Aus: Neue Deutsche Blätter, Monatsschrift für Literatur und Kritik, Prag, 2. Jg, Nr. 1, Oktober-November 1934, S. 35-45 & Nr. 2, Dezember 1934, S. 87-99.
Transkription/HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.
Mit nicht geringem Stolz verriet die Mutter John Jacob Astors (III), daß die Kosten für den Unterhalt ihres kleinen Sohnes im Durchschnitt auf täglich fünfundsiebzig Dollar zu stehen kamen. Allein die Spielsachen, die er im Laufe von drei Jahren zerschlug, kosteten annähernd sechstausend Dollar. Daß John Jacobs Jugend eine glückliche war, läßt sich nicht bezweifeln. Was jedoch weit mehr bedeutet, sie verdarb ihn nicht. Er wurde kein Verschwender, keiner jener glücklichen Erben, deren tolle Streiche die Seiten der Zeitungen füllen. Im Gegenteil, er lebte zurückgezogen, sein Leben entsprach durchaus dem sauren Ausdruck seines Gesichts. Seine Liebesaffären waren lange Zeit tragischer Natur, und John Jacob bot der Welt eine wirkliche Überraschung, als er eines Tages unerwartet seine Heirat mit der hübschen Miß French bekannt machte.
Den Traditionen des Hauses entsprechend, fand die Hochzeit in herzlicher Einfachheit in einer kleinen, allerdings historischen Kirche in Newport statt. Die Blumenhändler des Ortes waren sehr enttäuscht, denn Blüten und Palmendekorationen brachte John Jacob von seinem Landgute mit. Newport jedoch stand für Wochen im Mittelpunkt des amerikanischen öffentlichen Interesses, und sein Ruhm reflektierte auf den Gesichtern seiner Bewohner trotz der enttäuschten materiellen Erwartungen.
Im Empfangssalon der Residenz des jungen Paares lagen auf vielen Tischen die Hochzeitsgeschenke ausgebreitet. Die Namen der Geber wurden nicht bekanntgegeben, doch waghalsige Reporter stellten fest, daß sich unter den Gaben vier Dutzend silberne Gedecke und viele seltene alte Drucke befanden. Im Garten entdeckten sie ein sechzehnzylindriges Automobil in geschmackvollem dunklem Grün. Welcher Art der Schmuck war, den John Jacob den elfenbeinernen Händen und den porzellanfarbenen Ohren seiner schönen Frau schenkte, war nicht zu erfahren, nur den Preis —ein und eine halbe Million — ließ man nicht im Dunkel.
Dann ging es in Astors Privatwagen „Superb“, der dem Pennsylvania-Pacific-Expreß angehängt wurde, auf die Hochzeitsreise. Glückliche Menschen! — Und wie verständlich war doch die Anteilnahme der Bevölkerung an den Flitterwochen des jungen Paars. Verknüpften sich damit nicht für jeden eigene Hoffnungen oder doch wenigstens Erinnerungen? Deshalb umschwärmten während eines kurzen Aufenthaltes in Chicago Dutzende von Reportern den Expreß, um ein Interview zu erjagen. Die Astors verhängten jedoch die Fenster, es lag ihnen nichts an billiger Popularität und sechs Privatdetektive machten den Reportern grob oder weniger grob, je nach dem Temperament des Betroffenen, die Bescheidenheit des Hauses Astor klar. Nur wer das Paßwort kannte, war imstande bis zu den verhängten Fenstern vorzudringen. Die Presse hatte sich mit dem Interview des Koches zu begnügen, der äußerst geschmeichelt den Inhalt seiner Einkaufsliste der Öffentlichkeit preisgab. Die Welt erfuhr, daß das Haus Astor auf seinem Wege nach Vancouver acht Hühner, zwei Lämmer und drei achtpfündige Porterhouse-Steaks zu verzehren beabsichtigte. Sie erfuhr weiter, daß auch solche Dinge wie Austern, Muscheln, Grapefruit, Apfelsinen, Ananas, Wassermelonen der Zunge John Jacobs wie auch der empfindlichen Zunge seiner Frau mundeten. Wird von den verschiedenen Weinen abgesehen, so kann man wohl sagen, daß auch in Fragen des Magens das Haus Astor unverdorben war, was die Welt mit großer Genugtuung zur Kenntnis nahm.
