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Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin), Nr. 3, 6. Januar 1914.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Berlin 1984, Bd. 3, S. 367–371.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Wie der Reuter-Prozeß in Straßburg auch ausgehen mag, er wird an der Hauptsache nichts ändern, daß nach der Zabernaffäre [1] wie vor ihr alles beim alten bleibt. Wer von der gelinden Bestrafung eines Leutnants und eines Obersten im Elsaß einen grundstürzenden Umschwung der deutschen Verhältnisse datieren möchte, wäre würdig, zum Ehrenmitglied des freisinnigen Parteivorstandes ernannt zu werden. Nachdem sich der Sturm im Glase Wasser gelegt haben wird, dessen letzte Wellen sich eben kräuseln, bleibt unerschüttert die überragende Herrscherstellung des Militarismus im gesamten öffentlichen Leben des Reiches, genauso wie die reale Machtstellung der hinter dem persönlichen Regiment verschanzten Reaktion gegenüber dem deutschen Scheinparlamentarismus unerschüttert bleibt. Höchstens daß sich nach dem famosen Mißtrauensvotum der bürgerlichen Mehrheit an den Reichstag die Jämmerlichkeit dieses Parlaments noch drastischer von dem trotzigen Übermut der junkerlichen Reaktion abhebt. Ist es doch ein Elementarsatz jeder Kampfstrategie, daß nichts so die Schwäche der Position verrät und den Feind ermutigt wie rasselnde Kampfansagen, denen kein Ansturm mit der gesamten Macht auf dem Fuße folgt.
Dieser operettenhafte Ausgang der ganzen Affäre ist wahrhaftig keine Überraschung. Sicherlich gab es in unserer Presse und auch in der Fraktion kein so kindlich naives Gemüt, das im Ernst von den Pappenheimern des Zentrums oder gar des Liberalismus herkulische Heldentaten im Zweikampf mit dem Militarismus und dem Absolutismus erwartete. Ist doch das niedliche Stück mit dem nämlichen Ausgang nicht zum ersten Mal im deutschen Reichstag aufgeführt worden: Der große Theaterdonner nach der Daily Telegraph-Affäre [2] wie der kleine Theaterdonner nach der Marienburger Rede vom Instrument des Himmels [3] haben auch dem unverbesserlichsten Optimisten eine Ahnung davon geben können, wie dergleichen Zusammenstöße zwischen der „geschriebenen Verfassung“ und der realen, auf Kanonen gestützten „Verfassung“ im Lassalleschen Sinne auszugehen pflegen.
War aber der Ausgang des Sturmes im Reichstag wie im bürgerlichen Blätterwald auch ohne sonderliche Zauberei vorauszusehen, dann fragt es sich, ob das rückhaltlose Miteinstimmen unsererseits in den bürgerlichen Chor der Entrüstung eigentlich am Platze war. Es fragt sich, ob die Rolle vieler Kritiker allen Figuren der traurigen Posse gegenüber von Anfang an uns nicht besser angestanden hätte als diejenige eifriger Paukenschläger im Orchester liberal-ultramontanen Maulheldentums.
Als unsere Presse die plumpen Sprünge des Militarismus in Zabern mit gehöriger Wucht geißelte, als unsere Reichstagsfraktion die bürgerlichen Parteien über die Klinge ihres staatsrechtlichen Antrags [4] springen ließ, tat sie sicher nur, was sich für unsere Partei als Pflicht aus der Situation ergab. Aber die Episode des Mißtrauensvotums der „überwältigenden Mehrheit“ mit verhaltenem Atem wie eine Art Rütlischwur oder eine Szene aus dem französischen Revolutionskonvent mitzumachen, im Plakatstil von der „Schicksalsstunde“ und dem „schwarzen Tag“ zu schreiben, dazu lag kaum ein Anlaß vor. Ließ sich doch an den Fingern abzählen, daß die „überwältigende Mehrheit“ an ihrem bürgerlichen Teil im nächsten Augenblick so gründlich in die Hosen machen wird wie der kleine Leutnant, über den sie in helle Entrüstung geraten war.
