Rosa Luxemburg


Brennende Zeitfragen


IV
Die Alternative

Die Friedensaktion im Stockholmer Stil, die darin besteht, eine Verständigung zwischen den kriegführenden Regierungen herbeizuführen, ihr durch eine gemeinsame Formel der Kriegsziele die Wege zu ebnen, eine Verschiebung in der Machtstellung der imperialistischen Staaten zu verhindern, ist also rein bürgerliche Politik. Proletarische Klassenpolitik muß die Friedensaktion überhaupt auf ein ganz anderes Geleise schieben.

Nicht dafür hat der internationale Sozialismus Sorge zu tragen, daß die imperialistischen Regierungen sich untereinander verständigen und den Frieden auf eigene Faust schließen, sondern er muß umgekehrt seine ganze Macht einsetzen, um zu verhindern, daß der Friede auf diesem Wege, d. h. als ein Werk der kapitalistischen Regierungen, zustande kommt. Die einzige Aufgabe und das Lebensinteresse des internationalen Sozialismus besteht gegenwärtig darin, zu erzielen, daß der Friede ein Werk des internationalen Proletariats und seiner revolutionären Aktion, daß er im Kampf gegen die kapitalistischen Regierungen als Ausfluß der Machtstellung des Proletariats erlangt wird und eine radikale Verschiebung in den sozialen und politischen Verhältnissen der kapitalistischen Staaten herbeiführt. Vom proletarischen Klassenstandpunkt gibt es eben kein anderes Mittel, das imperialistische Völkermorden zu beenden, als den offenen Widerstand der Volksmassen, der zugleich von selbst zum Kampfe um die politische Macht im Staate sich auswachsen muß. Es ist genau dieselbe Alternative, vor der der internationale Sozialismus am 4. August 1914 stand, und erst wenn man die ganze Unabwendbarkeit dieser weltgeschichtlichen Entscheidung eingesehen und erfaßt hat, hören die tragischen Schicksale des Sozialismus im Weltkriege auf, ein unbegreifliches Rätsel zu sein.

Nur politische Unschuld von der Art der Haaseschen Opposition kann sich einbilden, das ganze Problem des Sozialismus am 4. August hätte sich in der Frage erschöpft, ob sozialdemokratische Parlamentarier für Kriegskredite stimmen würden oder nicht. Nach dieser typischen, dem parlamentarischen Kretinismus eigentümlichen Auffassung war der Sozialismus gerettet, wenn die 110 Mann im Reichstag die Kredite verweigerten, im übrigen aber den Massen der Arbeiterschaft empfohlen wurde, ihrer „Staatsbürgerpflicht“ nachzukommen, d. h. ruhig die Rolle des Kanonenfutters im imperialistischen Völkermord zu spielen. Die sozialistische Tugend sollte dadurch auf billige Weise gewahrt und zugleich jedes Risiko vermieden werden. Die Geschichte macht es aber dem Sozialismus nicht so bequem, und das Problem lag nicht in der Abstimmung einer Handvoll sozialdemokratischer Parlamentarier, in dem weiland führenden Lande des Sozialismus, in Deutschland. Das Votum der Parlamentarier für oder gegen Kriegskredite war wichtig lediglich als Signal für die Massen, diese oder jene Taktik zu ergreifen, als Auftakt zur Entfaltung eines positiven Programms des Klassenkampfes im Kriege. Die Kreditverweigerung am 4. August hätte einzig Sinn gehabt als Kampfansage wider den Krieg und den Imperialismus auf der ganzen Linie – in Verbindung mit der offenen Aufrollung eines revolutionären Aktionsprogramms und einem Appell an die Massen, durch ihre Erhebung die Organisation der Landesverteidigung, d. h. die politische Macht in die eigenen Hände zu nehmen. Einen anderen Weg, sich dem Ausbruch des Krieges im Ernst, durch Taten und nicht durch Phrasen entgegenzustemmen, gab es damals nicht, wie es heute keinen gibt.

