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Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin), Nr. 14, 3. Februar 1914.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Berlin 1984, Bd. 3, S. 385–388.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Ein Redner unserer Fraktion hat bereits bei der letzten Reichstagsdebatte über den Fall Zabern unter lebhafter Zustimmung unserer Abgeordneten laut und deutlich darauf hingewiesen, daß die jüngsten Vorgänge unserer Stellung zur Monarchie einen noch stärkeren Nachdruck verleihen, als das bisher der Fall war. [1]
Es ist mit unserem grundsätzlichen Bekenntnis zur republikanischen Staatsform wie mit allen unseren Programmforderungen. Ihre jeweilige Aktualität, das größere oder geringere Gewicht, das wir jeder einzelnen von ihnen in unserem praktischen Kampfe und in der Agitation beimessen, hängt ganz von den Zeitumständen, von den konkreten Bedingungen ab, die sich nicht durch eine Schablone für alle Zeiten und Länder festlegen lassen. In Frankreich hat die Trennung der Kirche vom Staat, in Holland die Weltlichkeit der Schule, in der Schweiz und in Frankreich das Proportionalwahlrecht eine ganz andere Bedeutung erlangt als in Deutschland, obgleich wir jene Losungen gleichfalls im Programm haben. Andererseits zeigt der Kampf um das preußische Wahlrecht handgreiflich, wie eine Forderung, die jahrzehntelang im Programm geruht hat, erst mit Zeitumständen, gleichsam vom zündenden Funken der Aktualität berührt, in wenigen Jahren zum Mittelpunkt einer großen Volksbewegung werden kann.
In etwas ähnlicher Weise gewinnt jetzt die Losung der Republik allmählich an Aktualität in Deutschland. Nicht in dem Sinne freilich, als ob ihre Verwirklichung mitten in den heutigen Orgien der imperialistischen Reaktion immer wahrscheinlicher wäre, sondern in dem tieferen historischen Sinn, daß sie gerade in unserem Kampfe gegen jene Reaktion als echte Parole der proletarischen Klassenposition immer mehr Leben gewinnt, im Bewußtsein der Massen einen immer wichtigeren Platz beansprucht.
Es war stets der Stolz unserer Partei, daß sie, ein echtes Kind des Marxschen Geistes, nicht an der Oberfläche der Erscheinungen haften blieb, sondern mit ihrer Aufklärungsarbeit in die tiefsten Wurzeln der gesellschaftlichen Zusammenhänge griff. Wir haben nie die Illusion genährt, als ob in der Republik das Heil der Arbeiterklasse wäre, als ob die republikanische Staatsform heute nur um ein Jota weniger kapitalistische Klassenherrschaft bedeutete als die Monarchie.
Aber ebenso, wie wir im allgemeinen Wahlrecht für Preußen kein Heil erblicken, es dennoch als ein unumgängliches Mittel zum Kampfe gegen den Kapitalismus brauchen; ebenso wie wir erkennen, daß der Militarismus in der Klassenherrschaft wurzelt und nur mit ihr zusammen ausgerottet werden kann, was uns nicht hindert, den Militarismus ganz besonders als unseren schlimmsten Feind zu bekämpfen – ebenso rückt heute die Monarchie als besondere Vertreterin der Klassenherrschaft in den Vordergrund des politischen Lebens.
Es gehört schon zu den alten Erkenntnissen unserer materialistischen Geschichtsauffassung, daß die soziale Grundlage wie die Bedeutung der monarchischen Form durchaus nicht immer die gleiche ist. Wenn die Portugiesen bei ihrem ersten Vordringen in das Lunda-Reich in Afrika den Negerfürsten Muata Kasombe kennenlernten, der sie, barfuß, in einen Weiberrock gekleidet und ein schmutziges Tuch um den Kopf, mit seinen zwei Töchtern durch einen hüpfenden Tanz begrüßte und darauf zur Feier des Tages mehreren seiner Untertanen Nasen und Ohren abhauen ließ, so mag dies dem „gesitteten Europäer“ als die abscheulichste Barbarei vorkommen. Immerhin berichten dieselben Portugiesen, daß die Untertanen des gestrengen Muata ihren Herrscher für den mächtigsten Zauberer hielten, so gut wie er sich selbst für einen solchen hielt. Und dieser naive Glaube der Volksmasse war die ausreichende historische Legitimation für den naturwüchsigen Charakter jener tyrannischen Herrschaft.
Heute, im Lande Goethes, Kants und Marxens, im Lande der 4½ Millionen sozialdemokratischer Wähler, ist die aktive Rolle der Monarchie durch keinen Glauben an die übersinnlichen Mächte legitimiert. Sie ist zwar nicht ein Instrument des Himmels, aber ein Instrument der junkerlich-kapitalistischen Klassenherrschaft, im offenen und klaffenden Widerspruch mit dem Denken und Fühlen der Masse des arbeitenden Volkes.