Die „Schicksalsstunde“ des deutschen Parlamentarismus wie der ganzen deutschen Entwicklung lag auch gar nicht in der Dezembersitzung des Reichstages, in der über Zabern Redeschlachten geliefert wurden, sondern – wenn man schon so will – in der Junisitzung des vergangenen Jahres, in der die ungeheuerlichste Militärvorlage [5] von der bürgerlichen Mehrheit einstimmig angenommen wurde. Die Illusion auch nur für einen Moment im Volke wecken, als ob nach allem Vorhergegangenen, nach dem tollen Triumphzug des Imperialismus in den letzten Jahren, nach dem tausendfach bewährten elenden Bankerott des Liberalismus, nach dem erzreaktionären Verrat des Zentrums an allen Fortschrittsinteressen, jetzt plötzlich eine Schicksalswendung aus eigener Kraft des bürgerlichen Parlamentarismus möglich wäre, kann nimmermehr unsere Aufgabe sein. Nicht aus einem unerwarteten oppositionellen Johannistrieb des bürgerlichen Parlaments, nur aus dem außerparlamentarischen Druck und der Machtentfaltung der Volksmassen kann im heutigen Deutschland jeder Fußbreit politischen Fortschritts und bürgerlicher Freiheit erstehen – diese einfache Lehre bei jeder Gelegenheit unbeirrt zu verkünden muß unsere vornehmste Aufklärungsarbeit sein. Das ewige und unbelehrbare Harren auf die Besserung der bürgerlichen Opposition ist hingegen das typische Geschäft des Freisinns, das er namentlich in bezug auf die Nationalliberalen mit so schönem Erfolg seit Jahrzehnten betreibt.
Wir haben jedoch noch triftigere Gründe, unsere Stimmen nicht mit dem Chorus der entrüsteten Liberalen und des Zentrums zu vermischen. Bei diesem rührt die ganze Entrüstung über den Fall Zabern daher, weil er den Schein der bürgerlichen Gesetzlichkeit, den Nimbus der „Zivilbehörden“ und ihrer angeblichen Unabhängigkeit von den „Militärbehörden“ zerrissen hat. Wäre der lahme Schuster in Zabern bei einem Streikkrawall massakriert worden, kein liberaler oder ultramontaner Hahn hätte nach ihm gekräht. Schwieg doch der bürgerliche Entrüstungschorus, als in Moabit Jagows Untergebene den Arbeiter Herrmann totgehackt hatten. [6] Er schwieg, als in Mansfeld die Maschinengewehre auf streikende Arbeiter gerichtet wurden. [7]
Er schweigt, wenn in das Ruhrrevier bei einem Massenstreik Militär einmarschiert, um die hungernden Arbeiter bei der geringsten Regung im Blute zu ersticken. [8]
Doch wozu so weite Beispiele suchen? Die brutalste Herrschaft des Militarismus über das Volk wird uns jeden Tag schmerzlich klar, wenn wir das Ohr an die Mauern unserer Kasernen drücken und das erstickte Stöhnen gepeinigter Soldaten vernehmen, über deren Menschenwürde, Gesundheit, ja Leben der eiserne Moloch zermalmend hinwegschreitet, ohne daß im Reichstag die offiziellen Vertreter dieser Schmach vom Entrüstungssturm der „überwältigenden Mehrheit“ weggefegt würden.
Und ist nicht das Morden und das Verstümmeln im Kriege der eigentliche Beruf und die wahre Natur jener „Militärbehörden“, deren gekränkte Autorität in Zabern die Zähne gezeigt hat? Wurden in Libyen [9], auf dem Balkan [10] nicht friedliche Bürger zu Tausenden niedergemetzelt, Krüppel massakriert, „Zivilbehörden“ in die Gefangenschaft geschleppt, nur daß es fremde Bürger und Behörden waren? Wo blieb endlich der Entrüstungssturm im Reichstag, als deutsche Militärs wehrlose Hereroweiber und Kinder in die Wüste trieben, um sie dort in Wahnsinn verröcheln zu lassen? [11]
Was in Zabern als Verstoß wider Gesetz und Recht verschrien wird, wird von demselben Bürgertum als Heldentat mit dem Lorbeer geschmückt, wenn es sich um Reichsbürger anderer Hautfarbe und anderer Klasse handelt oder wenn in Kriegszeiten zum Recht und zur Pflicht erhoben wird, was ein ruchloses Verbrechen wider Menschlichkeit und Sitte ist.
Dem klassenbewußten Proletariat aber stehen die schwarzen Opfer des deutschen Militarismus und die Kriegsopfer aller Rassen und Zungen genauso nahe wie die Bürger im Elsaß. Gemessen an allen diesen Greueln und Bluttaten des Militarismus, sind seine Zaberner Streiche wahrhaft liebliche Neckereien, wie wenn die zähnefletschende Bestie einmal den schlafenden Bürger mit einem langen Strohhalme am Ohre kitzeln wollte.