Die Zeitungen haben schon deshalb Millionenauflagen, weil sie neben ihren erzieherischen, vaterländischen, kommerziellen, literarischen und wissenschaftlichen Werten noch tausend andere Funktionen erfüllen. Sie befriedigen nicht nur die Gedanken und beschäftigen die Augen, sie verheimlichen unter anderem auch den Geruch des Limburger Käses und dienen Pfadfindern zur Entfachung der Lagerfeuer. Erfährt ein Teil der Welt aus ihnen die Basis der kulinarischen Ansprüche John Jacob Astors, so breitet sie ein anderer Teil der Menschheit auf dem Boden der Parkanlagen aus, um auf ihnen zu schlafen. Zu diesem Teil der Welt zählte auch Walter Nokofsky, der sich seit langem von Forschungen in den Müllkästen der Stadt nährte. Empfahl die Verwaltung den Bürgern, die Anlagen zu schützen und die Straßen rein zu halten, wobei sie ihnen durch die kostspielige Aufstellung besagter Abfallkästen half, so empfahl Nokofsky seinen Bekannten, sich mit Zeitungspapier gegen Rheumatismus zu schützen und wiederum die Müllkästen sauber zu halten. So zeigt sich’s erneut, wie sich in dieser Welt alles von selbst zum harmonischen Ineinanderspiel zusammenfindet.
Nur oberflächliche Demagogen und schlechte Schriftsteller bemühen sich, die Welt in ihren scharfen Kontrasten darzustellen; nur billige Erfolghascherei verleitet zu solchen geschmacklosen Gegenüberstellungen, wiez. B. die Verschiedenheit der Leben John Jacob Astors und Walter Nokofskys. Beide sind ja letzten Endes Ausnahmen, Einzelschicksale, vom Zufall in ihre spezielle Lage versetzt, und beide vermögen wohl für Momente Bewunderung oder Abscheu zu erregen, aber sie gehen doch am wirklichen Leben wie wechselnde Kinoprogramme vorbei. Sie beweisen nichts, und sie erklären nichts. Trotzdem, solange man sich mit John Jacob nur zu willig beschäftigt, solange kann es einem auch nicht verargt werden, sich Walter Nokofsky zuzuneigen. Dies ist auch nebenbei viel leichter, man braucht kein Paßwort, erschrickt nicht vor den breiten Schultern der Detektive und wird nicht durch die Aufgeblasenheit eines lumpigen Koches beschämt. Nokofsky wird auch nie ein Interview verweigern, lässig wird er auf die Abfallkästen deuten, verständnisinnig wird er die Hälfte seiner Zeitung anbieten.
