Aus: Kommunistische Arbeiter-Zeitung Organ der Kommunistischen Arbeiter-Partei Deutschlands, 8. Jg., Nr. 36, Mai 1927, S 2-3.
Transkription/HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.
Der starkarmige Kran transportiert ein elegantes, grünes Automobil vom Pier in den Bauch der „Pittsburgh“. Das letzte Stück Bagage und damit das letzte Objekt der Neugier, die mit den Tränen konkurriert; dann löst sich der 18 000 Tonnen-Dampfer der „Red Star Line“ fast lautlos aus Tauen und Ketten. Das Gehirn wird jämmerlich beeinflußt durch Trauer, Furcht und heimliche Freude. Der Schmerz vergeht mit dem Kleinerwerden der Antwerpener Kathedrale, mit der Umformung der trauernden Seelen am Ufer zu winzigen, geraden Strichen, deren schwenkende Hüte verzweifelt irrenden I-Punkten darüber ähnlich sind.
Der Spätnachmittag weckt vorerst Interesse für das Innere des Schiffes und den Menschen. Geschäftigkeit und Aufregung der Einschiffung verursachen einen leisen Appetit, der sich im Speisesaal zurechtzufinden hofft. Die einzelnen Nationen sind hier glücklich nach Tischlängen arrangiert. Man beobachtet einander und fördert mit den Portionen künftige Sympathien. Alkoholschleppende Stewards überwinden ihre erste Schüchternheit; Whisky und englisches Bier gruppiert die Fremden und die Musik einer Mundharmonika vereinigt die Leiber. Die wenigen Deutschen aus der Stuttgarter Gegend haben ihre Filzlatschen angezogen und die Kragen abgelegt; sie tanzen in unmäßiger Hitze und stickiger Luft mit dem rasenden Tempo, das schon ihren Vätern eigen war.
Weit unterm Zwischendeck, in einem leergebliebenen Lagerraum haben sich die Polen freiwillig gesondert. Sie gingen geschlossen, unaufhörlich, mit Wehmut und ohne Illusion, so willig, wie sie auch auf der ganzen Welt arbeiten. Was ist Ostelbiern oder Kanada? Sie schuften und leben wie die Tiere, hier wie da.
Oben schwellen mit den rotwerdenden Gesichtern die Worte mit den Hoffnungen. „Wir wollen — wir wollen verdienen! Wir werden die Dollars greifen mit Händen und Füßen. Wir sind qualifizierte Europäer, es wird uns nicht schwer fallen!“ Sie sehen nur die fliegenden Noten, glauben alle an ihre Wunder und wissen nichts von der Wirklichkeit. Ihnen ist nicht zu helfen, ihr Ohr hört nur ihre Wünsche. Hier in der 3. Klasse, die ihr letztes Geld, ihr letztes europäisches Hab und Gut verschlungen hat, beten die Kleinbürger für gute Fahrt durch die Wasserwüste nach Mekka.
Früh legt der Kasten am äußersten Pier von Southampton an. Alles umhüllt dichter Nebel. Der Eierhelm eines Gummiknüppels friert zwischen gleichgültigen Hafenarbeitern, die ohne Aussicht auf Verdienst den Wechsel der Passagiere beobachten. Die Luft ist feucht, das Metall der Reeling klebrig. Langsam windet die Schraube das Schiff zurück; man verliert das Land, ohne es verschwinden zu sehen. Ein leichtes, regelmäßiges Zittern summt schwach in den Ohren, läßt aber in der Nacht, in einer Kabine dicht über der Schiffsschraube, alle Qualen des Lebens bewußt werden. Das rattert und dröhnt nun wie im Maschinenraum selbst, geht herauf und herunter, fliegt nach rechts und nach links. Die Räume der besser zahlenden Klassen wissen weniger von den Energien der Schiffsmotoren, sie liegen höher und im Zentrum des Schiffes. Die Kleinbürger des Zwischendecks können nicht mehr fluchen, sie verschwinden als erste Seekranke, tauchen wieder auf, um erneut zu verschwinden, wie die Schweinsfische in ferneren Gewässern. Noch sind sie vereinzelt. Die Menge imitiert beim Souper Sprachverwirrung, die Kranken lächeln wie Romantiker, bleich und leidend beim Anblick des teuer bezahlten Essens.
