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Zuerst veröffentlicht in Spartacus, Nr. 4, April 1917. [1]
Später in Spartacusbriefe, Berlin 1958, S. 305-10.
Nach Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd.4, Karl Dietz Verlag, Berlin 2000, S.246-51.
Mit freundlicher Genehmigung des Karl Dietz Verlag Berlin.
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Für jede sozialistische Partei und Richtung ist es heutzutage der wichtigste politische Prüfstein, wie sie sich zu der Friedensfrage stellt. Entscheidend ist dabei selbstverständlich nicht der Wunsch nach Frieden an sich. Dieser ist vielmehr nur eine allgemeine vage Formel, hinter der sich sämtliche Schattierungen der bürgerlichen wie der proletarischen Politik verbergen können. Alles kommt auf die politischen Methoden an, durch die man den Frieden herbeiführen will, und für Sozialisten – auf die Rolle, die man dem Proletariat dabei zuweist. Was ist nun in diesen entscheidenden Punkten die Friedenspolitik der Opposition, die sich um die Arbeitsgemeinschaft schart?
Wenn es nach allem, was wir seit Jahr und Tag im Parlament und außerhalb desselben erlebt haben, eines neuen dokumentarischen Beweises bedurft hätte, um die politische Impotenz, Ratlosigkeit und Hoffnungslosigkeit dieser sogenannten Opposition auf flacher Hand darzutun, so hat ihr offizielles Friedensmanifest [2] aus der Feder Kautskys ein solches Dokument in klassischer Weise geliefert.
„Was die Opposition forderte, war die Bereitschaft zu einem Frieden, in dem es weder Sieger noch Besiegte gibt, zu einem Frieden der Verständigung ohne Vergewaltigung.“ Hier haben wir den Angelpunkt des Manifests. „Ein Friede der Verständigung!“ Diese „Verständigung“ ist in der Tat das Hauptprodukt der Kautskyschen Denkarbeit, das er schon seit langem anpreist, seit er sich von seinem Umfall beim Ausbruch des Krieges wieder glücklich auf die „mittlere Linie“ hinaufgekrabbelt hat. „Verständigt euch! Verständigt euch!“ ruft mit Kautsky die Arbeitsgemeinschaft den kriegführenden Mächten zu, genau wie ein friedliebender kleiner Spießer seine sich zankenden Hausnachbarn zur Vernunft ermahnt. Aber was heißt eine „Verständigung“ im heutigen Weltkrieg? Das ist doch nichts anderes als die „Verständigung“ zwischen Bethmann, Lloyd George, Sasonow oder Miljukow und Ribot über die politische Konstituierung Europas für das nächste Jahrzehnt. Das heißt also derselben bürgerlichen Geheimdiplomatie, derselben Schwarzkunst der Kabinette die Hefte überlassen, der man in so zahllosen Resolutionen, Artikeln und Reden das tiefste Misstrauen ausgesprochen, die Schuld am heutigen Kriege beigemessen, deren gänzliche Abschaffung man gefordert hat! Und um eine solche „Verständigung“ reißen sich „oppositionelle“ Sozialdemokraten, eine solche „Verständigung“ rufen sie herbei und weisen sie dem Proletariat als das Ziel seiner Friedenspolitik! Das Ideal der Haase, Ledebour, Kautsky ist dabei nur, dass es „ohne Vergewaltigung“ zugehe, dass es „keine Sieger und Besiegten“ gebe. Aber „Sieger und Besiegte“ bedeuten in der politischen Sprache der Haase-Ledebour dasselbe, was im Jargon der Deutschen Tageszeitung und der Militaristen: siegreiche und besiegte Regierungen. Dass das Proletariat als Klasse, dass der Sozialismus als Politik auf jeden Fall als der Besiegte und das Kapital als der Sieger aus dem Kriege hervorgeht, falls die bürgerliche Diplomatie den Frieden macht, falls das internationale und vor allem das deutsche Proletariat sich nicht aus seiner furchtbaren heutigen Niederlage aufrafft, um durch eine revolutionäre Klassenaktion den Frieden zu erzwingen und zu gestalten; dass jede „Verständigung“ der bürgerlichen Regierungen eine Verschwörung gegen das europäische Proletariat ist; dass bei vollkommenem Status quo der staatlichen Grenzen die innerpolitische wie die internationale Situation, die Klassenverhältnisse der Gesellschaft gänzlich umgewälzt werden nach diesem Kriege – das alles haben die weitblickenden Politiker unter der Führung ihres tiefen Theoretikers nicht bemerkt. Ihre einzige Sorge ist heute, dass kein nationaler Trupp des Imperialismus entscheidend über die andern siegt; ihnen genügt die „Verständigung“ der Imperialisten auf der Leiche des internationalen Sozialismus und die Rückkehr zur politischen Situation, wie sie vor dem Kriege war. Sie sehnen sich nach dem politischen Status quo Europas zurück und begreifen nicht, dass es dieser Status quo eben war, der den unerhörten Aufschwung des Imperialismus ermöglicht und den Ausbruch des Weltkrieges herbeigeführt hat.
