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Nicht durch bewußte Anpassung der Organisation und der Taktik an die Massenkämpfe, die eine kommende Situation erfordern wird, gelangen wir zu dem „deutschen Massenstreik“. Dazu führt nach Kautsky der folgende verschlungene Weg. Ein Massenstreik um das preußische Wahlrecht ist erst dann möglich, wenn die Massen in Preußen den Nutzen des allgemeinen Wahlrechts richtig begriffen haben und das Wahlrecht als Lebensfrage für sich betrachten. Dies werden sie erst lernen, wenn sie einen Anschauungsunterricht haben, der ihnen den Nutzen des allgemeinen Wahlrechts vordemonstriert. „Dieser Anschauungsunterricht fehlt, solange das allgemeine, gleiche Wahlrecht zum Reichstag nicht eine Volksvertretung liefert, die für das Proletariat an ‚positiver Arbeit‘ weitaus mehr leistet als das Dreiklassenhaus.“ [1] Das war bisher noch nicht der Fall. Der Reichstag hat beinahe so wenig Positives geleistet wie der preußische Landtag. „Aber das kann sich ändern.“ Wenn wir noch mehr Sozialdemokraten hineinkriegen, können wir vielleicht im Reichstag dahin gelangen, „daß wir ihn zu Sozialreformen drängen. Gelänge es, die Praxis im Reichstag so zu gestalten, daß sie den Massen zeigte, das Reichstagswahlrecht besitze für sie großen praktischen Wert [Hervorhebung – R.L.], dann würden sie auch die Wichtigkeit seiner Erringung für den preußischen Landtag begreifen.“ [2]
Mit dieser Klappe hätten wir aber sogar zwei Fliegen erschlagen: Die „positiven Errungenschaften“ im Reichstag würden nicht bloß den Massen die nötige Begeisterung zum Kampfe um das preußische Wahlrecht einflößen. Sie würden zugleich die Reaktion zu einem Staatsstreich, zur Kassierung des Reichstagswahlrechts treiben. Und da hätten wir auf einmal Gelegenheit zu zwei „deutschen“ Massenstreiks: einem zur Verteidigung des Reichstagswahlrechtes und einem zur Erringung des preußischen Wahlrechtes.
Das – sagt Kautsky – erscheint mir zur Zeit als der aussichtsreichste Weg, den Massenstreik für den preußischen Wahlrechtskampf vorzubereiten: Nur durch das Wachstum der Bedeutung des Reichstags im Bewußtsein der Volksmassen [Hervorhebung – R.L.] gewinnen sie die Erkenntnis von der Bedeutung des Reichstagswahlrechtes. Der entgegengesetzte Weg der Massenaktionsschwärmer, die Leistungsfähigkeit des Reichstags und damit des Reichstagswahlrechtes als recht gering hinzustellen, ist der verkehrteste Weg dazu. [3]
Man weiß nicht, was man zuerst bewundern soll an diesem verwünscht gescheiten taktischen Feldzugsplan, dem an der Stirn geschrieben steht, daß er in der stillen Denkerstube am Schreibtisch ausgeklügelt worden ist. Wir sollen „dazu gelangen“, den Reichstag zu Sozialreformen, zu großartigen Leistungen, zu „positiver Arbeit“ zu bringen! Es ist jetzt nachgerade Gemeingut auch des bescheidensten Agitators der Sozialdemokratie geworden, daß der Reichstag je weiter, je mehr mit Unfruchtbarkeit geschlagen ist, daß er für die Arbeiterklasse immer mehr nur noch Steine statt Brot übrig hat, daß unsere Sozialreform sich je länger, je mehr aus einem Arbeiterschutz in Arbeitertrutz verwandelt – und da sollen wir erst in Zukunft dazu gelangen, von diesem Distelstrauch der bürgerlichen Reaktion die schönsten sozialreformerischen Feigen zu pflücken! Und zwar wodurch? Lediglich dadurch, daß wir noch mehr Abgeordnete in den Reichstag hineinwählen! Noch zehn, noch zwanzig Sozialdemokraten im Reichstag, und auf dem steinigen Boden der Reaktion beginnt allmählich das goldene Kornfeld „positiver Arbeit“ zu wogen! Daß die sozialreformerische Unfruchtbarkeit des deutschen Reichstags, wie