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Arbeiterstimme. Organ für das arbeitende Volk des Kreises Solingen, 25. September 1914.
Abgedruckt in Peter Friedemann (Hrsgb.): Materialien zum politischen Richtungsstreit in der deutschen Sozialdemokratie 1890–1917, Bd. 2, Frankfurt/M, 1978, S. 849–53.
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Schon der Vater der Nationalökonomie, Adam Smith, hat vor bald 140 Jahren gesagt: Im Kampf mit den Arbeitern haben die „Meister“, d. h. die Unternehmer, stets den Vorteil, daß der Zusammenschluß unter ihnen ein viel leichter ist, als unter den Arbeitern. Heute wird das Wort in einer Weise bestätigt, wie der alte Adam es sich nicht hat träumen lassen. Denn auf keinem Gebiet tritt das zweierlei Maß, womit Kapital und Arbeit, Ausbeuter und Ausgebeutete im heutigen Staat gemessen werden, so offen zutage, wie in der Behandlung des Rechts auf Organisation. Während das Koalitionsrecht der Arbeiter jetzt durch alle gesetzlichen, gerichtlichen und polizeilichen Schikanen zertrümmert wird, türmen sich die vielfachen Organisationen des Unternehmertums immer höher und trotziger übereinander. Während der Staat den freien Gewerkschaften nur die geballte Faust entgegenhält, hat er alle Hände voll zu tun, um den kapitalistischen Verbänden Wege zu ebnen, sie mit gesetzlichen Garantien zu umgeben, sie wie ein verhätscheltes Kind zu hegen und zu pflegen.
Wie schön haben es da die „Meister“ der Ausbeutung, wenn sie ihre Macht und ihren Druck auf den Staat zusammenballen wollen! Wie viele Arten und Möglichkeiten der Organisation sind ihnen da offen!
Wollen sie der Regierung und Gesetzgebung ihre Wünsche diktieren – dazu stehen ihnen vor allem die Handelskammern zur Verfügung. Hier hat Vater Staat sogar vor liebevoller Sorge für seine kapitalkräftigen Kinder den Organisationszwang eingeführt. Alle im Handelsregister eingetragenen Personen und Gesellschaften sind verpflichtet, den Handelskammern Beiträge zu leisten, und diese sind nach dem Gesetz verpflichtet, „den Staatsbehörden ihre Wahrnehmungen über den Gang des Handels, des Manufaktur-Gewerbes und der Schiffahrt und ihre Ansichten über die Mittel zur Beförderung der einen und der anderen darzulegen“ Wie sehr diese scheinbar so friedfertigen, rein wirtschaftlichen Gebilde, wenn es dem Kapital gerade so paßt, ungeniert und munter in Politik machen, zeigte sich schon in den 60er und 70er Jahren. Wurden doch die Handelskammern wie auch ihr von David Hansemann gegründetes Zentralorgan, der Deutsche Handelstag, damals zu den Hauptherden der heftigsten freihändlerischen Agitation, solange diese in die Bismarckschen Pläne paßte.
Wollen die Unternehmer daneben ihre engeren oder lokalen wirtschaftspolitischen oder technischen Interessen wahrnehmen, dann leisten ihnen mannigfache freie Vereine die erforderlichen Dienste. Die Eisengießereien bilden einen für sich, die rheinisch-westfälischen Spinner einen anderen, die Textilveredelungsindustrie ist in ihrem Verein zusammengeschlossen, die Brauereien haben ihre „Brausteuergemeinschaft“, in der Montanindustrie wimmelt es von solchen lokalen und Branchenvereinen. Hier werden Wunschzettel an den Staat ausgearbeitet: über wirtschaftliche Gesetzgebung, über Verkehrsmittel, Eisenbahntarife, öffentliche Dienste, alles zu Nutz und Frommen des Kapitals. Wenn das Kapital es braucht, werden Flüsse durch industrielle Abwässer vergiftet, Stadtteile in stinkende Pestherde verwandelt. Wenn aber die organisierte Kapitalmacht winkt, werden Kanäle gebaut, Eisenbahnen durchgeführt, Villenviertel errichtet, die in Luft, Sonne und lachendem Grün baden.
