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Illegales Flugblatt des Spartakusbundes vom April 1916.
Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Zentrales Parteiarchiv, D.F. V/14.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4 (6. überarbeitete Auflage), Berlin 2000, S. 181–186.
Mit freundlicher Genehmigung des Karl Dietz Verlags.
Transkription: Oliver Fleig und Sozialistische Klassiker.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
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3. In der Internationale liegt der Schwerpunkt der Klassenorganisation des Proletariats. |
Parteigenossen und Genossinnen! Die Vorgänge im Reichstag am 24. März [3], die zur Ausscheidung von 18 Abgeordneten aus der offiziellen sozialdemokratischen Fraktion geführt haben, sind ein grelles Symptom für die Unhaltbarkeit der Politik, die von den Parteiinstanzen seit dem 4. August 1914 eingeschlagen worden ist. Man kann den Genossen Haase und Ledebour und ihren Freunden alles nachsagen, nur nicht Mangel an Langmut und Übermaß an Entschlossenheit, Schärfe und Konsequenz. Diese 18 Genossen hatten fast zwei Jahre lang geduldig das Joch der Fraktionsmehrheit ertragen. Sie ließen es zu, dass die Fraktion im Namen der deutschen Arbeiterklasse viermal für die Kriegskredite stimmte, ohne einen anderen Protest gegen diesen unerhörten Verrat am Sozialismus zu wagen als das Hinauslaufen aus dem Sitzungssaal, d.h. die eigne Ausschaltung in der Stunde der wichtigsten historischen Entscheidungen. Als sie sich endlich bei der vierzigsten Milliarde am 21. Dezember 1915 dazu aufrafften, im Reichstag gegen die Kredite zu stimmen, beeilten sie sich, ihrer Ablehnung eine begründende Erklärung zu geben, die im Hinweis auf die gesicherten Landesgrenzen Deutschlands eine Konzession an den grundsätzlichen Standpunkt der Mehrheit und einen Stoß gegen die internationale Solidarität mit den französischen, belgischen, russischen und serbischen Genossen darstellt. [4] Sie haben in der berühmten Baralong-Affäre [5] durch den Mund des Genossen Ledebour der Noskeschen Vergeltungspolitik grundsätzlich zugestimmt und darin sogar die Kriegshetzer um Oertel [6] befriedigt. Sie haben, dem Gebot und der Auffassung der Mehrheit gehorsam, bis jetzt nicht ein einziges Mal von der unschätzbaren Waffe der Kleinen Anfragen [7] Gebrauch gemacht, um den imperialistischen Regierungsblock zu beunruhigen, die öffentliche Meinung auf zupeitschen und die Arbeitermassen zum Kampfe aufzustacheln. Ja, sie haben sogar die Fraktionsmehrheit unterstützt, als sie gemeinsam mit den bürgerlichen Parteien Karl Liebknecht die Waffe der Kleinen Anfragen aus der Hand schlagen wollte. Sie haben endlich ruhig geduldet, als Karl Liebknecht und mit ihm Otto Rühle genau in derselben Weise aus der Fraktion hinausgedrängt worden waren wie jetzt Haase und Ledebour und Genossen; sie blieben trotzdem ruhig weiter in der offiziellen Fraktion, ohne sich mit Liebknecht und Rühle zu solidarisieren. Und noch in der letzten Stunde haben sie in den Losen Blättern [8] in der für den Kampf um den Frieden hochwichtigen Steuerfrage ein Programm aufgestellt, das mit demjenigen der Fraktionsmehrheit grundsätzlich übereinstimmt: statt der Regierung des Belagerungszustands und des Völkermordes jede Steuer grundsätzlich zu verweigern, wollen sie Arm in Arm mit der Fraktionsmehrheit direkte Steuern bewilligen!