übrigens der meisten kapitalistischen Parlamente heute, kein Zufall ist daß sie nur ein natürliches Produkt der zunehmenden Verschärfung des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit, daß im Zeitalter zunehmender Kartellierung der Industrie, der scharfmacherischen Arbeitgeberverbände, der Massenaussperrungen und des Zuchthauskurses unmöglich im Parlament ein neuer sozialreformerischer Frühling erblühen kann, daß jegliche „positive Arbeit“ im Parlament mit jedem Jahre aussichtsloser wird in dem Maße, wie der eherne Tritt des Imperialismus alle bürgerliche Opposition niederstampft, dem Parlament jede Selbsttätigkeit, Initiative und Unabhängigkeit nimmt, es zur verächtlichen Jasagemaschine für Militärbewilligungen degradiert – all das verschwindet plötzlich vor dem verklärten Blick Kautskys. Die geschichtliche Erfahrung von fünfzig Jahren parlamentarischer Arbeit, die ganze Summe komplizierter ökonomischer und politischer Faktoren der jüngsten internationalen Entwicklungsphase des Kapitalismus, die zunehmende Verschärfung der Gegensätze auf allen Gebieten – alles das wird offenbar bloß zur boshaften Erfindung von „Massenaktionsschwärmern“, die die Verkehrtheit begehen, vom Niedergang des Parlamentarismus zu reden und den Reichstag despektierlich zu behandeln. Nun, dieser „Verkehrtheit“ haben sich schon andere Leute schuldig gemacht. Bebel sagte in Dresden 1903:
Ich kann Ihnen nur sagen, wir können nicht mehr Initiativanträge bringen; und wenn wir nach dem Vorschlag ... eine soziale Kommission einsetzen, die sich mit den Arbeiterschutzgesetzen zu beschäftigen und alle Anträge zu berücksichtigen hätte, bilden Sie sich wirklich ein, es sei dann etwas zu machen? ... Es ist nicht Allein die geschäftsordnungsmäßige Unmöglichkeit, alle diese Dinge endgültig zu erledigen neben dem anderen Beratungsstoff ... – nein, das Entscheidende ist, daß die ganze Gesetzgebungsmacherei im Deutschen Reich und auch in den anderen Parlamenten der Welt eine so erbärmliche, so ungenügende und mangelhafte ist, daß, wenn heute ein Gesetz fertig ist, morgen bereits alle Welt sieht, daß es abermals wieder geändert werden muß ... Woher kommt das? Weil die Klassengegensätze immer schärfer geworden sind, so daß man schließlich nur halbe Gesetze macht, weil man keine ganzen mehr machen kann ... Ich habe mich oft gefragt: Ist denn bei diesem Zustand der Dinge die parlamentarische Tätigkeit die Mühe an Arbeit, Zeit, Geld wert? Wir leisten vielfach Tretmühlenarbeit im Reichstag. Ich habe mich das manchmal gefragt, aber selbstverständlich, ich bin viel zu kampflustig, als daß ich dem lange nachgehangen hätte. Ich sagte mir: Das hilft nun alles nichts, das muß durchgefressen und durchgehauen werden! Man tut, was man kann, aber man täusche sich nicht über die Situation! Das will ich Ihnen nur ausführen, damit Sie nicht glauben, weil wir jetzt 81 Mann, müßten wir parlamentarische Bäume ausreißen. [4] (Protokoll des Dresdener Parteitags, S. 307.) [Hervorhebungen – R.L.]
So sprach von der parlamentarischen Tätigkeit ein Mann, der auf ihrem Gebiet ein Menschenalter gearbeitet, der die sozialdemokratische Parlamentstaktik geschaffen hat. Und jetzt verspricht uns Kautsky, daß, wenn wir nur noch mehr Abgeordnete hineinwählen, sie parlamentarische Bäume ausreißen werden! Bebel rief in Dresden über die Aussichten des Parlamentarismus: „Also keine Illusionen, auf keinem Gebiete! Das schadet Ihnen nicht an Leib und Seele; im Gegenteil, das kann Ihnen nur nützen.“ [5] [Hervorhebungen – R.L.] Heute sucht Kautsky die gefährlichsten Illusionen in bezug auf den Parlamentarismus zu wecken.