Es fragt sich nur, was das Proletariat bei der famosen „Verständigung“ der europäischen Kabinette zu tun hat, was seine aktive Politik sein soll? Ei, die ist beileibe nicht vergessen! „Wir halten dafür, dass in allen kriegführenden Ländern für die sozialistischen Parteien die Zeit gekommen ist, von ihren Regierungen eindringlich die genaue Mitteilung der Ziele zu fordern, für die sie den Krieg führen“, und ferner zu „fordern“, dass diese Ziele für keines der betreffenden Völker eine Demütigung oder Schädigung bedeuten. Ist es nun nicht klar, dass wir dringend der Auferstehung der sozialistischen Internationale von den Toten bedürfen? Ist es nicht klar, dass sie eine höchst wichtige Mission zu vollbringen hat? Man bedenke: Seit bald drei Jahren liegt die Internationale unter den Hufen des dahinrasenden Imperialismus. Die Imperialisten entfesseln hüben wie drüben die Kriegsfurie bis zum äußersten, die Orgie wird offenbar schließlich nur an innerer Erschöpfung ein Ende finden, um einer neuen Periode der Vorbereitung zum nächsten Tanz Platz zu machen. Und just in diesem Moment ist für die proletarische Internationale „die Zeit gekommen“, sich wieder aufzuraffen, um – was zu tun? Um die Imperialisten hüben wie drüben zu bestürmen um die Mitteilung ihrer Kriegsziele! Nun sagt doch schon, sagt endlich, was ihr eigentlich wollt, was euer Begehren, ihr Herren Diplomaten! Tut doch endlich den Mund auf, lasst hören, Herr von Bethmann – Sie, Mister Lloyd George – Sie, Monsieur Ribot! So redet doch um Himmels willen, dann werden wir sehen, wie sich eure Wünsche miteinander ins gleiche bringen lassen! Dies ist die Aufgabe der sozialistischen Internationale beim Friedensschluss, das ist selbständige proletarische Klassenpolitik, das ist Ausführung der Stuttgarter Kongressresolutionen [3] über die Pflicht der Arbeiterparteien, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden! Die Internationale zum Pudel gemacht, der von einer imperialistischen Regierung zur anderen läuft, um ihnen erwartungsvoll in den Mund zu blicken – eine glattere und naivere Preisgabe des Sozialismus als selbständiger Politik in der Friedensfrage kann man sich kaum noch vorstellen. Und in der Tat, es ist ja genau dieselbe Rolle, die auch Scheidemann und sein Vorwärts während des Friedensbluffs der deutschen Regierung [4] der sozialistischen Internationale zuwiesen.
Ja freilich, freilich! Die sozialistischen Parteien sollen auch noch mehr tun: Sie sollen erstens, wie wir gesehen, „darüber wachen“, dass jene Wünsche der bürgerlichen Kabinette „keine Demütigung und keine Vergewaltigung“ irgendeines der Kriegführenden anstreben, d. h., die sozialistische Internationale soll als Schildwache des berühmten Status quo der europäischen Besitzverhältnisse auf dem Posten stehen – desselben Status quo, der seinerzeit ein Produkt und Ausdruck zahlloser „Vergewaltigungen und Demütigungen“ in Europa und in allen fünf Weltteilen war. Und zweitens soll die sozialistische Internationale vor allem fordern: „internationale Abkommen über die Entscheidung aller Konflikte zwischen den Staaten durch Schiedsgerichte und über eine allseitige Einschränkung der Kriegsrüstungen“.