Frau Rose Tisachny wußte, was eine Hochzeitsreise ist. Die ihre lag zehn Jahre zurück und hatte nur drei Tage gedauert. Aber unvergänglich war die Erinnerung, sie lag ihr so nahe, wie die Hand ihres kleinen George, der neben ihr herlief und auch in der klaren Luft der Parkanlage nicht vergaß, daß er Hunger hatte. Eine billige Hochzeitsreise, eine Rundfahrt nach den Niagarafällen, aber eine kostspielige, gemessen an ihren Resultaten. So kurz wie die Reise, so kurz war das Glück. Die Geburt Georges war eine verdrießliche Sache gewesen; noch verdrießlicher war, daß sich die Hoffnung seines Vaters, langsam mehr Geld zu verdienen, nicht erfüllte. Diese Hoffnung war eigentlich der letzte Grund der Hochzeitsreise gewesen, und als sie langsam verschwand, verblaßte auch der Glanz in den Augen der Liebenden, die einst die Schönheit des Niagara widergespiegelt hatten. Es kam die Arbeitslosigkeit. Es gab neue Arbeit. Georges Vater stand sieben Tage in der Woche in der stinkenden Küche eines Massenrestaurants und sah im Seifenschaum jene Flittertage an den Niagarafällen als direkte Ursache seiner Leiden. Allein wäre alles viel leichter, aber er war gebunden; wie einen Stein schleppte er seine Frau und ihren George mit sich, und wie einen Stein empfand er sie auch bald und vergaß, sich um ihre Gedanken und Wünsche zu bemühen. Man stritt um kleine Dinge, man stritt bald um alles. Je länger sie miteinander lebten, desto mehr entfernten sie sich voneinander. Ohne Zweifel, Georges Vater war ein Biest, aber seine Mutter war nicht besser; in ihnen verkörperte sich, was ihnen nicht bewußt wurde: eine verrückte Welt, die sich im selben Maße zerstört, wie sie um ihr Leben ringt.
Jedenfalls wußte Rose nicht mehr, wo sich der Vater ihres George aufhielt, als sie durch den nächtlichen Park schritt. Es interessierte sie auch nicht, sie hatte näherliegende Sorgen. Sie war ohne Wohnung, ohne Brot, und siewar ohne Hoffnung, diese Sorgen los zu werden. Sie traf nur Nokofsky, und der konnte ihr nicht helfen. Seine Augen waren so hungrig wie sein Magen, wie der Magen Rose Tisachnys und der kleine Magen des kleinen George. Und da sie nicht essen konnten, sprachen sie, und ihre Gedanken verbitterten sich im selben Maße, wie sie weich und zärtlich wurden.
Der Mond schien auf die Blätter der Bäume und färbte sie silbern. Die Luft war klar, und die Grillen zirpten. Es war fast so schön wie in Vancouver. In der Ferne glitzerten die Millionen Lichter der Stadt so berauschend wie die Brillanten der schönen Frau Astor. Die Ruhe der kanadischen Berge zog mit der Nacht auch hier über den Park, und der Boden bedeckte sich mit kaltem Schweiß aus Angst vor der brennenden Sonne des kommenden Tages. Gedankenvoll ist die Nacht. Man schwimmt in Träumen und vergißt die mechanische Gesetzlichkeit des Alltags. Jedoch die Träume des einen Menschen sind so verschieden von denen des anderen wie die Abfallkästen der Stadt von der hygienischen Küche des Privatwagens „Superb“.
Nokofsky ist zu unbedeutend, als daß es sich verlohnte, seiner eigenartigen Psychologie viel Raum zu widmen. Selbst wenn man die Gründe seiner Handlungen bis ins Letzte analysierte, wem wäre damit geholfen ? Es genügt zu sagen, daß seinem eigenartigen Gehirn in dieser Nacht wohltätige Gedanken entsprangen, die ihren Höhepunkt erreichten, als er zuerst Frau Rose Tisachny und dann sich selbst die Kehle durchschnitt. Der Tod verschmähte sie jedoch, George schrie zu laut, und beide kamen nur ins Hospital. Der Polizei erklärte Nokofsky später: „Ich konnte ihr Elend nicht mehr mitansehen, ich hatte ein Rasiermesser und hielt es für das Beste, ein Ende zu machen.“
Verrückte Leute. Nicht nur die Wege der Reichen, auch die der Armen sind oft seltsam und bewegt. Das füllt dann die Zeitungen, und die Masse der Menschen liest’s mit Verwunderung und beglückwünscht sich, zwischen den Extremen leben zu dürfen. Wer möchte auch ein dem wirklichen Menschsein entrückter Millionär sein, dauernd auf der Flucht, dauernd im Versteck vor der menschlichen Neugier, ewig auf der Hut vor Erpressern und dem Schmarotzertum? Oder wer möchte sich mit solchen verbiesterten Kreaturen vom Schlage Nokofskys identifizieren, die mit dem Rasiermesser in der Tasche nächtlicher Weile in den Parkanlagen herumlungern ? Gott sei Dank, es sind nur Attraktionen, die der Zirkus des Lebens für den Preis eines Zeitungsexemplares den wirklichen, den Durchschnittsmenschen, bietet. Man liest’s, man vergißt’s und wartet auf neue Seltsamkeiten, welche die reiche Welt zu produzieren nie müde wird.
