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Klassenkampf gegen den Krieg! Material zum „Fall Liebknecht“.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4 (6. überarbeitete Auflage), Berlin 2000, S. 18-19.
Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Bd. VIII, Berlin 1972, S. 69-71.
Mit freundlicher Genehmigung des Karl Dietz Verlag Berlin.
Transkription: R. Kuli.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
An die
Redaktion des Labour Leader
London
Werte Genossen!
Mit Freude und mit tiefem Schmerz zugleich muß jeder deutsche Sozialdemokrat, der in seiner Gesinnung der proletarischen Internationale treu geblieben ist, die Gelegenheit ergreifen, um den Genossen im Auslande einen sozialistischen Brudergruß zu senden. Unter den mörderischen Schlägen des imperialistischen Weltkrieges ist unser Stolz und unsere Hoffnung, die Internationale der Arbeiterklasse, schmachvoll zusammengebrochen und am schmachvollsten allerdings unsere deutsche Sektion der Internationale, die an der Spitze des Weltproletariats zu marschieren berufen war. Es ist nötig, diese bittere Wahrheit auszusprechen, nicht um sich einer fruchtlosen Verzweiflung und Resignation zu ergeben, sondern im Gegenteil, um aus der rücksichtslosen Erkenntnis der begangenen Fehler und der vorhandenen Sachlage die verheißenden Lehren für die Zukunft zu schöpfen. Es wäre das Verhängnisvollste für die Zukunft des Sozialismus, wenn sich die Arbeiterparteien verschiedener Länder entschließen würden, die bürgerliche Theorie und Praxis völlig anzunehmen, wonach es als natürlich und unvermeidlich gelten soll, daß sich die Proletarier verschiedener Nationen im Kriege auf Kommando ihrer herrschenden Klassen gegenseitig die Gurgeln abschneiden, nach dem Krieg aber miteinander wieder brüderliche Umarmungen austauschen, wie wenn nichts geschehen wäre. Eine Internationale, die so bewußt ihren heutigen furchtbaren Verfall als normale Praxis auch für die Zukunft anerkennen und dennoch behaupten würde, daß sie existiert, wäre nur ein empörendes Zerrbild des Sozialismus, ein Produkt der Heuchelei, ganz wie die Diplomatie der bürgerlichen Staaten, ihre Allianzen und ihre Völkerrechtsverträge. Nein! Das furchtbare gegenseitige Gemetzel von Millionen Proletariern, dem wir jetzt mit Grausen beiwohnen, diese Orgien des mordenden Imperialismus, die unter den heuchlerischen Aushängeschildern des „Vaterlandes“, der „Kultur“, der „Freiheit“, des „Völkerrechts“ stattfinden, Länder und Städte verwüsten, die Kultur schänden, die Freiheit und das Völkerrecht zertreten, sie sind ein blanker Verrat am Sozialismus.
Aber der internationale Sozialismus wurzelt zu fest und zu tief in den heutigen Verhältnissen, als daß es bei diesem Zerfall bleiben könnte. Der Imperialismus und seine schrecklichen Lehren sorgen selbst dafür, daß die proletarische Internationale aus den Trümmern wieder aufersteht als die einzige Rettung der Menschheit von der Hölle einer verfallenden und historisch verwirkten Klassenherrschaft. Schon jetzt, nach wenigen Monaten des Krieges, verfliegt auch in Deutschland der chauvinistische Rausch bei den arbeitenden Massen, die von ihren Führern in der großen geschichtlichen Stunde im Stiche gelassen worden sind, die Besinnung kehrt zurück, und mit jedem Tag wächst die Zahl der Proletarier, denen das, was heute vorgeht, eine brennende Röte der Scham und des Zorns ins Gesicht treibt. Aus diesem Kriege werden die Volksmassen nur noch mit stürmischerem Drang unter unsere alte Fahne der sozialistischen Internationale zurückkehren, nicht um sie bei der nächsten imperialistischen Orgie wieder zu verraten, sondern um sie gegen die gesamte kapitalistische Welt, ihre verbrecherischen Ränke, ihre infamen Lügen und ihre elenden Phrasen vom „Vaterland“ und von der „Freiheit“ geschlossen zu verteidigen und auf den Trümmern des blutigen Imperialismus siegreich aufzupflanzen.
Mit den herzlichsten sozialistischen Brudergrüßen
Berlin-Südende,
im Dezember 1914
1. Redaktionelle Überschrift.
Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012