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Der Kampf (Duisburg), Nr. 31 vom 6. Januar 1917.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4 (6. überarbeitete Auflage), Berlin 2000, S. 232–236.
Mit freundlicher Genehmigung des Karl Dietz Verlag Berlin.
Diese Arbeit ist mit Gracchus, einem Pseudonym Rosa Luxemburgs, gezeichnet.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Seit dem 4. August 1914 hat in der deutschen Sozialdemokratie ein Prozeß der Zersetzung und des Zerfalls eingesetzt, der keinen Tag und keine Stunde ruht und der sich mit der ganzen Strenge und Folgerichtigkeit eines Naturprozesses vollzieht. Jeder neue Schritt auf der Bahn der imperialistischen Politik, jeder neue positive Vorstoß der herrschenden Gewalten zur Stärkung ihrer Machtposition, jede Zusammenberufung und jede Heimsendung des Reichstags im Dienste der herrschenden Politik, ja, einfach jeder weitere Tag der Fortdauer des Krieges stellen sich zugleich auf seiten der Sozialdemokratie als ebenso viele neue weitere Einstürze ihres Gebälks, Abrutsche ihres morschen Gemäuers dar. Jede neue Aktion des triumphierenden Imperialismus schaltet nämlich die Sozialdemokratie als Faktor der aktiven Politik immer weiter aus, vertilgt sie und löscht sie immer mehr als eine Partei mit besonderer Politik, als Organ der Klasseninteressen des Proletariats, vom öffentlichen Leben Deutschlands aus.
Wer diesen gewaltigen historischen Prozeß in seiner ganzen Breite und Tiefe überblickt, kann nur mit Achselzucken und mitleidigem Lächeln sowohl die geschäftigen Sorgen der Regierungssozialisten Scheidemann & Co. betrachten, die durch allerlei Kaufe und Schelmenstreiche ihre Herrschaft über die Gesamtpartei auf die Dauer zu begründen trachten, wie auch die ehrpusselige Entrüstung der sanften Opposition um Haase-Ledebour, wenn sie sich der „Spaltungstendenzen“ verdächtigt glaubt. Das ergötzliche Gezänk zwischen beiden Richtungen darüber, welche von ihnen die Partei eigentlich „spalten wolle“, und die eifrigen Bemühungen jeder von ihnen, ihrem Widerpart den ungeheuerlichen Frevel in die Schuhe zu schieben, ist an sich ein niedlicher Beitrag zu der Tatsache, wie sehr im Grunde genommen die ganze Auffassung von den Grundbedingungen der Parteiexistenz bei der Rechten und beim Sumpfe aus gleichem Holze geschnitten ist. Vereine, Instanzen, Konferenzen, Generalversammlungen, Kassenbücher, Mitgliedsbücher, das ist „die Partei“ nach den Scheidemann-Genossen wie nach den Haase-Genossen. Die einen wie die andern merken nicht, daß sich Vereine, Instanzen, Mitgliedsbücher und Kassenbücher mit dem Augenblick in wertlosen Plunder verwandeln, in dem die Partei aufhört, die durch ihr Wesen bedingte Politik zu treiben. Die einen wie die andern merken nicht, daß ihr Gezänk um die Frage der Spaltung oder der Einigkeit der deutschen Sozialdemokratie deshalb ein Streit um des Kaisers Bart ist, denn die deutsche Sozialdemokratie existiert heute als Ganzes gar nicht mehr.
Stellen wir uns für einen Augenblick vor, daß in der Peterskirche in Rom, diesem ehrwürdigsten Tempel des christlichen Glaubens, diesem köstlichsten Denkmal der religiösen Kultur, eines schönen Morgens, die Feder sträubt sich fast, es niederzuschreiben, statt des katholischen Gottesdienstes vor aller Augen eine – nun, eine schamlose Orgie wie in einem öffentlichen Hause entfesselt wäre. Stellen wir uns noch Entsetzlicheres vor, denken wir uns, daß die Priester bei dieser Orgie ihre Talare, ihre Ornate, ihre Weihrauchgefäße beibehalten würden, die sie früher beim Hochamt gebraucht hatten. Wäre die Peterskirche alsdann doch noch eine Kirche, oder wäre sie ganz etwas anderes? Die schlanken Mauern würden freilich noch dieselben sein, die Altäre und die Meßgewänder wären die alten, aber voll Schaudern würde jeder nach einem Blick ins Innere zurückprallen und verstört fragen: Was ist in aller Welt aus der Kirche geworden?