Millionen Kinobesucher sahen in der Wochenschau die Hochzeit John Jacob Astors. Man ersparte ihnen den Halsabschneider Nokofsky. Dafür war der Präsident der Vereinigten Staaten in jeder Wochenschau zu sehen. Sein Prestige als Volkspräsident wuchs mit jedem Programmwechsel, sein Lächeln brachte Millionen Hände täglich in Bewegung. Wie er die Herzen im Sturm erobert hatte, so zeigte er sich auch der gewonnenen Liebe würdig. Sein riesiges Privatvermögen beweist, daß es nicht niedrige Gewinnsucht war, die ihn in die Politik führte. Sein Lächeln zeigt, daß er den notwendigen Optimismus besitzt, um für eine verfahrene Wirtschaft neue Wege zu finden. Seine volle und feste Sprache unterstreicht, wie ernst es ihm ist, dem Volke zu dienen, die Feinde des Wiederaufbaus zu vernichten und mit dem letzten Sohn der Nation aus einem Teller zu essen. Diese Qualitäten werden noch von einer tiefen Religiosität übertroffen, und mit ehrfürchtiger Erwartung lauscht man seiner Rede, wie man einst den wundervollen Sätzen Lincolns gelauscht hat, mit dem allein er wohl auch nur verglichen werden kann.
Wacker bemühte sich Roosevelt, Amerika aus der Krise zu führen. Es gibt jedoch keine gute Tat, die nicht von den Schmähungen der Bösen begleitet ist, und das Regierungsprogramm fand neben begeisterter Zustimmung auch Kritiker und Nörgler. Mit nicht wenig Ironie wies Roosevelt die Unzufriedenen zurück: „Manche Leute halten uns für Faschisten, andere für Kommunisten, aber wir haben mit beiden nichts zu tun. Unsere Politik ist nichts weiter als die amerikanische Politik, die stets alte, erprobte Wege gegangen ist, aber es auch nicht verschmähte, nach neuen zu suchen. Möglich, daß wir verschiedenen Leuten dabei auf die Hühneraugen treten, das läßt sich nun einmal nicht vermeiden, und wir werden die Zehen dieser Leute nicht verlassen, bis wir uns durchgesetzt haben. Wir wollen allen Gliedern der Gesellschaft dienen, den Unternehmern sowohl wie den Arbeitern. Man hat unsere Nation das Land Gottes genannt, wir wollen es dazu machen.“ – – Roosevelt nahm den Kneifer ab, sein Gesicht war ernst. Er hatte einen sehr pathetischen Satz vom Manuskript gelesen, und die Herzen vieler Kinobesucher verengten sich vor Rührung. Das Volk hielt weiter zu Roosevelt. Er wird es schon schaffen, er meint es ehrlich, er ist ein guter Präsident. Nur Nokofsky hatte die Hoffnung aufgegeben, und John Jacob besuchte keine Kinos. Übrigens brauchte er auch keinen Präsidenten.