Während sich alles im Innern dreht, geht draußen eine prächtige Veränderung vor. Langsam, schonend, liebend breitet sich die Dämmerung aus. Stahlblaue Wellen bilden silbernen Gischt, der, wie flüssiger Marmor verfärbt, sich wieder in rollende Bewegung auflöst. Das Kielwasser verfliegt breiter und breiter werdend, blinkend am Horizont, steigt in silbergrauen Möwen empor, um sich im Aether zu verlieren. Kein Schwingen breiter, gleitender Flügel, kein Kreischen mehr aus gelben, hungrigen Schnäbeln; das in den Himmel ragende Dreieck des Möwenschwarms liegt auf den Wellen, treibt in der Nacht. Einsam hört man die Stunden mit der monotonen Melodie der anschlagenden Wellen. Ueberraschend leuchten abgetönte Farben wie Irrlichter in der Ferne auf. Wie ein Angeheiterter auf dem Drahtseil, tanz halsbrecherisch eine rote Laterne durch die Nacht, durch den unendlichen Lagerraum des Nebels: der Lotse von Cherbourg. Wie ein gewaltiges, bengalisch beleuchtetes Floß rollt ein seltsamer Kasten heran. Taue fliegen durch die Luft, feste Hände greifen zu. Ein Ruck gegen 18 000 Tonnen — dann wird umgeladen. Neugierige Gesichter starren müde, bis es langweilig wird. Stewards kommen und treiben ihre Ernährer von Deck.. Das Schiff fährt weiter. Man müht sich um den Schlaf. Dumpf und präzise schlagen die Wogen gegen Teer und alte Farbe.
Die Glocke läutet zum Breakfast. Die Polen haben schon gegessen, jetzt säubern sie selbst ihre Kabinen. Die gerissenen Stewards nützen ihre Stumpfheit, um sich selbst das Leben angenehmer zu machen. Das sind Arbeiter, die arbeiten nicht nur umsonst, hier haben sie noch hundert Dollar zugezahlt. Am Tisch der „guten Europäer“ ist die Bedienung besser, was aber das Roastbeef nicht hindert, ledern zu sein, wie tags zuvor. Der Kaffee ist schlecht, die Portion gering. Hat man auf mehr Seekranke gerechnet? Schlechte, billige Nahrung ist hier wohl Prinzip. Dazu täglich das Gleiche, und kein Obst, kein Gemüse, nur ungenießbares Fleisch, gedämpfter Kohl, schwarze Kartoffel, und immer dasselbe Brot, dieselbe Marmelade.— Was muß diese Linie Dividenden abwerfen. — Der Lohn der Angestellten ist niedrig, ihr Arbeit schwer; sie jagen unverschämt nach Trinkgeldern, sie sind gereizt, unfreundlich, unwillig, sobald sie nichts erhalten. Schon jetzt kreist der bettelnde Teller um den Tisch und füllt sich mit kleinen Geldstücken.
Am hellen Vormittag steuert das Schiff Queenstown zu. Die irländische Küste ist schön: Felsen — Klippen — Brandung. Ein Leuchtturm, ein sauberes Haus hart am Abhang gebaut; Mauern umgeben einen Teil der Küste; eine alte Kanone stiert von hier in die Ferne, die pazifistische Aera suchend. Das Gras an den Hängen ist fast noch grün, graue Felsen wälzen sich über braune Erde, kahle Bäume ragen schiefgewachsen empor. In der Ferne sind Häuser und Kirchen wie buntes Spielzeug an die Berge geklebt, Romantik, Inselstimmung, ein Gebiet für Lyriker. Verfluchter Boden für die Auswanderer, die es verlassen, da 20 Schilling Wochenlohn ein Hungerdasein bedeuten.
Nur kurze Zeit stoppt die „Pittsburgh“, die Irischen sind an Bord. Jetzt wird acht Tage lang kein Land mehr auftauchen. Es gilt, die Zeit totzuschlagen auf einer kleinen Fläche. Acht Tage ist man den Launen des Meeres ausgesetzt. Was wird? Schiffe von dieser Dimension bezwingen Stürme. Drahtlose Telegraphie vermag für alle Fälle schnelle Hilfe herbeizuzaubern. Es wird schaukeln. Während man sich noch diesen Besorgnissen hingibt, beginnt bereits das aufreibendere Spiel der Schiffsgewaltigen, der Dividende knechte. Ein schnöseliger Offizier fegt durch die Räume des Zwischendecks: „Alles zum Arzt — schneller — marsch!“ 500 Mann stehen im dumpfen Raum zusammengepfercht. Die Untersuchung soll jeden zweiten Tag stattfinden. Zur selben Zeit spielt oben in den Salons die Jazz-Kapelle, da rennen die Stewards, da bemühen sich Offiziere: „Gnädige befehlen noch eine Decke?: Gnädige wünschen den Arzt?“ — Die Gnädige kann sich wünschen, aber die 500 stehen halbnackt in Reihen vor dem abgeschlagenen Teil des provisorischen Untersuchungszimmers. Was will man mit ihnen? Der Obersteward durchsucht das Hemd nach Ungeziefer. „Allright!“ Der Arzt, ein kleiner, schwarzbärtiger Schuft, mit rotgeäderten, quellenden Augen brüllt mit einem widerlichen Organ: „Hosen runter!“ Dann überfliegt er den Körper tastet ab, klopft und — findet Fehler. Nicht bei jedem, sucht wohl 100 Mann mit Fehlern heraus. Anlagen zum Bruch, Hängebauch, fehlendes Glied am Finger usw. Er nimmt ihnen die Inspektionskarten ab, verspricht, jeden noch einzeln zu sprechen, „behandeln“ wie er sagt.