Nun, eine Kirche ist ein Haus, in dem man zu Gott betet, und die Sozialdemokratie ist eine Partei, die proletarischen Klassenkampf führt. Mit dem offiziellen Aufgeben des Klassenkampfes ist die deutsche Sozialdemokratie mit der unwiderstehlichen Gewalt einer abstürzenden Lawine ihrem Zersetzungsprozeß anheimgefallen, und heute beherbergt ihr windschiefes Dach so weit auseinanderstrebende Tendenzen, so ihrem Wesen nach weltferne und todfeindliche Elemente wie Bourgeoisie und Proletariat, wie Imperialismus und Sozialismus, wie Klassenstaat und internationale Völkerverbrüderung.
Von hier aus ist der politische Plan in Westentaschenformat zu beurteilen, mit dem die sanfte Opposition der Mitte an diese in der Weltgeschichte nie dagewesene historische Situation herantritt. Der ganze Plan ist in einem Worte erschöpft und auch schon kritisiert: „Zurück!“ Sie wollen zurück zu den Zuständen, wie sie vor dem Ausbruch des Weltkrieges bestanden, sie wollen ihre deutsche Sozialdemokratie wiederhaben, wie sie bis zum 4. August 1914 war. Sie wollen zurück zu ihrer „alten bewährten Taktik“ mit den „glänzenden Siegen“ von Reichstagswahl zu Reichstagswahl, zu ihren siegreichen Schlachten mit dem „Revisionismus“ von Parteitag zu Parteitag, zu ihrer geduldigen Drehorgel der Agitation für die internationale Solidarität der Arbeit, zu ihren nach dem Taktstock arrangierten 47 „prächtig verlaufenen“ Massenversammlungen an einem Tag mit „einstimmig“ angenommenen dröhnenden Resolutionen und dem dreifachen Hoch auf die „internationale, revolutionäre, völkerbefreiende deutsche Sozialdemokratie“, zurück zu den „roten Wochen“, die im kleinen Herrgotts großes Wunder kopierten und in sieben Tagen zum frommen Staunen der Welt hundertundfünfzigtausend „Sozialdemokraten“ machten. Zurück, zurück zu den schönen Zeiten des bequemen holden Selbstbetrugs.
Stell auf den Tisch die duftenden Reseden. |
Aber der kleine Plan hat leider ein großes Loch: Die ehemalige deutsche Sozialdemokratie, wie sie „einst im Mai“ war, existiert nicht mehr, es gibt nur eine, wie sie im August geworden. Jene ehemalige deutsche Sozialdemokratie mit ihrer „altbewährten Taktik“ ruht unter den zermalmenden Rädern des imperialistischen Triumphwagens. Die Sehnsucht des Sumpfes, zurück zu der Partei, wie sie vor dem Weltkriege war, ist eine der kindlichsten Utopien, die der furchtbare Krieg geboren, und nur eines kommt ihr an Kindlichkeit annähernd gleich: Es ist die ergreifende politische Einfalt, mit der die Führer des Sumpfes, die Haase, Ledebour, Dittmann, vermeinen, die alte ruhmreiche Sozialdemokratie, die sie erst zu verscharren mitgeholfen und auf deren Grabe sie anderthalb Jahre lang selbst mitgetanzt hatten, nunmehr in der Weise von den Toten aufzuerwecken, daß sie sich mitten im heutigen Weltkrieg, „treu der alten bewährten Taktik“, wieder genauso gebärden wie vor dem Kriege und genau die gleichen Reichstagsreden schmettern wie Anno Tobak, als wäre nichts geschehen.