Der Präsident begab sich auf die Urlaubsreise. Ein Kriegsschiff durchkreuzte die Gewässer des Pazifik. Die republikanische Opposition rechnete aus, daß die Erholung des demokratischen Präsidenten der Nation annähernd eine halbe Million Dollar kostete, und trübte damit die Gefühle der Steuerzahler. Zurück blieb in Washington eine Delegation von Stahlarbeitern, die sich bemüht hatte, der Regierung nachzuweisen, daß sich die Stahlmagnaten weder um die erlassenen Gesetze bekümmerten, noch gewillt waren, im Geiste des Wiederaufbauprogramms mit ihren Arbeitern in Verhandlungen zu treten. Ehe sie die Hauptstadt verließen, gaben sie dem Präsidenten einen Brief mit auf die Reise: „Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Urlaub. Es wäre schön, wenn wir mit Ihnen fahren könnten, Herr Präsident. Leider müssen wir zu unseren Behausungen zurückkehren, um unseren Genossen zu berichten, daß das Wiederaufbauprogramm bisher nur die Ketten, die die Unternehmer um unseren Hals gelegt haben, enger gezogen hat. Wir haben das Vertrauen zu Ihrer Regierung verloren. Sie haben alle Versprechen, die sie den Arbeitern gaben, gebrochen. Nur den Unternehmern gegenüber waren Sie nachsichtig, wir Arbeiter sind noch immer völlig rechtlos. Da Sie uns nicht helfen, müssen wir uns wohl selber helfen. Und wir haben nur ein Mittel: den Streik.“
Doch die Stahlarbeiter machten ihre Drohung nicht wahr. Die Führer der reformistischen Gewerkschaft verhandelten weiter, die Delegation war vergessen. Die Unternehmer belagerten ihre eigenen Fabriken, engagierten Hunderte von Pinkertons, bewaffneten sie mit Maschinengewehren, erklärten den Kriegszustand auf ihrem privaten Boden, trieben die Passanten von den Bürgersteigen, verprügelten ehrenwerte Bürger, denen das nicht paßte, und bezahlten ganzseitige Annoncen zur Verbreitung der Auffassung, daß nicht die Arbeiter, sondern zugereiste Agitatoren für die Streikstimmung verantwortlich seien, und daß die Arbeiter mit den Unternehmern darin völlig übereinstimmten, daß Organisationen unangenehme und peinliche Dinge seien, die nur an der Arbeiterschaft schmarotzten. Und während die Gewerkschaftsführer verhandelten und erwogen und vorbereiteten, wurden die Stahllager aufgefüllt, wurde mit voller Kapazität gearbeitet, wurden Nachtschichten eingelegt, wurde der „Geist der Arbeit“ geschürt. Dann fiel die Nachfrage, dann waren alle Aufträge befriedigt, dann waren die Lager überfüllt, und der Moment gekommen, wo die Unternehmer höhnen konnten: „Streikt doch, wenn es euch Spaß macht!“ Nicht einmal ein Kompromiß kam zustande, es gab nur triumphierende Schlagzeilen in den Zeitungen: „Stahlstreik abgeblasen !“ Das war das Signal zu weiteren Attacken der Unternehmer. Die Stahlarbeiter besaßen noch einiges mehr als ein Rasiermesser. Sie konnten noch die Zeitungen lesen, sie waren nicht gezwungen, auf ihnen zu schlafen. Sie sahen in den Kinos, wenn auch mit zwei Wochen Verspätung, die Heirat der Astors, und sie waren imstande, darüber in Träume zu versinken . Sie applaudierten noch immer dem Lächeln Roosevelts, wenn auch schon mit etwas weniger Enthusiasmus.
Wer zwölf Stunden am laufenden Band arbeiten kann, der kann auch sehr lange auf eine neue Konjunktur warten. Wer drei Stunden am Radio den Ergebnissen des Base-Ball-Matches zu lauschen imstande ist, der verliert nicht so leicht den Mut. Nur wer in sommerlichen Nächten in Müllkästen wühlt, dessen Träume gleiten unter Umständen ins Kriminelle, dem erscheinen die tränenden Augen einer hungrigen Frau wichtig genug, die Welt mit sich selbst auszulöschen. Die Stahlarbeiter, noch weit davon entfernt, in den Augen Nokofskys mehr als den Irrsinn zu lesen, drangen in ihren Erwägungen vorerst nicht weiter vor als bis zu dem Gedanken, daß es wohl nicht angebracht sei, Löhne zu kürzen während andere Menschen Hochzeitsgeschenke machen, die in die Millionen gehen.