Schreckte man aber vor diesem einzig gangbaren Weg des Kampfes zurück, dann blieb nichts anderes übrig als völliger Verzicht auf jeden Kampf und jede eigene Politik, d. h. politische Abdankung. Die Kreditbewilligung und die Politik des 4. August waren dann nur logische Folgen, die sich mit zwingender Gewalt aufdrängten, da es in jener weltgeschichtlichen Situation keinen Mittelweg gab. Der internationale Sozialismus stand vor einem Entweder-Oder. Entweder Kampf um politische Macht oder Bankerott und Einschwenkung in die herrschende Regierungspolitik. Dieselbe Situation dauert seit Ausbruch des Krieges, und heute, angesichts des Friedensproblems, hält die Geschichte der europäischen Arbeiterklasse mit der Unerbittlichkeit eines Wucherers denselben Schuldschein vor: „Ja, die Brust, so sagt der Schein!“ Nur mit der Brust im großen offenen Machtkampf der proletarischen Massen vermag der Sozialismus den Weltkrieg zu bannen. Tut er das nicht, dann bleibt er bei allem Geschwätz über Frieden, ja gerade durch das Geschwätz, das einen Ausgleich zwischen den kriegführenden Mächten anstrebt, Handlanger des Imperialismus, Fußschemel der bürgerlichen Klassenherrschaft, also das direkte Gegenteil seiner selbst und kann dann nach einem so zustande gekommenen Frieden für ein Jahrzehnt als geschichtlicher Faktor abdanken.

Die anscheinend wunde Stelle der wirklichen sozialistischen Politik im Kriege liegt darin, daß sich Revolutionen nicht auf Kommando machen lassen. Dieses Argument soll sowohl für die Haltung des Proletariats beim Ausbruch des Völkermordens wie für seine heutige Stellung zur Friedensfrage als Entschuldigung und als Deckmantel der sozialistischen Selbstpreisgebung dienen. Jedoch der scheinbar durchschlagende „praktische“ Einwand ist nichts als eine Ausflucht. Freilich lassen sich Revolutionen nicht auf Kommando machen. Dies ist aber auch gar nicht Aufgabe der sozialistischen Partei. Pflicht ist nur, jederzeit unerschrocken „auszusprechen, was ist“, d. h. den Massen klar und deutlich ihre Aufgaben im gegebenen geschichtlichen Moment vorzuhalten, das politische Aktionsprogramm und die Losungen zu proklamieren, die sich aus der Situation ergeben. Die Sorge dafür, ob und wann die revolutionäre Massenerhebung sich daran knüpft, muß der Sozialismus getrost der Geschichte selbst überlassen. Erfüllt er in diesem Sinne seine Pflicht, dann wirkt er als mächtiger Faktor bei der Entfesselung der revolutionären Elemente der Situation und trägt zur Beschleunigung des Ausbruchs der Massenaktionen bei. Aber auch im schlimmsten Falle, wenn er zunächst als Ruf er in der Wüste erscheint, dem die Massen ihre Gefolgschaft versagen, schafft er sich, wie es sich am Schluß der Rechnung stets und unweigerlich herausstellt, eine moralische und politische Position, deren Früchte er später, wenn die Stunde der geschichtlichen Erfüllung schlägt, mit Zinseszinsen einheimst. Die heutige russische Revolution, in der die Sozialisten eine beispiellose Machtstellung einnehmen, ist nur eine Quittung über das jahrzehntelange unbeirrte Rufen der russischen Sozialdemokratie in der Wüste einer anscheinend völlig hoffnungslosen Situation nach der Massenrevolution unter dem Banner der proletarischen Klassenpolitik als nach dem einzigen Ausweg aus den Fesseln des Absolutismus.

Umgekehrt verwandeln sich die sozialistischen Parteien, wenn sie, wie seit dem 4. August bis auf den heutigen Tag, den Klassenkampf verleugnen, in das wirksamste Mittel zur Paralysierung der Massen, also in einen konterrevolutionären Faktor. Der internationale Sozialismus fungiert tatsächlich seit Ausbruch des Weltkrieges als der zuverlässigste Wächter der bürgerlichen Klassenherrschaft. Und er bleibt dieser Funktion namentlich in diesem Augenblick treu, indem er im Zeichen der Stockholmer Konferenz seine ganze Kraft für eine Verständigung der imperialistischen Regierungen verwendet, also für die Wiedereinsetzung des Imperialismus in seine Machtstellung vor dem Kriege.

In Wirklichkeit bereitet der internationale Sozialismus damit nicht die Beendigung des Krieges, sondern ein Leichentuch nach dem Friedensschluß, zunächst für die russische Revolution und dann für sich selbst als Faktor der modernen Weltgeschichte. Heute wie vor drei Jahren gibt es nur die Alternative: Krieg oder Revolution! Imperialismus oder Sozialismus! Dies laut und deutlich zu proklamieren und daraus jeder in seinem Lande die revolutionären Konsequenzen zu ziehen – dies ist die einzige proletarisch-sozialistische Friedensarbeit, die heute möglich ist.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012