Sein schlauer taktischer Plan hat aber noch eine interessante Seite. Wir sollen erst durch „positive Errungenschaften“ im Reichstag das Interesse der Massen für das preußische Wahlrecht wecken. Nur dieser „Anschauungsunterricht“ vermag entschlossene Kämpfer für das preußische Wahlrecht zu schaffen. Also ohne „Positive Errungenschaften“ versteht die Masse den Wert der parlamentarischen Tätigkeit nicht? Nun, wie sind wir denn zu unseren 4¼ Millionen Stimmen zum Reichstag gekommen? Wie sind wir seit 40 Jahren von Wahlsieg zu Wahlsieg vorgeschritten, ohne daß wir bis jetzt, wie Kautsky selbst zugibt, im Reichstag irgendwelche namhafte „positive Arbeit“ haben verrichten können? Haben wir vielleicht nach dem Kautskyschen Rezept die Massen durch den Köder „positiver Errungenschaften“ für den Gebrauch ihres Wahlrechtes zu gewinnen gesucht? Hören wir wieder, was Bebel darüber schon in Erfurt 1891 gegen Vollmar ausführte:
Für uns aber handelt es sich darum, daß wir den Massen zeigen, wie ihnen die Gegner auf ihrem eigenen Boden die elementarsten und gerechtfertigtsten Forderungen verweigern. Diese Aufklärung der Massen über unsere Gegner ist die Hauptaufgabe für unsere parlamentarische Tätigkeit und nicht die Frage, ob zunächst eine Forderung erreicht wird oder nicht. Von diesen Gesichtspunkten aus haben wir unsere Anträge stets gestellt ... Und unsere Tätigkeit in diesen Dingen hat in den weitesten Kreisen der Arbeiter, wie zahlreiche Zuschriften beweisen, die allergünstigste Beurteilung gefunden. Wir haben also stets den Standpunkt vertreten, es handelt sich zunächst nicht darum, ob wir dies oder jenes erreichen; für uns ist die Hauptsache, daß wir gewisse Forderungen stellen, die keine andere Partei stellen kann. [6] (Protokoll des Erfurter Parteitags, S. 174.) [Hervorhebungen – R.L.]
Es war also nicht die „positive Arbeit“, sondern die aufklärende Agitation im Reichstag, was uns die wachsenden Scharen der Anhänger bei den Wahlen gewonnen hat. Die Opportunisten in der Partei waren es bis jetzt, die behaupteten, den Massen müsse man unbedingt mit „positiven Errungenschaften“ in der Hand kommen, sonst wird uns das Volk „nicht verstehen“. Die Partei in ihrer Mehrheit hat es stets verschmäht, die Massen durch Verheißungen „positiver Errungenschaften“ zu ködern. Und doch haben wir Millionen Wähler gewonnen, und doch haben wir unter stürmischer Zustimmung der Massen schon 1905 erklärt, zur Verteidigung dieses Reichstagswahlrechtes, das fast noch keinen Deut an „positiven Errungenschaften“ eingebracht hat, müsse das Äußerste getan werden. [7]
Der ganze taktische Plan Kautskys bewegt sich also im falschen Geleise, er ist opportunistische Spekulation auf einen sozialreformerischen Altweibersommer des Reichstags und auf opportunistische Köderung der Massen durch „positive“ parlamentarische Arbeit.
Doch abgesehen davon, was bleibt denn Greifbares an taktischer Weisung für die Partei übrig, wenn man in diesem Plan das Wenn und Aber der Zukunftsmusik ausscheidet? Was sollen wir schließlich tun, um vorwärtszukommen? Reichstagswahlen, Mandatgewinn – das ist das Allheilmittel, das ist das A und O. Nichtsalsparlamentarismus – das ist alles, was Kautsky der Partei heute zu empfehlen weiß.
1. Siehe Karl Kautsky, Nachgedanken zu den nachdenklichen Betrachtungen, in Die Neue Zeit (Stuttgart), 31. Jg. 1912/13, 2. Bd., S. 566 567.
2. ebenda, S. 567.
3. ebenda.
4. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Dresden vom 13. bis 20. September 1903, Berlin 1903, S. 305 307.
5. ebenda, S. 308.
6. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Erfurt vom 14. bis 20. Oktober 1891, Berlin 1891, S. 174.
7. Der Jenaer Parteitag von 1905 beschloß, das allgemeine Reichstagswahlrecht und Koalitionsrecht notfalls mit Massenstreiks zu verteidigen, beschränkte aber die Anwendung des Massenstreiks auf diese Zwecke.
Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012