Die 18 Genossen hatten also während bald zwei Jahren und bis zuletzt im Schoße der Fraktion wahrlich im eigentlichen Sinne nicht eine Opposition, sondern bloß den Schatten einer Opposition gebildet! Und was zeigt sich heute? Es zeigt sich, dass im Schoße der sogenannten sozialdemokratischen Fraktion nicht einmal für die schüchternste, zaghafteste, blasseste Opposition, nicht einmal für den Schatten einer Opposition Platz ist! Die eherne Logik der Dinge erteilt hier den Genossen eine herbe Lektion, aus der zu lernen dringende Pflicht ist für jeden denkenden Arbeiter. Die Vorgänge des 24. März zeigen, dass Bescheidenheit, Duldsamkeit, Langmut, Fügsamkeit den Parteiverrätern gegenüber zu gar nichts anderem führt als zur Verschleppung und Verzögerung des Gesundungsprozesses der Partei. Die achtzehn um Haase und Ledebour, die sich aus Angst vor den demagogischen Schlagworten Disziplin und Einigkeit selbst zwei Jahre lang zu einem Schattendasein voller Widersprüche und Zweideutigkeiten verurteilt hatten, sind doch schließlich genau in dieselbe Lage geraten, in die Liebknecht durch konsequente und mannhafte Vertretung der Parteigrundsätze schon viel früher gekommen ist. Alles Abrücken von Liebknecht, alles Zurückweichen vor Entscheidungen hat sie schließlich nicht bewahrt vor der Alternative: entweder mit den Verrätern am Sozialismus und an der Internationale zu Mitschuldigen des Verrats zu werden oder sich von der Diktatur der Verräter frei zu machen, um sich wenigstens die Möglichkeit zu verschaffen, sozialdemokratische Politik zu treiben, Arbeiterinteressen zu vertreten. Um diese Wahl, um dieses erbarmungslose Entweder-Oder den offiziellen Parteiinstanzen gegenüber kommt niemand herum, der die Partei und den Sozialismus aus der jetzigen Schmach retten will. Der 24. März, die Bildung der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft ist von hier aus betrachtet der Bankrott der kleinen Schritte und der Politik des Ausweichens vor Entscheidungen, der Politik der Schwächlichkeiten, Halbheiten und Konzessionen an die Rechte. Der 24. März hat faustdick bewiesen, dass diese Politik weder Spaltungen noch öffentliche, scharfe Auseinandersetzungen im Schoße der Partei verhütet. Dieselbe Trennung von dem sozialimperialistischen Klüngel der Fraktion wäre schon viel früher unvermeidlich gewesen, wenn Haase und Ledebour eine konsequente, grundsätzliche Opposition gegen die Parteiverräter gewagt hätten. Hätten alle, die sich Opposition nennen, von Anfang an rücksichtslos und konsequent gehandelt, dann wäre der schmerzhafte Prozess der Gesundung der Partei um ein beträchtliches abgekürzt, die Aufklärung und Sammlung der proletarischen Massen erleichtert, der internationale Zusammenschluss der Sozialdemokratie und damit die Beendigung des Völkermordes beschleunigt worden.
Parteigenossen und Genossinnen! Es ist das oberste Gebot der Pflicht gegenüber unseren historischen Aufgaben, wenigstens aus den eigenen Fehlern zu lernen. Der ungeheure Jammer, den der ruchlose Krieg aufhäuft, der moralische Zusammenbruch der Partei und der Internationale, die uns das Höchste waren, all dies sollte wenigstens den einen Gewinn erzeugen: dass die Massen der aufgeklärten Arbeiterschaft lernen, ihre Geschicke in die eigene Hand zu nehmen, ihre Führer in die Bahnen des revolutionären Klassenkampf s zu zwingen und voranzutreiben.
Die Erfahrungen der 18 Abgeordneten im Reichstag haben endgültig bewiesen, dass die Politik der Schwächlichkeiten und Halbheiten zu nichts führt, dass die Partei nur durch eine energische, grundsätzliche Politik gerettet werden kann. Seid auf der Hut, Genossinnen und Genossen, seid auf der Wacht, damit von nun an eure Interessen so wahrgenommen und vertreten werden, wie es ganzen Männern gebührt. Aus geduldigen Lämmern werden nicht in vierundzwanzig Stunden Löwen. Abgeordnete, die fast zwei Jahre lang den grundsätzlichen Grenzstrich zwischen sich und der verräterischen Fraktionsmehrheit nicht zu ziehen vermocht hatten, werden nicht durch die bloße Tatsache der Trennung von jener Mehrheit zu revolutionären Kämpfern. Die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft glaubt sich noch jetzt mehr vor der Rechten für ihr Dasein entschuldigen zu müssen, anstatt jene Rechte offen des Verrats an der Partei anzuklagen. Diese neue Fraktion scheint bestrebt zu sein, der Welt zu beweisen, dass sie kein Wässerlein in der Partei trüben will, statt zur sichtbaren Fahne der Rebellion gegen die Diktatur der verräterischen Parteiinstanzen zu werden. Genossen und Genossinnen, steift dieser zaghaften Minderheit den Rücken, treibt sie vorwärts! Stellt den Haase-Ledebour stets die Forderung:
Zugleich aber, Genossen und Genossinnen, auf zum Kampf auf der ganzen Linie gegen die Fraktionsmehrheit und den Parteivorstand, die nicht die leiseste Opposition gegen ihre Politik des Verrats am Sozialismus dulden wollen! Diese Fraktionsmehrheit und diese Vorstandsmehrheit sind heute nur noch Handlanger der bürgerlichen Imperialisten, nur noch eine Filiale der Heydebrand [9] und Genossen. Wie diese Kriegshetzer und ihre Regierung uns durch den Belagerungszustand mundtot machen wollen, um auf unserem Rücken ihre kapitalistischen Geschäfte zu besorgen so wollen die Scheidemann, Heine, David und Genossen ihre Mandat und ihre Ämter ausnutzen, um alle widerstrebenden Elemente, alle sozialistische Opposition innerhalb der Partei zu erdrosseln. Parteigenossen und -genossinnen! Die Partei, das sind nicht Funktionäre, Abgeordnete oder Redakteure, die Partei, das sind die Massen der organisierten Proletarier, das ist der Geist des sozialistischen Klassenkampfes. Die Partei seid ihr! Drum frisch ans Werk, um die Partei zurückzuerobern, die von einem Klüngel von Verrätern in hohen Ämtern zum Anhängsel des bürgerlichen Imperialismus gemacht worden ist. Lasst euch den Staatsstreich der Verräter vom 24. März nicht gefallen. Erklärt laut, dass ihr die Fraktionsmehrheit der David, Heine, Noske nicht mehr als sozialdemokratische Vertretung anerkennt, fordert laut von den Verrätern die Niederlegung ihrer verwirkten Mandate.