Wollen sich die Unternehmer gegen das konsumierende Publikum verschwören, so greifen sie zum Mittel der Kartelle, von dem losen „Konditionskartell“ und der „Preiskonvention#8220; der Textilkrösusse bis zum regelrechten Trust der Elektrizitätsmagnaten. Hier werden Tausende Mittel und Wege ersonnen, um die Masse der Konsumenten zu prellen, dem lieben Vaterland das Fell über die Ohren zu ziehen, während das Ausland zu Schleuderpreisen bedient wird. Hier wird Wegelagererpolitik und zynischer Terror gegen andere Interessengruppen betrieben wie jüngst im Krieg zwischen den Tuchfabrikanten und den Tuchabnehmern. Hier werden Scharfmacherpraktiken gegen die Arbeiter ausgeheckt, wie 1909 der Boykott des Stahlwerkverbandes gegen die Baufirmen, die sich an der großen Aussperrung nicht beteiligen wollen. Hier wird im geheimen mit den schäbigsten Tricks der Tascheninteressenten gearbeitet, die sich über die staatliche Kontrolle ins Fäustchen lachen und mit der Öffentlichkeit Schindluder treiben.
Wieder in einer anderen Form sind dieselben Potentaten der Industrie in allgemeinen Unternehmerverbänden zusammengeschlossen, wie der Zentralverband der schweren Industrie, der Bund der Industriellen für die leichte Industrie und der von den Großbanken gegründete Handelsvertragsverein. Nachdem sie sich erst eine Zeitlang heftig befehdet hatten, fanden sie sich wieder alle in einer idealen „Interessengemeinschaft“ zusammen – in den Treibereien und dem Druck auf Ministerien, Presse und Gesetzgebung, zu dem edlen Doppelzweck: Hochschutzzoll und Scharfmacherei.
Endlich direkt als Kriegsorganisationen gegen die Arbeiter, sind dieselben Unternehmerkreise noch in den besonderen Arbeitgeberverbänden zusammengeschlossen, wo schwarze Listen Arbeitsnachweise für lammfromme Kapitalsklaven, Einführung der Streikklausel, Lohndruck, Aussperrungen die offen ausgesprochenen Zwecke bilden. Erst im vergangenen Jahr haben sich die beiden Reichszentralen dieser Verbände zu einer gewaltigen Macht verschmolzen, und auch der neuentstandene Dresdener Verband wird sicher alsbald in dem größeren Zentrum der Scharfmacherei aufgehen. Hier werden vor den Augen der Öffentlichkeit und unter den schützenden Flügeln des Gesetzes Komplotte gegen die Arbeiter angezettelt, Waffen gegen die ums Brot Kämpfenden geschliffen, Massenelend, Krankheit und vorzeitiger Tod für Tausende planmäßig gezüchtet. Hier werden Attentate gegen das Eigentum geschmiedet – gegen das einzige rechtmäßige Eigentum: den aus eigener harter Arbeit herrührenden Lohn des Proletariers.
Ein und derselbe Industriemagnat ist so fünffach, sechsfach organisiert, übt mit allen Mitteln den stärksten Druck auf die Staatsmaschinerie aus, greift die Arbeiterschaft in der Front und in der Flanke an, schwingt alle Waffen und verschanzt sich selbst hinter eine vielfache Mauer der Gesetzlichkeit.
Blicken wir auf die Landwirtschaft, so bietet sich dasselbe Bild dar. Analog zu den Handelskammern bestehen da vor allem die Landwirtschaftskammern. Und wieder übt hier der Staat liebevoll auf die Junker zu ihrem eigenen Wohl den Zwang zur Organisation aus, macht jedem „Notleidenden“, der eine selbständige „Ackernahrung“ besitzt, den Zusammenschluß und das Äußere der Wünsche über die eigene „Notlage“ zur Pflicht. Und auch hier tummeln sich außerdem munter allerlei freie Vereine, die namentlich im Landwirtschaftsrat eine machtvolle Spitze haben. Hier erscheint der Kaiser, um vor seinen getreuen Vasallen und unter ihrem jubelnden Chor Trutzreden zu halten. Hier machen preußische Minister ihre gehorsame Aufwartung, hier werden Hungerzölle dem Volke zudiktiert. Dieselben Junker finden sich wieder in der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft zusammen, um durch allerlei technische Unternehmungen, Ausstellungswesen und dergl. die Staatsorgane für ihre Tascheninteressen dienstbar zu machen. Dieselben Junker sind in feste Spezialverbände zusammengeschlossen, die Ritter von der Runkelrübe für sich, die von der Stärke, vom Spiritus, von der Bullenzucht nicht minder – und alle sie sind eifrig daran, mit Hilfe der Behörden auf Kosten des Publikums ihre patriotischen Taschen zu füllen.