Die feindliche Stellung der Monarchie zur Sozialdemokratie ist freilich nicht neu. Die vielen Reden und Aussprüche des derzeitigen Trägers der Krone sind ja dafür Zeugnis genug. Über diese Äußerungen brauchten wir uns indes bis jetzt um so weniger aufzuregen, als sie uns seit jeher von größtem Nutzen waren. Anders seit dem immer aktiveren Eingreifen der Monarchie in die Tageskämpfe der allgemeinen Politik. Unter Bismarck war die Hohenzollernmonarchie selbst mehr eine Dekoration der kapitalistischen Klassenherrschaft, die sich mit aller Brutalität in der neudeutschen Reichsherrlichkeit zurechtsetzte. Seit dem imperialistischen Kurs wird sie immer mehr als persönliches Regiment ein selbständiger, aktiver Faktor des öffentlichen Lebens. Schon die berühmte Oeynhausener Rede [2] als erster Vorläufer der jetzigen Anschläge gegen das Koalitionsrecht; die Dekoration des Reichskanzlers nach jener denkwürdigen Adventsnacht des Jahres 1902, in der der Hungerzolltarif durchgedrückt wurde [3]; das Hunnenevangelium vor der Chinaexpedition [4], mit der unsere weltpolitischen Abenteuer begannen; die Algeciraspolitik, die uns in die Marokkoaffäre hineintrieb und uns zuletzt eine Kongokolonie aufhalste [5]; jetzt die Ermunterung und Auszeichnung der Zabernhelden [6] – alles das fügt sich zu einer geschlossenen Kette tiefgreifender politischer Vorstöße von aktuellster Bedeutung für die Schicksale der Arbeiterklasse. Die schlimmsten Feinde des aufstrebenden Proletariats, des geistigen Fortschritts und des Rechtsstaates, die Nutznießer des Brotwuchers, des Scharfmachertums und des imperialistischen Länderschachers, erblicken heute in der Monarchie ihre Hochburg und ihren Herold. Die jüngste Jubiläumsfeier [7] war in dieser Beziehung ein Zeitbild von hoher symptomatischer Bedeutung. Sie hat unter prasselndem Feuerwerk, in bengalischer Beleuchtung das gesamte besitzende Deutschland gezeigt, an den Stufen des Thrones zu einem kompakten hurrapatriotischen Lager gegen das klassenbewußte, um Brot und Freiheit ringende Proletariat gruppiert. Je mehr aber das Bürgertum in seinem politischen Verfall um der Fleischtöpfe der kapitalistischen Bereicherung willen vor dem Throne erstirbt, um so lockender erscheint die Republik der proletarischen Masse.
Im Mittelalter lag das deutsche Spießbürgertum mit großem Eifer Komödienaufführungen meist geistlichen Inhalts ob. Namentlich führten die biederen Waiblinger das Jüngste Gericht so naturgetreu, mit solchem Lob und solcher Zier auf, daß der junge Herzog Ludwig von Württemberg sie auf den Ostermontag des Jahres 1571 nach Stuttgart berief, dort auf dem Markte ihre Vorstellungen zu wiederholen. Da wäre es aber, wie der Chronist berichtet, durch einen Zufall beinahe gar zu natürlich zugegangen: Die Bühne fiel zusammen, die Hölle geriet in wirklichen Brand, die Teufel liefen davon, und „Gottvater“ sprang fluchend von seinem Thron.
Auch die heutigen Aufführungen der junkerlich-militaristischen Reaktion können bei dem gegenwärtigen rasenden Tempo der imperialistischen Entwicklung über Nacht eine unerwartete Wendung nehmen. Wenn es durch den Gang der Geschichte zu der unvermeidlichen Abrechnung der Arbeiterklasse mit dem Regime von Zabern kommt, kann es leicht passieren, daß die Bühne der triumphierenden Reaktion zusammenfällt wie einst die Bühne in Stuttgart.
1. Am 23. Januar 1914 hatte sich Georg Ledebour während der Zaberndebatte im Reichstag [8] gegen die Monarchie gewandt und den republikanischen Standpunkt des Proletariats hervorgehoben.
2. In Oeynhausen hatte Wilhelm II. am 6. September 1898 die sogenannte Zuchthausvorlage angekündigt, derzufolge die Organisierung und Durchführung von Streiks mit schweren Zuchthausstrafen geahndet werden sollten.
3. Am 14. Dezember 1902, unmittelbar nach der Annahme des Zolltarifs im Reichstag [9], hatte Wilhelm II. dem Reichskanzler Bernhard von Bülow telegraphisch für diesen „Erfolg“ gedankt und mitgeteilt, daß er ihn in den Fürstenstand erhoben habe. Aus persönlichen Gründen lehnte von Bülow diese Standeserhebung zunächst ah.
4. Am 27. Juli 1910 hatte Wilhelm II. in Bremerhaven die Truppen der Chinaexpedition [10] mit einer chauvinistischen Hetzrede, berüchtigt geworden als Hunnenrede, verabschiedet und zu äußerster Brutalität gegenüber den chinesischen Freiheitskämpfern aufgefordert.