Alle guten Geister loben Gott den Herrn! Nach fast drei Jahren eines imperialistischen Hexensabbats, dessen erste Geste schon zwei Tage vor dem offiziellen Kriegsausbruch in Belgien über alle „internationalen Abkommen“ der bürgerlichen Diplomatie hinwegstampfte, nach bald drei Jahren eines Krieges, der an jedem Tage mit einem neuen Fetzen dieser „Abkommen“ die Lafetten der Kanonen putzt, nachdem im Laufe des Krieges selbst das Wettrüsten wie ein Feuerbrand immer weiter und weiter um sich greift – in den Vereinigten Staaten, in sämtlichen, auch den kleinsten Staaten Europas -‚ nachdem auch die letzten Einfriedungen, die vor dem Wettrüsten sicher schienen, in Gestalt der neutralisierten Staaten wie Belgien und der Schweiz von diesem Kriege niedergerissen worden sind oder es im nächsten Augenblick werden können, nachdem die beispiellosesten, einander überstürzenden Umwälzungen der Kriegstechnik eine neue ungeahnte materielle Basis für uferlose Wettrüstungen schaffen, nachdem der Militarismus in Zwangsdienstgesetzen eben erst in allen Großstaaten eine Macht und absolute Herrschaft über die Gesellschaft erlangte, wie man davon noch kein Beispiel in der Weltgeschichte erlebt hat – nach alledem und alledem stehen die Kautsky, Haase, Ledebour auf, reiben sich den Schlaf aus den Augen und stammeln, genau nach Schema F, wie sie vor dem Kriege stammelten: „Ach so, Imperialismus, Weltkrieg, Militarismus! Nun – dann müssen wir eben internationale Abkommen über Schiedsgerichte und Abrüstung ‚fordern‘!“ – Da hört doch wahrhaft jeder Spaß auf, das grenzt schon einfach an politische Gehirnerweichung.
Eins von beiden. Entweder glauben diese Leute in vollem Ernst und unschuldigen Herzens an die Möglichkeit, den heutigen Imperialismus nach dem heutigen Weltkriege durch „Abkommen“ der bürgerlichen Diplomatie über Schiedsgerichte und Abrüstung fesseln und eindämmen zu können. Dann stehen ihre Geschichtsauffassung und ihre politische Reife unter dem Niveau des bürgerlichen Freisinns, dann sind sie eben nicht sehr ernst zu nehmen. Oder aber sie nehmen selbst ihre eigenen Phrasen nicht ernst und wiederholen sie nur aus Furcht vor den entschlossenen Konsequenzen, zu denen sie eine Absage an den elenden Phrasenplunder zwingen würde. Auf jeden Fall ist eins klar: Diese „Friedensaktion“ der „Arbeitsgemeinschaft“ ist nichts als eine buchstäbliche Kopie der famosen Friedensaktion des Präsidenten der Vereinigten Staaten. [5] Wilson mahnte auch zum Frieden. Wilson wollte auch „Verständigung“, Wilson forderte auch die Bekanntgabe der Kriegsziele, Wilson war auch gegen jede „Vergewaltigung“, Wilson drang auch auf „internationale Abkommen“ über Schiedsgerichte und Einschränkung der Rüstungen. Und auf Wilsons Aktion beruft sich eben das Manifest der Haase, Ledebour, Kautsky als auf das entscheidende Moment, das einen Vorstoß der proletarischen Internationale als „an der Zeit“ erscheinen lasse.
Hier erfolgt aber einer der gelungensten Witze der Weltgeschichte: Kaum hatte die „Arbeitsgemeinschaft“ eine sorgfältige Kopie des Friedensprogramms des amerikanischen Präsidenten ausgefertigt, als dieser, der eben den Mund zu einer dritten Friedensbotschaft aufgetan hatte, einen Moment schwieg und dann plötzlich erklärte: „Meine Herrschaften, ich habe mir’s überlegt: Ich mache nicht mehr Frieden, ich mache Krieg!“ [6] Der bürgerliche Pazifismus, an dessen Rockschöße sich die gemäßigte „Opposition“ geklammert hatte, ist wieder einmal derb auf die Erde geplumpst und mit ihm die Haase, Kautsky, Ledebour. Eine neue Verschärfung des Krieges, eine neue Ausdehnung der Rüstungen, eine neue Auflage des Massenmordes – und das gerade durch den Friedensapostel Wilson –‚ das sind die diplomatischen „Abrüstungsabkommen“ und internationalen „Schiedsgerichte“, auf die die Arbeitsgemeinschaft ihre Friedenspolitik als auf einen steinernen Felsen basiert!