Mag das Bürgertum wegen dieser Neckereien einen Höllenspektakel erheben, um desto mehr zu unterstreichen, daß das sonstige blutige Wesen des Militarismus ganz in der Ordnung ist, nämlich wo es sich gegen fremde Völker oder gegen kämpfende Proletarier richtet.
Der Sozialdemokratie liegt es ob, gerade diese Kehrseite der Medaille um so schroffer hervorzuheben, je mehr der Imperialismus mit jedem Tage ihr direktester und gefährlichster Feind wird.
Und hält sie dem spektakelnden Bürgertum – wie es ihr gutes Recht ist – die Klinge der parlamentarischen Entschließung hin, um die Herrschaften ein übriges Mal auf eine schimpfliche Probe zu stellen, so nur mit dem überlegenen grimmigen Hohn der kophtischen Weisheit:
Töricht, auf Beßrung der Toren zu harren, |
1. Im November 1913 war es in Zabern (Unterelsaß) zu schweren Ausschreitungen des preußischen Militärs gegenüber den Einwohnern gekommen, die gegen die Beschimpfung der Elsässer durch einen Leutnant der Garnison protestiert hatten. Der Regimentskommandeur Oberst von Reuter ließ die Demonstrationen der Bevölkerung mit Waffengewalt auseinanderjagen und Verhaftungen vornehmen. Diese Vorgänge lösten in ganz Deutschland, selbst bei Teilen des Bürgertums, einen Entrüstungssturm gegen die Militärkamarilla aus, und der Reichstag mißbilligte nach heftigen Debatten mit 293 gegen 54 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen die Stellung der Regierung, die die Vorgänge zu bagatellisieren versuchte. Oberst von Reuter, gegen den vom 5. bis 8. Januar 1914 vor einem Kriegsgericht in Straßburg verhandelt wurde, wurde von aller Schuld freigesprochen und im Januar 1914 vom deutschen Kaiser demonstrativ mit einem Orden dekoriert.
2. Am 28. Oktober 1908 hatte die englische Zeitung Daily Telegraph ein Interview mit Wilhelm II. veröffentlicht, in dem er u. a. ausführte, daß er England den Feldzugsplan zur Niederwerfung der Buren geliefert habe. Er empfahl den Engländern, mit Deutschland im Fernen Osten gemeinsam vorzugehen, und versuchte, Rußland und Frankreich gegen England auszuspielen. Das Interview erregte im Ausland großes Aufsehen. In Deutschland rief es eine Welle der Empörung hervor, die sich besonders gegen die Selbstherrlichkeit des Kaisers richtete. Es wurden Verfassungsänderungen gefordert, die solche unverantwortlichen Handlungen des Kaisers verhindern sollten.
3. Am 25. August 1910 hatte Wilhelm II. in einer Rede in Königsberg das angebliche Gottesgnadentum seiner monarchischen Stellung betont, die nicht von Parlamenten oder Volksbeschlüssen abhängig sei, und seinen Willen zur Stärkung des persönlichen Regiments bekundet. Dieses provokatorische Auftreten hatte im In- und Ausland Aufsehen und Empörung hervorgerufen, so daß seine Rede in Marienburg am 29. August 1910 als eine gewisse Korrektur angesehen wurde.
4. Die sozialdemokratische Fraktion hatte nach dem Mißtrauensvotum gegen den Reichskanzler im Dezember 1913 im Reichstag die Forderung nach Änderung der Verfassung des Deutschen Reiches erhoben. Diese sah vor, den Reichskanzler gegenüber dem Reichstag verantwortlich zu machen, dem Reichstag das Recht zu geben, den Reichskanzler zu entlassen und bei der Frage Krieg oder Frieden mitzuentscheiden. Diese Forderungen der Sozialdemokratie basierten auf bereits im Februar 1912 eingebrachten Anträgen.