Der Streik war abgeblasen. So sehr dies die Arbeiter bedrückte, so sehr schöpften die Unternehmer daraus neuen Mut. Gewiß, da waren die Versprechungen der Regierung, die den Arbeitern das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren, zusprachen. Da waren die Kollektivverträge, die festgelegten Arbeitsstunden, die Minimallöhne. Die Unternehmer hatten nichts gegen Minimallöhne und auch nichts dagegen, daß sie festgelegt wurden. Die richtige Geldpolitik der Regierung sorgte schon dafür, daß die Lohnkosten fielen. Die Preise stiegen wacker, und die Minimallöhne wurden so zu Hungerlöhnen. Die Arbeitszeitverkürzung wurde durch die weitere Rationalisierung aufgewogen. Ein neues Räderwerk trieb das laufende Band um so schneller, je mehr die verkürzte Arbeitszeit zum Allgemeingut wurde. Was machte es aus, daß die Arbeiter zwei Stunden früher erschöpft in die Betten fielen, die Produktivität blieb nicht nur dieselbe, sie stieg. Nur organisieren durften sich die Arbeiter nicht. Sie als geschlossene Gruppe in den Betrieben sich gegenüberzusehen, das war den Unternehmern ein Greuel. Das heißt: man war nicht prinzipiell gegen Organisationen. Man stimmte der Regierung zu, daß die Arbeiter zusammengefaßt sein müßten, daß diese Organisationen in den Staatsmechanismus eingefügt werden sollten, aber wenn schon Organisationen, dann sollten es die eigenen sein. „Haben wir nicht wundervolle Werkvereine?“ argumentierten die Unternehmer. „Laufen unsere Organisationen nicht wie geschmiert? Haben wir nicht bereits die vorbildliche Zusammenfassung der Arbeiter in Organisationen, wo die Vorgesetzten zugleich die Führer sind ? Gelb nennen die Hetzer unsere Werkvereine, rot wollen sie sie haben, aber noch sind wir es, auf die sich die Regierung zu stützen hat, und es wird Zeit, auszusprechen, daß unsere Organisationen die von der Regierung gewünschten sind! Kümmern wir uns nicht um die Schwangerschaften unserer Arbeiterinnen? Senden wir nicht Gratulationen bei Kindestaufen? Lassen wir unsere Jugend nicht nach Feierabend auf unseren Spielplätzen Tennis spielen? — Radikale Arbeitergewerkschaften? Ausgeschlossen! Wir leben in der Demokratie. Die Monopolisierung der Arbeit, das ist das Ende der individuellen Freiheit, für die unsere Väter gekämpft haben.“ Die Unternehmer sandten ihren Arbeitern Postkarten ins Haus: „Hiermit erkläre ich meinen Eintritt in die Werkgemeinschaft der XY-Compagnie...“ Wer nicht unterzeichnete, dessen Tage waren gezählt, der flog auf die Straße, der lernte langsam die Handlungen eines Nokofsky von einem neuen Gesichtspunkt aus verstehen.