5. Mit dem Algecirasvertrag vom 7. April 1906 war die erste Marokkokrise von 1905 beendet worden. Der Vertrag garantierte Marokko formal die Unabhängigkeit, festigte aber den Einfluß Frankreichs in Marokko, indem er die Polizei des Landes auf fünf Jahre französischer und spanischer Kontrolle unterstellte. Deutschland hatte sich durch seine imperialistische Abenteuerpolitik außenpolitisch fast völlig isoliert.
Im Frühjahr 1911 hatte der französische Imperialismus den Versuch unternommen, seine Herrschaft auf ganz Marokko auszudehnen und endgültig zu festigen. Dieses Vorgehen nahmen die deutschen Imperialisten zum Anlaß für die Erklärung, Deutschland fühle sich nicht mehr an das Algecirasabkommen gebunden. Am 1. Juli 1911 entsandte die deutsche Regierung die Kriegsschiffe Panther und Berlin nach Agadir und beschwor durch diese Provokation eine unmittelbare Kriegsgefahr herauf. Das Eingreifen Großbritanniens zugunsten Frankreichs zwang die deutschen Kolonialpolitiker zum nachgeben. Zwischen Frankreich und Deutschland wurde ein Kompromiß geschlossen.
Während der Marokkokrise verhandelten der französischer Botschafter in Deutschland Jules Cambon und der Staatssekretär des Äußeren Alfred von Kiderlen-Wächter hinter verschlossenen Türen über Kompensationen im Kolonialbesitz. Diese Verhandlungen führten am 4. November 191 zu den Marokko- und Kongoabkommen zwischen Deutschland und Frankreich. im Marokkoabkommen stimmte Deutschland der Beherrschung Marokkos durch Frankreich zu, während Frankreich das Prinzip deer „offenen Tür“ für Marokko garantierte. Im Kongoabkommen wurde ein Gebietsaustausch in Äquatorialafrika vereinbart, durch den Deutschland gegen Territorien im Tschadgebiet einen zwar größeren, wirtschaftlich aber wertlosen Teil von Französisch-Kongo erhielt.
6. Im November 1913 war es in Zabern (Unterelsaß) zu schweren Ausschreitungen des preußischen Militärs gegenüber den Einwohnern gekommen, die gegen die Beschimpfung der Elsässer durch einen Leutnant der Garnison protestiert hatten. Der Regimentskommandeur Oberst von Reuter ließ die Demonstrationen der Bevölkerung mit Waffengewalt auseinanderjagen und Verhaftungen vornehmen. Diese Vorgänge lösten in ganz Deutschland, selbst bei Teilen des Bürgertums, einen Entrüstungssturm gegen die Militärkamarilla aus, und der Reichstag mißbilligte nach heftigen Debatten mit 293 gegen 54 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen die Stellung der Regierung, die die Vorgänge zu bagatellisieren versuchte. Oberst von Reuter, gegen den vom 5. bis 8. Januar 1914 vor einem Kriegsgericht in Straßburg verhandelt wurde, wurde von aller Schuld freigesprochen und im Januar 1914 vom deutschen Kaiser demonstrativ mit einem Orden dekoriert.
7. Im Jahre 1913 hatten die herrschenden Kreise in Deutschland die Jahrhundertfeiern der Befreiung Deutschlands vom napoleonischen Joch sowie das 25jährige Regierungsjubiläum Wilhelms II. zu einer verstärkten nationalistischen, chauvinistischen und militaristischen Propaganda in Vorbereitung eines Krieges ausgenutzt. Letzteres wurde im Juni 1913 mit großen Feiern monarchistisch-militaristischen Charakters begangen.
9. Am 14. Dezember 1902 waren im Reichstag eine neues Zollgesetz und neue Zolltarife beschlossen worden, durch die die Agrar- und einige Industriezölle wesentlich erhöht wurden. Die Sozialdemokraten, die mit allen parlamentarischen Mitteln und unterstützt durch eine breite Protestbewegung in ganz Deutschland gegen den Zollwucher gekämpft hatten, wurden durch wiederholten Bruch der Geschäftsordnung des Reichstags bei ihrem Auftreten im Plenum behindert. die neuen Zolltarife traten am 1. März 1906 in Kraft und brachten der Mehrheit der Bevölkerung eine erhebliche Verschlechterung ihrer Lebenslage.
10. Im Jahre 1900 hatten die deutschen Imperialisten die Ermordung des deutschen Gesandten in Peking während des Aufstandes der Ihotuan zum Anlaß genommen, um durch die Entsendung eines Expeditionskorps nach China ihr Vordringen in Ostasien zu sichern. Zusammen mit Truppen anderer imperialistischen Mächte schlugen die deutschen Interventionstruppen die chinesische nationale Befreieungsbewegung grausam nieder.
Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012