Später kommen die Frauen an die Reihe. Da füllt sich der Verschlag mit jungen Offizieren, da fühlt jeder Aspirant seine medizinischen Fähigkeiten. „Hemd aus!“ Kostenlos ist diese Revue nackter Frauen. Das sind ja nur Polinnen „schmutzige Biester“. Sie müssen den Tisch erklimmen die elektrische Birne beleuchtet sie von innen. Nachher jagt man Schrecken in die Hirne der Ausgesuchten; man redet ihnen ein, daß sie nicht landen können mit ihren Fehler, angeblichen Gebrechen. Angst verzehrt diese Aermsten, sie müssen landen. In Europa sind alle ihre Beziehungen abgekrochen, das verlorene Fahrgeld. Sie müssen hinüber. Sie wollen den Doktor bitten, er kann doch sicher ein Auge zudrücken, wird ihnen die Inspektionskarte zurückgeben. erregen sich, klagen über die Gaunerei, die sie erst weit dem Meer erfahren mußten. Vor ihrer Abreise von vier Aerzten untersucht und für gesund befunden, vom Arzt Schiffahrtskampagnie aufs Schiff geschickt und jetzt diese Schwierigkeiten. Mußte die Schiffahrtsgesellschaft nicht ein Interesse an der Landung ihrer Passagiere haben? Mußte sie nicht andernfalls deren Rücktransport ohne Entgelt übernehmen?
Bald war alles geklärt. In der Privatkabine des Schiffsarztes erfuhr jeder der Ausgesuchten persönlich, was ihn aus der Misere rette. Hier rieb man einen Kopf mit Petroleum ein: 6 Dollar die Behandlung. Dort reichte man Borsalbe für 3 Dollar. Dort steckte man mit versprechendem Augenzwinkern 10 Dollar in die Tasche, hier versprach und beruhigte man bereits für 5 Dollar. Ein anderer Fall war etwas schwieriger, man konnte eventuell veranlassen ...für 20 Dollar. So vergrößerte dieser Schuft seine und die Einnahmen seiner Helfer um ein Nennbares, so zog er den Aengstlichen den letzten Notgroschen aus den Taschen, sorgte dafür, daß selbst auf freiem Meere niemand vergaß, daß die Welt durch Ausbeuter geordnet ist. Wie zum Hohn hängt vor jeder Kabinentür im Glasrahmen das Statut: Arzt und Arznei frei!
Es hängt aber noch vieles da, so z. B. die Aufforderung, sich jeden zweiten Tag zu baden. Es gibt aber im ganzen Zwischendeck kein Bad, die dafür befindlichen Räume sind stets verschlossen. Eine defekte Brause auf der Toilette ist alles, was man benutzen kann, sobald man sich an ein halbes Dutzend Zuschauer gewöhnt hat. Und noch eins: gibt es kein Eis auf dem Schiff? Das Trinkwasser ist faulig und knapp. Verbrauchen die süßwasserbadenden Damen der zweiten Klasse zuviel oder will man die Biervorräte bis New York restlos verkauft haben? Einzelne finden den Mut zur Beschwerde, doch faule Versprechungen ändern nichts an dem Ton, der jedem überdeutlich sagt: mein Lieber, obgleich du 115 Dollar für zwölf Tage zahltest, bleibst du doch ein erbärmlicher Proletarier, der alles zu tun und nichts zu verlangen hat. Die Schinderei des Zwischendecks ist allgemein, sie ist nicht nur das Privileg der Chargierten, sie äußert sich auch in den Handlungen ihrer Knechte. Bis sie eines Tages ihren Höhepunkt erreicht, da man einen Steward beim Breakfast mit der Kaffeekanne niederschlägt.