Wollen endlich die Handwerker und Kleingewerbetreibenden gegen die bestehende Verfassung konspirieren, auf die Gewerbefreiheit Attentate planen, auf Kosten der Allgemeinheit und entgegen dem wirtschaftlichen Fortschritt für ihre verwirkte Existenz künstliche Hilfsmittel erlangen – ihnen stehen der Handwerkerbund, der Zentralausschuß, der Verband der Gewerbevereine, die Innungen, endlich die Zwangsorganisationen der Handwerkskammern zur Verfügung.
So rückt, wohin wir blicken, alles Ausbeutertum der Arbeiterschaft straff organisiert entgegen, und jeder Tag richtet neue Bollwerke auf, führt den Zusammenschluß der alten strenger durch. Es ist dies ein ganzes dichtmaschiges Netz mit Kreuz- und Querfäden, vielfältig verknotet. Und all das System des organisierten Ausbeutertums läuft auf das eine Endziel hinaus: die Ausbeutung zu steigern, die Arbeiterklasse niederzuringen auf jedem Gebiet, in jeder Weise, mit jeglicher Waffe. Hier liegen auf Schritt und Tritt Politik und Wirtschaft, Legalität und flagranter Gesetzesbruch, Öffentlichkeit und lichtscheues verbrecherisches Treiben so eng beieinander, wie im Wesen der kapitalistischen Ausbeutung überhaupt.
Und all das unter dem milden Auge des Staates. Dem organisierten Räuberhandwerk des kapitalistischen Besitzes scheint die Sonne der Gesetzlichkeit, vor ihm verneigen sich Regierung, Reichstag, Landtag und Gemeinderäte, ihm eilen alle Behörden vom Reichskanzler und Reichsgericht bis zum klobigen Schutzmann und Krähwinkler Schöffengericht herab dienstbeflissen zu Befehl.
Und derselbe Staat verweigert hartnäckig das Recht auf jegliche Schutzorganisation, den Landarbeitern, dem Gesinde wie den Staatsangestellten! Derselbe Staat sucht jetzt durch Nücken und Tücken einer infamen Gerichts- und Polizeipraxis, durch die schleichende Niedertracht gesetzlicher Kautschukparagraphen auch dem Industrieproletariat das Koalitionsrecht zu entreißen! Selbst bis an die Zähne bewaffnet, wie mittelalterliche Raubritter vom Scheitel bis zur Zehe in eiserne Panzer gehüllt, wollen die Ausbeuter ihre Opfer völlig entwaffnen, ganz wehrlos machen, um ihnen ohne Mühe das Knie auf die Brust zu drücken! Hier haben wir ein Bild des heutigen Klassenstaates in seiner ganzen brutalen Infamie. Und deshalb predigt der jetzige Kreuzzug gegen das Koalitionsrecht nicht bloß den Arbeitermassen die Notwendigkeit, ihr Recht auf Organisation mit Zähnen und mit Nägeln zu verteidigen. Er verkündet auch noch jedem Proletarier, dessen Seele nicht abgestorben ist, mit Donnerwort die gebieterische Pflicht, gegen diesen Klassenstaat selbst den großen Kampf begeistert mitzukämpfen, dessen Führung die geschichtliche Aufgabe seiner Klasse ist. Er verkündet die dringende Notwendigkeit, für den Sozialismus zu kämpfen und damit für die Ausrottung einer niederträchtigen Gesellschaftsordnung, die für eine Handvoll Parasiten des Volkes die weichen Arme einer liebenden Mutter hat, während sie die fronenden Massen mit Skorpionen züchtigt.
Zuletzt aktualisiert am 15.1.2012