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Die Rote Fahne (Berlin), Nr. 8 vom 8. Januar 1919. [1]
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4 (6. überarbeitete Auflage), Berlin 2000, S. 519–522.
Mit freundlicher Genehmigung des Karl Dietz Verlag Berlin.
Transkription: Oliver Fleig und Sozialistische Klassiker.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Seit dem 9. November prallt die revolutionäre Welle periodisch gegen dieselbe Mauer: die Regierung Ebert-Scheidemann. Der Anlass, die Form, die Tragkraft des Zusammenstoßes sind in jeder der revolutionären Krisen, die wir seit acht Wochen erlebt haben, verschieden. Aber der Ruf: Nieder mit Ebert-Scheidemann! ist das Leitmotiv aller bisherigen Krisen und die Losung, in die sie alle ausklingen, die Losung, die immer lauter, einmütiger, eindringlicher aus den Massen ertönt.
Das ist auch ganz natürlich. Die Fortentwicklung der Revolution laboriert an dem Grundfehler des 9. November: dass an die Spitze der revolutionären Regierung Leute gestellt worden sind, die bis zur letzten Minute alles getan hatten, was in ihren Kräften lag, um den Ausbruch der Revolution zu verhindern, und die sich nach dem Ausbruch an ihre Spitze mit der klaren Absicht gestellt haben, sie bei der nächsten passenden Gelegenheit abzuwürgen.
Soll die Revolution weiter ihren Gang gehen, soll sie Etappe für Etappe ihrer Entwicklung durchmachen, um ihre historischen Aufgaben: die Abschaffung der bürgerlichen Klassenherrschaft und die Verwirklichung des Sozialismus, zu erfüllen, dann muss die Mauer, die sich ihr entgegenstellt, die Regierung Ebert-Scheidemann, hinweggeräumt werden.
Um diese Spezialaufgabe wird sich die Revolution nicht herumdrücken können, in diese Aufgabe münden alle Erfahrungen der acht Wochen Revolutionsgeschichte aus. Die eigenen Provokationen der Ebert-Regierung: der 6. Dezember [2], die Vereidigung der Gardetruppen [3], der 24. Dezember [4], der jüngste Anschlag gegen das Polizeipräsidium [5], sie alle treiben die revolutionären Massen direkt vor die schroffe, nackte, unerbittliche Alternative: Entweder soll die Revolution ihren proletarischen Charakter, ihre sozialistische Mission preisgeben, oder Ebert-Scheidemann mit ihrem Anhang müssen von der Macht vertrieben werden.
Dies haben auch die breitesten Massen des Proletariats in Berlin und in den Hauptzentren der Revolution im Reiche begriffen. Diese klare, scharfe Erkenntnis, die sich im leidenschaftlichen gewaltigen Ruf aus Hunderttausenden von Kehlen jeden Augenblick losringt: Nieder mit Ebert-Scheidemann! das ist der Gewinn, die Reife, der Fortschritt, den uns die letzten Ereignisse eingebracht haben.
Was aber bei weitem nicht klar ist, worin noch die Schwäche und Unreife der Revolution an den Tag tritt, das ist die Frage, wie man den Kampf um die Wegräumung der Ebertschen Regierung führt, wie man die bereits erreichte Stufe der inneren Reife der Revolution in Taten und Machtverhältnisse umsetzt. Nichts hat diese Schwächen und Mängel so krass aufgezeigt wie die letzten drei Tage.
Die Regierung Ebert-Scheidemann hinwegräumen heißt nicht, ins Reichskanzlerpalais stürmen und die paar Leute verjagen oder festnehmen, es heißt vor allem, sämtliche tatsächliche Machtpositionen ergreifen und sie auch festhalten und gebrauchen.
Was haben wir aber in diesen drei Tagen erlebt? Alles, was wirklich an Positionen erobert worden ist: die Wiederbesetzung des Polizeipräsidiums, die Besetzung des Vorwärts, die Besetzung des WTB und der bürgerlichen Redaktionen, das alles war spontanes Werk der Massen. Was haben die Körperschaften daraus gemacht, die in diesen Tagen an der Spitze der Massen standen oder zu stehen vorgaben: die revolutionären Obleute und der Zentralvorstand den USP von Groß-Berlin? Die allerelementarsten Regeln der revolutionären Aktion haben sie vernachlässigt, als da sind:
Aber die Massen müssen eben nicht bloß gerufen, sondern auch politisch tätig sein. Sie müssen über alles, was getan und gelassen wird, zur Entscheidung gerufen werden. Haben die revolutionären Obleute, hat der Zentralvorstand der USP Groß-Berlins nicht für nötig gehalten, mit dem Entschluss, sich in „Verhandlungen“ mit Ebert-Scheidemann einzulassen, vor die in der Siegesallee versammelten Massen zu treten? Sie hätten eine so dröhnende Antwort zu hören bekommen, dass ihnen jede Lust zu Unterhandlungen vergangen wäre!