Aber die verspätete Kopie der Wilsonschen Friedensbotschaft ist bei der Arbeitsgemeinschaft mehr als politische Impotenz: Sie ist – was die Kautsky, Haase, Ledebour offenbar gar nicht begreifen können – eine glatte Preisgabe des Sozialismus. Die sozialistische Friedenspolitik ist heute in den folgenden einfachen Worten enthalten: Ihr Arbeiter! Entweder machen die bürgerlichen Regierungen den Frieden, wie sie den Krieg machten, dann bleibt bei jedem Ausgang des Krieges der Imperialismus die beherrschende Macht, und dann geht es unvermeidlich immer weiter neuen Rüstungen, Kriegen und dem Ruin, der Reaktion, der Barbarei entgegen. Oder ihr rafft euch zu revolutionären Massenerhebungen auf, zum Kampf um die politische Macht, um euren Frieden nach außen und nach innen zu diktieren. Entweder Imperialismus und rascherer oder langsamerer Untergang der Gesellschaft oder Kampf um den Sozialismus als einzige Rettung. Etwas Drittes, etwas Mittleres gibt es nicht.
1. Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Laut Auskunft von Professor Dr. h.c. Rudolf Lindau, einem Mitbegründer der KPD, ist rosa Luxemburg die Verfasserin.
2. Auf der von der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft* einberufenen Reichskonferenz der Parteiopposition in Berlin am 7. Januar 1917 war ein von Karl Kautsky ausgearbeitetes Manifest für einen „allgemeinen Verständigungsfrieden“ gegen die Stimmen der Spartakusvertreter angenommen worden.
* Im Reichstag hatten am 24. März 1916 außer Karl Liebknecht und Otto Rühle 18 sozialdemokratische Abgeordnete gegen den Notetat der Regierung gestimmt. In der folgenden Fraktionssitzung wurden die 18 Abgeordneten aus der sozialdemokratischen Fraktion ausgeschlossen. Sie bildeten daraufhin als „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“ eine eigene Reichstagsfraktion. Karl Liebknecht war schon am 12. Januar 1916 aus der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion ausgeschlossen worden, Otto Rühle aus Solidarität mit Liebknecht am 14. Januar aus der Fraktion ausgetreten.
3. Der Internationale Sozialistenkongress in Stuttgart fand vom 18. bis 24. August 1907 statt.
4. Am 12. Dezember 1916 hatte die deutsche Regierung im Namen der Mittelmächte in einer Note den Ententestaaten Friedensverhandlungen vorgeschlagen, ohne auf die Bedingungen, unter denen Deutschland zum Frieden bereit wäre, einzugehen. Die Note sollte einem bevorstehenden Friedensappell des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson zuvorkommen und die Friedensfertigkeit der Imperialisten der Mittelmächte vortäuschen. Das „Friedensangebot“ wurde am 30. Dezember 1916 von den Ententestaaten abgelehnt.
5. Der Präsident der USA, Woodrow Wilson, hatte an alle kriegführenden Länder eine vom 18. Dezember datierte Note gerichtet, in der er sie aufforderte, die Bedingungen bekanntzugeben, unter denen sie bereit seien, in Friedensverhandlungen einzutreten.
6. Die USA traten mit der Kriegserklärung an Deutschland am 6. April 1917 auf seiten der Entente in den Weltkrieg ein. Der unmittelbare Anlass dafür war die Eröffnung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges durch Deutschland.*
* Deutschland eröffnete am 1. Februar 1917 den uneingeschränkten U-Boot-Krieg, durch den alle Schiffe in einem festgelegten Seegebiet um Großbritannien und Frankreich durch warnungslose Torpedierungen bedroht wurden.
Zuletzt aktualisiert am 15.1.2012