Erfrischend wirken nach all dem die Irisch-Men. Ihre unbändige Heiterkeit ist nicht zu brechen. Sie sind naiv und ausgelassen wie die Kinder, freigebige, weitherzige Menschen. Und siehe, auch tapfere Kerle; die Attacken von Dublin, die ganze irische Freiheitsbewegung war sicher nicht nur eine rein ökonomische Zwangsangelegenheit, sondern erhielt ihre Intensität und Hartnäckigkeit durch das psychologische Temperament dieser lebendigen Menschengruppe. Sie bilden hier auf dem Schiff eine lachende Masse, die sich in wirbelnden Volkstänzen teilt und zusammenzieht. Dazu Musik einer Mundharmonika, deren Spieler, ein rhythmisch zuckender Körper, längst vergaß, daß seine Mundwinkel aufgerissen und seine Lippen bluten. Stunden — Tage dauert diese tolle Beweglichkeit, bis der Whisky und der große Sturm sie alle auf die Seite wirft. Sie finden kein Zurück in die Kabinen; sie liegen wie Massen geschlachteter Hammel in Haufen übereinandergeschichtet, wie in den Höfen der Schlachthäuser.
Das offene Meer bringt schreckliche Kälte. Mächtige Stürme treiben Schnee und Eis über Deck. Es ist unmöglich, mehr als sich selbst zu sehn. Nachts stoppt das Schiff, es kann sich nicht mehr orientieren. Eisschichten bedecken Holz und Metall. Man muß von Deck, um nicht heruntergespült zu werden. Das Schiff schüttelt sich wie im Krampf. In den Innenräumen hocken sich erbrechende Menschen. Alle Luken sind geschlossen, die Luft verbraucht und stinkend. Die Wellen schlagen grün gegen das Glas, die Menschen sind ohne Farbe.
Erst kurz vor Kanadas Küste wird die See wieder ruhig. Der Whiskyhandel gleichzeitig lebendig. Alles findet sich wieder zurecht, läßt sich lüften. Koffer und Ballen werden aufgezogen: Papiere ausgehändigt. Das Schiff steuert in den Hafen von Hallifax. Auf dem grün-schwarzen, ruhigen Wasser der Bucht schwimmen riesige Eisenplatten, auf denen Möwen reglos wie gemeißelt hocken. Kanadas Berge sind schneebedeckt. Hohe, dunkle Tannenwälder bieten schwarz-weiß Kunst auf riesiger Fläche. Im Hafen selbst liegen ausrangierte Dampfer ohne Farbe, alte, längst gestorbene Segler, schief und ruhig, wie halb versunken. Um den Hafen wachsen im Kreis Fabriken, Gaswerke, Mietskasernen, Kirchen, verrußt und unschön. Der Abend färbt die Wellen tiefschwarz; schmutziggrau ist der Gischt, den die Schraube erzeugt. Ueber alles hat sich Teer gegossen. Doch am Horizont geht die Sonne unter, rot und groß, herrlich wie überall und läßt den Schnee auf den Bergen erglänzen.
Kälte! Kälte! Frierende Neger, ärmliche Händler umschwirren das Schiff, bieten ihre Waren an. Man kauft schnell, weil sie frieren. Ein Heringsdampfer läuft ein. Sein Bug gleicht einer bärtigen Schnauze. Vereiste, zerfranste Taue, ihr Schmutz beim Rammen ist es, der so grotesk wirkt.
Längs der Küste fährt die „Pittsburgh“ weiter nach New York. Es ist gutes Wetter. Eine Seglerflotte taucht auf, ein amerikanisches Kriegsschiff; flinke Torpedoboote stampfen durch die Wellen. Andern Tags, in nebliger Frühe liegt die „Pittsburgh“ auf dem Hudson River. Rechts tauchen die Wolkenkratzer auf. Die „Liberty“ liegt mit halbem Leib noch im Nebel. Der Blick fällt auf ein Fort, auf dessen Wällen riesige Kanonen placiert sind. Schiffe aller Art und Größe treiben auf dem breiten Strom.
Das Schiff stoppt, man ist am Ziel. Rechts und links liegen die Piers der einzelnen Linien. Das grüne Auto wird ausgeladen. Die erste Klasse verläßt im Pelz das Schiff. Auf dem Land gibts andere Tränen.
Das Zwischendeck hat noch den ganzen Tag unruhig auf der Stelle zu treten. Erst als Dunkelheit sich um New York lagerte, als tausende Lichter sich strahlend in den Hudson River ergossen, als Menschen auf leuchtenden Fähren den Strom überquerten, als der Lärm des Tages nachließ und Coney Island mit Millionen Lichtern „Amerika“ schrie, verließen gedrückt und müde die Passagiere des Zwischendecks den qualvollen, modernen Luxusdampfer mit allem Comfort, um ins Zwischendeck Amerikas überzusiedeln.
Zuletzt aktualisiert am 4.1.2009