Die Massen sind bereit, jede revolutionäre Aktion zu unterstützen, für die Sache des Sozialismus durch Feuer und Wasser zu gehen. Man möge ihnen klare Parolen geben, eine konsequente, entschlossene Haltung weisen. Der Idealismus der Arbeiterschaft, die Revolutionstreue der Soldaten können nun durch Entschlossenheit und Klarheit den führenden Organe und ihrer Politik gestärkt werden. Und das ist heute eine Politik, die kein Schwanken, keine Halbheit, sondern nur das Leitmotiv kennt: Nieder mit Ebert-Scheidemann! Noch eine Lehre!
Deutschland war das klassische Land der Organisation und noch mehr des Organisationsfanatismus, ja des Organisationsdünkels. Um „Organisation“ willen hatte man den Geist, die Ziele, die Aktionsfähigkeit der Bewegung preisgegeben. [6] Und was erleben wir heute? In den wichtigsten Momenten der Revolution versagt vorerst das gerühmte „Organisationstalent“ in kläglichster Weise. Revolutionäre Aktionen zu organisieren ist eben noch ganz was anderes, als Reichstagswahlen oder Gewerbegesichtswahlen nach Schema F zu „organisieren“. Die Organisation der revolutionären Aktionen muss und kann eben nur in den Revolution selbst gelernt werden, wie das Schwimmen nur im Wasser gelernt wird. Dazu ist die geschichtliche Erfahrung da! Aber man soll eben aus der Erfahrung auch lernen.
Die Erfahrung den letzten drei Tage ruft den führenden Organen der Arbeiterschaft mit lauter Stimme zu: Redet nicht! Beratet nicht ewig! Unterhandelt nicht! Handelt!
1. Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Clara zetkin nennt in ihrer Arbeit Um Rosa Luxemburgs Stellung zur russischen Revolution (Hamburg 1922) Rosa Luxemburg als Verfasserin.
2. Organisiert vom sozialdemokratischen Berliner Stadtkommandanten Otto Wels, dem Generalkommando des Gardekorps, dem Kriegsministerium und dem Außwärtigen Amt, hatten am 6. Dezember 1918 von reaktionären Offizieren geführte Truppenteile einen Putschversuch unternommen. Sie verhafteten den Vollzugsrat der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte, besetzten die Redaktion der Roten Fahne, riefen Friedrich Ebert zum Präsidenten und schossen in der Chausseestraße in eine unbewaffnete Demonstration, wobei sie 14 Personen töteten und weitere 30 verwundeten.
3. Am 10. Dezember 1918 waren von konterrevolutionären Offizieren geführte Gardetruppen, die bewaffnet in Berlin einzogen und von Friedrich Ebert, dem Berliner Oberbürgermeister Adolf Wermuth und dem Kriegsminister Heinrich Scheüch begrüßt wurden, auf die „Republik“ vereidigt wurde, wobei Generalleutnant Arnold Lequis den Eid für seine Offiziere und Mannschaften leistete.
4. Am 24. Dezember 1918 hatten konterrevolutionäre Truppen unter Führung von Generalleutnant Arnold Lequis die Volksmarinedivision in Schloss und Marstall in Berlin mit Artillerieunterstützung angegriffen. Dabei fanden 11 Matrosen und 56 Soldaten der Lequis-Truppen den Tod. Die kämpfenden Matrosen erhielten Waffenhilfe durch die Berliner Arbeiter. Dadurch brach der Angriff zusammen.
5. Am 4. Januar 1919 war der Berliner Polizeipräsident Emil Eichhorn, der dem linken Flügel der USPD angehörte, von der sozialdemokratischen Regierung als abgesetzt erklärt worden. Damit sollten die revolutionären Arbeiter und Soldaten Berlins zu unvorbereiteten bewaffneten Kämpfen provoziert werden. Die revolutionären Obleute, die Berliner Leitung der USPD und die Zentrale der KPD riefen gemeinsam die Werktätigen und Soldaten zu Aktionen für die Rücknahme der Ansetzung Emil Eichhorns, für die Entwaffnung der Konterrevolution und die Bewaffnung der Arbeiter auf. hunderttausende demonstrierten am 5. Januar in Berlin, formierten sich in der Siegesallee und marschierten zum Polizeipräsidium.
6. In der Quelle: freizugeben.
Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012