Indessen sich heute auf dem Vorderplan der Partei dieses unschuldige Satyrspiel einer rückwärtsgewendeten Opposition abspielt, die deshalb dem Ansturm der Gegenwart nur die weicheren Rückenteile bietet, vollzieht sich im Innern der Partei ein Vorgang von weltgeschichtlicher Tragik: Es ist die tödliche Umklammerung der Elitetruppen des deutschen Proletariats durch die Polypenarme des deutschen Kapitals. Die Herrschaft der Partei- und Gewerkschaftsinstanzen, der Scheidemann. und Genossen wie der Legien und Genossen, über die organisierte Arbeiterschaft, das ist im Kern nichts anderes als der gewaltigste Sieg der deutschen Bourgeoisie über die Arbeiterklasse, der je erfochten oder nur erträumt worden ist. Die zum Kampfe wider das Kapital unter die Fahnen der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften gelockten Massen sind heute gerade durch diese Organisationen und in diesen Organisationen unter das Joch der Bourgeoisie in einer Weise gespannt worden, wie sie es nie seit Beginn des modernen Kapitalsverhältnisses waren.
Und daraus ergibt sich auch für diejenigen ein bündiger Schluß zur Frage von „Spaltung und Einheit“ der Partei, die nicht rückwärts, sondern vorwärts aus dem Zusammenbruch der Arbeiterbewegung streben. So löblich und begreiflich die Ungeduld und der bittere Groll sind, aus denen heraus sich heute die Flucht vieler der besten Elemente aus der Partei ergibt: Flucht bleibt Flucht, uns ist sie ein Verrat an den Massen, die in der würgenden Schlinge der Scheidemann und Legien, der Bourgeoisie auf Gnade und Ungnade preisgegeben, zappeln und ersticken. Aus kleinen Sekten und Konventikeln kann man „austreten“, wenn sie einem nicht mehr passen, um neue Sekten und Konventikel zu gründen. Es ist nichts als unreife Phantasie, die gesamte Masse der Proletarier aus diesem schwersten und gefährlichsten Joch der Bourgeoisie durch einfachen „Austritt“ befreien zu wollen und ihr auf diesem Wege mit tapferem Beispiel voranzugehen. Das Hinwerfen des Mitgliedsbuchs als Befreiungsillusion ist nur die auf den Kopf gestellte Verhimmelung des Mitgliedsbuchs als Machtillusion, beides nur die verschiedenen Pole des Organisationskretinismus, dieser konstitutionellen Krankheit der alten deutschen Sozialdemokratie. Der Zerfall der deutschen Sozialdemokratie ist ein geschichtlicher Prozeß größter Dimensionen, eine Generalauseinandersetzung zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie, und von diesem Schlachtfeld drückt man sich nicht vor Ekel auf die Seite, um im Winkel unter dem Busch reinere Luft zu atmen. Diesen Riesenkampf gilt es auszufechten bis zum Äußersten. An der tödlichen Schlinge der offiziellen deutschen Sozialdemokratie und der offiziellen freien Gewerkschaften, die die herrschende Klasse um den Hals der verirrten und verratenen Massen gelegt hat, gilt es zu zerren mit vereinten Kräften, bis sie zerreißt, und den betörten Massen gilt es in diesem schwersten Kampfe um ihre Befreiung beizustehen, sie treu mit der Brust zu verteidigen. Die Liquidierung des „Haufens organisierter Verwesung“, der sich heute deutsche Sozialdemokratie nennt, ist nicht als Privatangelegenheit in den Entschluß einzelner oder vereinzelter Gruppen gegeben. Sie wird sich als unvermeidlicher Nachtrag dem Weltkriege anschließen und muß als große öffentliche Machtfrage unter Aufbietung aller Kräfte ausgefochten werden. Die entscheidenden Würfel des Klassenkampfes in Deutschland werden für Jahrzehnte in dieser Generalauseinandersetzung mit den Instanzen der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften fallen, und da gilt für jeden von uns bis zum letzten: „Hier steh’ ich, ich kann nicht anders!“
Zuletzt aktualisiert am 15.1.2012