5. Ende März 1913 war im Reichstag eine Militär- und Deckungsvorlage eingebracht wurde, die die größte Heeresverstärkung seit Bestehen des Deutschen Reiches vorsah. Ein Teil der zusätzlichen finanziellen Mittel sollte durch einen außerordentlichen Wehrbeitrag und durch Besteuerung aller Vermögen über 10.000 Mark aufgebracht, der übrige Teil auf die Schultern der werktätigen Bevölkerung abgewälzt werden. Am 30. Juni wurde die Militär- und Deckungsvorlage im Reichstag angenommen. Die sozialdemokratische Fraktion lehnte die Militärvorlage ab, stimmte aber einer einmaligen Vermögensabgabe (dem sogenannten Wehrbeitrag) und einer Vermögenszuwachssteuer zur Finanzierung der Heeresvorlage zu. Der Abstimmung waren scharfe Auseinandersetzungen in der Fraktion vorausgegangen, die damit endeten, daß die Revisionisten unter Mißbrauch der Fraktionsdisziplin den Widerstand von 37 Abgeordneten unterdrückten. Diese Zustimmung zu den Gesetzen bedeutete das Aufgeben des Grundsatzes „Diesem System keinen Man und keinen Groschen!“.
6. In Berlin-Moabit war es im Herbst 1910 in Verbindung mit einem Streik bei der Firma Kupfer & Co. und den Provokationen der von der Polizei unterstützten bewaffneten Streikbrecher zu schweren Unruhen gekommen, an denen 20.000 bis 30.000 Menschen beteiligt waren. Bei den Auseinandersetzungen zwischen der Arbeiterklasse und der Staatsgewalt gab es zahlreiche Verwundete und zwei Tote, darunter der Arbeiter Robert Hermann.
7. Vom 4. Oktober bis 13. November 1909 hatten etwa 10.000 Mansfelder Bergarbeiter gegen die Maßregelung gewerkschaftlicher Vertrauensleute durch die Zechenherren und für die volle Gewährleistung des Koalitionsrechtes gestreikt. Um den Streik zu unterdrücken, war mit Maschinengewehren ausgerüstetes Militär in das Streikgebiet entsandt worden. Am 13. November mußte der Streik ergebnislos abgebrochen werden.
8. Bei dem Bergarbeiterstreik 1912 im Ruhrrevier [12] war Militär und Polizei mit brutalem Terror gegen die Streikenden vorgegangen und hatte viele Arbeiter verletzt und vier getötet.
9. Im September 1911 hatte Italien einen Krieg gegen das türkische Reich provoziert. Unter Ausnutzung der imperialistischen Gegensätze um Marokko gelang es Italien im Oktober 1912, Tripolis und Cyrenaica zu annektieren.
10. Von Oktober 1912 bis Mai 1913 führten Bulgarien, Serbien, Griechenland und Montenegro Krieg gegen das türkische Reich, der mit einer Niederlage der Türkei endete. Dieser Krieg war in seiner Haupttendenz ein nationaler Befreiungskrieg gegen die türkische Fremdherrschaft auf dem Balkan. Infolge der Einmischung der imperialistischen Großmächte gefährdete er den Frieden in Europa.
11. Bei dem Unterdrückungsfeldzug 1904-1907 gegen die Hereros in Südwestafrika [13] hatten die deutschen Kolonialtruppen die Eingeborenen in die Wüste getrieben und von den Wasservorkommen abgeschnitten. General Lothar von Trotha hatte Befehl gegeben, keine Gefangenen zu machen und auf Frauen und Kinder zu schießen, so daß die Hereros einem grausamen Tod ausgeliefert waren.
12. Im Frühjahr 1912 standen in mehreren europäischen Ländern Millionen Bergarbeiter im Streik für höhere Löhne sowie die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen. Größeren Umfang nahm der Kampf in England und Deutschland an, wo eine Million bzw. 250.000 Arbeiter beteiligt waren und teilweise Polizei und Militär gegen die Streikenden eingesetzt wurde, ohne daß es gelang, die Kampffront zu brechen. In England wurde die Regierung zu einem Kompromiß gezwungen und beschloß innerhalb ungewöhnlich kurzer Zeit ein Gesetz über Mindestlöhne für Bergarbeiter; im Ruhrrevier in Deutschland endete der Streik dagegen mit einer Niederlage der Arbeiter, da die reformistischen Gewerkschaftsführer gegen den Willen der Bergarbeiter den Streik abbrachen.
13. Im Jahre 1904 hatten sich in Südwestafrika die Völker der Hereros und der Hottentotten gegen die Kolonialherrschaft des deutschen Imperialismus erhoben. Der Aufstand, der den Charakter eines Freiheitskrieges trug, endete mit einer verlustreichen Niederlage dieser Völker, nachdem die deutschen Kolonialtruppen drei Jahre lang mit äußerster Grausamkeit gegen sie vorgegangen waren.
Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012