich.“ (Briefe usw., S. 71.) [Friedrich Engels an Nikolai Franzewitsch Danielson in Petersburg, 18. Juni 1892. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 38. S. 365.]


Anmerkungen der Redaktion

1*. Graf Camillo von Cavour, Führer des gemäßigt-liberalen Flügels der italienischen Nationalbewegung, setzte von 1850 bis 1861 als Handels- und Finanzminister sowie als Ministerpräsident des Königreiches Sardinien eine Reihe bürgerlicher Reformen durch.

2*. Am 11. Juli 1882 begann die offene militärische Intervention Großbritanniens gegen die ägyptische nationale Befreiungsbewegung. Mit der Besetzung Kairos am 14. September 1882 wurde sie abgeschlossen. Ägypten blieb nominell eine autonome Provinz des Osmanischen Reiches, de facto wurde es britisches Protektorat.

3*. 1884 hatte Deutschland durch sogenannte Schutzverträge Südwestafrika, Kamerun und Togo sowie 1890 Ostafrika als Kolonien in Besitz genommen.

4*. Die militärische Intervention Frankreichs in Vietnam, die 1873/1874 mit der Militärexpedition nach Tonking begonnen hatte, fand am 6. Juni 1884 mit dem Patenôtre-Vertrag ihren Abschluß. Vietnam wurde zu einem französischen Protektorat.

5*. 1882 hatte Italien die Bucht von Assab, 1884 die Stadt Massaua annektiert. Beide Gebiete wurden 1890 von Italien zur Kolonie Eritrea zusammengeschlossen und bildeten die Ausgangsbasis im Krieg gegen Äthiopien, der 1896 mit der Niederlage Italiens endete. Im Friedensvertrag von Addis Abeba mußte Italien 1896 die Unabhängigkeit Äthiopiens anerkennen.

6*. Großbritannien annektierte 1879 das Sulu-, 1885 das Betschuana- und 1887 das Nordsomaliland, von 1885 bis 1895 Rhodesien, Njassaland und Kenia sowie 1890 bis 1896 Uganda. Der Ring um die Burenrepubliken war damit geschlossen worden. (Siehe Kap.29, Anm.1.)

7*. Die italienische Bourgeoisie erhob Ansprüche auf Tunis, das jedoch 1881 von Frankreich besetzt wurde. Die Beziehungen zwischen Frankreich und Italien verschärften sich danach, und 1887 kam es zwischen beiden Staaten zu einem Zollkrieg, durch den die italienische Wirtschaft schwer geschädigt wurde.

8*. Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23. S. 788.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012