Hört auf, eure Parteigelder an diesen Parteivorstand abführen zu lassen, denn er gebraucht eure sauerverdienten Groschen zur Förderung einer Politik, zur Herausgabe von Schriften, die euch zum geduldigen Kanonenfutter des Imperialismus machen wollen, die zur Verlängern des Völkermordes dienen. Die Organisationen müssen sich entschließen die Parteigelder dem Parteivorstand der Scheidemann-Ebert zu sperren welche die Volksgroschen dem Moloch des Weltkrieges und der Regierung der Hungersnot und des Belagerungszustands bewilligen.
Der Belagerungszustand im Reich wie der Belagerungszustand in der Partei kann nur überwunden werden, wenn die aufgeklärten Massen der Proletarier und Proletarierinnen sich dazu aufraffen, ihren Willen tatkräftig kundzutun und durchzusetzen. Der 24. März hat bewiesen, dass unter der Diktatur der jetzigen Parteiinstanzen nicht die schwächste Regung einer sozialistischen Politik möglich ist. Er hat zugleich bewiesen, dass der Weg der Halbheiten und der Fügsamkeit jenen Instanzen gegenüber de längste und beschwerlichste Weg ist, an dessen Ende eine klare Scheidung und Entscheidung doch unvermeidlich wird. Zeigt, dass ihr wisst, was ihr wollt, und dass ihr entschlossen seid, euren Willen in Taten umzusetzen Die Organisation, die Disziplin – sie sollen dazu dienen, euren Willen den Willen der Massen, zur Tat zu schmieden, nicht dazu, euch zum Werkzeug des Willens einer kleinen Minderheit von Funktionären und Abgeordneten zu machen. Drum voran auf der ganzen Linie zu dem doppelten, doch einigen Ziel:
Zurückeroberung der Partei für den grundsätzlichen Klassenkampf!
Beendigung des Völkermords durch Wiederherstellung der proletarischen Internationale!
1. Illegales Flugblatt der Spartakusgruppe vom April 1916. – Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. In Spartakus im Kriege: Die illegalen Flugblätter des Spartakusbundes im Krieg, gesammelt und eingeleitet von Ernst Meyer, Berlin 1927, wird Rosa Luxemburg als Verfasserin genannt.
2. Siehe Rosa Luxemburgs Entwurf.
3. Im Reichstag hatten am 24. März 1916 außer Karl Liebknecht und Otto Rühle 18 zentristische Abgeordnete gegen den Notetat der Regierung gestimmt. In der folgenden Fraktionssitzung wurden die 18 Abgeordneten aus der sozialdemokratischen Fraktion ausgeschlossen. Sie bildeten daraufhin als „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“ eine eigene Reichstagsfraktion. Karl Liebknecht war schon am 12. Januar 1916 aus der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion ausgeschlossen worden, Otto Rühle aus Solidarität mit Liebknecht am 14. Januar aus der Fraktion ausgetreten.
4. Siehe den ersten Teil des Artikels Die Politik der sozialdemokratischen Minderheit in Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 172–175.
5. Der britische Hilfskreuzer Baralong hatte am 19. August ein deutsches U-Boot versenkt und die schiffbrüchige Besatzung getötet:
6. Ernst Georg Oertel war seit 1894 Chefredakteur des Organs der Landwirte Deutsche Tageszeitung und Abgeordneter der Deutschkonservativen Partei im Reichstag.
7. Das parlamentarische Mittel der Kleinen Anfragen war im Mai 1912 unter dem Druck sozialdemokratischer und linksbürgerlicher Abgeordneter in die Geschäftsordnung des Reichstages aufgenommen worden. Damit bekamen die Abgeordneten eine Handhabe, um kurzfristig von der Regierung Auskünfte über wichtige politische Fragen zu erlangen, ohne den umständlichen Weg über eine Interpellation gehen zu müssen, zu der die Unterschrift von 30 Abgeordneten erforderlich war. die Anfragen mußten schriftlich eingereicht werden; eine Besprechung der Antwort des Reichskanzlers oder seines Vertreters war nicht möglich. Die Kleinen Anfragen wurden während des Krieges von Karl Liebknecht zu einer wichtigen Form der revolutionären Ausnutzung des bürgerlichen Parlaments entwickelt.
8. Die Losen Blätter wurden von der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft herausgegeben und erschienen in zwangsloser Reihenfolge ab 18. März 1916 illegal in Berlin.
9. Ernst von Heydebrandt und der Lasa war von 1914 bis 1918 Vorsitzender der Deutschkonservativen Partei.
Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012