In Austin (Minnesota) gab es keine Gewerkschaften und es gab auch keine Streiks. Jahraus-jahrein ging die Mehrzahl der Arbeiter in Hormels Fleischfabrik, zerlegte und verpackte Schweine und Kälber. Sie gingen dorthin mit ihren individuellen Wünschen und Sorgen, sie waren echte Amerikaner, sie verteidigten die Demokratie, und ging es auch auf Kosten ihrer Gesundheit. Der Fleischkonsum ging zurück. „Die Krise macht die Menschen gesünder!“ sagten die Vegetarier. „Es werden weniger Leichen gegessen.“ Aber es war nicht so sehr eine neue Erkenntnis als die Riesenarbeitslosigkeit, welche die Geschmackswendung vom Fleisch zu Makkaroni mit sich brachte. Hormel hat sich der allgemeinen Rationalisierung anzuschließen. Weniger Arbeiter zerlegten mehr Schweine, obwohl mehr Arbeiter weniger Schweine verzehrten. Die Stadt Austin erhoffte von Roosevelt die Beendigung dieses widerspruchsvollen Zustandes und das mit gutem Recht, denn es hatte seinen Präsidenten fast einstimmig gewählt. Noch wurde jedoch weiter entlassen, noch wurde das Tempo der gebogenen Messer beschleunigt, die durch die Seiten der Schweine zu flitzen und die Koteletts vom fetten Speck zu lösen hatten. Mehr und mehr Schlächter, Kocher und Handlanger suchten nach neuen Berufen. Bald hatte die Stadt mehr Reisende und Hausierer als Käufer. Mehr und mehr Leute zogen in die improvisierten Laubenkolonien vor der Stadt und begannen in Konservenbüchsen den Abfall der Markthallen zu kochen.
Dann brach die neue Zeit an: die Ära der Arbeitsgemeinschaft, der Organisierung des öffentlichen Lebens. Vorbei war es mit dem Individualismus. Weder John Jacob Astor noch Nokofsky waren der Ausdruck der Zeit. Sie füllten nicht mehr die ersten Seiten der Zeitungen. Diese standen nun im Zeichen des Sieges der Vernunft, im Zeichen des „Blauen Adlers“, der sozialen Geste, der „Sektion 7A“ des Wiederaufbauprogrammes. Die Sprache ist eine seltsame Sache, man kann mit ihr ebensoviel verschleiern, wie man mit ihr enthüllen kann. Die Frage des kollektiven Zusammenschlusses der Arbeiter bedurfte der Klärung. Jeder legte sie seinen Interessen entsprechend aus. Worte sind nicht eindeutig. Die Arbeiter richteten Briefe an die Regierung, die Unternehmer sandten Telegramme. Die Theorie war etwas anders als die Praxis. Die Antworten waren so verschwommen wie die ursprüngliche These. Sollte man Beiträge kassieren? Sollte man Versammlungen abhalten, Mitgliedsbücher einführen? Welche Art Organisation, mit welchen Rechten, welchen Pflichten?... Worte – Worte. Nichts kam wirklich in Gang. Aber das Interesse am Base-Ball-Spiel flaute um etwas ab, die Arbeiter politisierten, sie diskutierten Probleme, von deren Existenz sie vor ein paar Jahren noch nichts gewußt hatten.
Das schwarze Brett, auf dem eine neue zehnprozentige Lohnkürzung in bedauerndem Tone angekündigt wurde, entschied die Frage der Organisation. Die spontane Versammlung beschloß den Streik. Die gewerkschaftlichen Fragen schienen überholt zu sein. In wieviel Gruppen sollten sich die Arbeiter zusammenschließen? Die streikenden Hormelarbeiter waren die Organisation, ihr Streikausschuß war die Führung. Es bedurfte nicht einmal der Mitgliedskarten, der geschulten Vertreter. Die Streikkasse war die Kasse der Organisation schlechthin. Die Solidarität der Mitgliedsbeitrag.
Streik ? So etwas gab es ja gar nicht in der Auffassung der Herren Hormel und Co. Streik war ein Fremdwort in Austin und sollte es auch bleiben. Sie entließen die Arbeiter, sie sperrten sie aus. Die Ehre war gerettet. Die Arbeiter setzten sich vom Versammlungsort aus in Marsch. Unterwegs bewaffneten sie sich mit Knüppeln, Messern, Spaten. Sie drangen in das Werk ein, vertrieben die Spitzel und Pinkertons, besetzten die Tore und erklärten, die Fabrik nicht eher freizugeben, als bis die Lohnkürzung zurückgezogen sei. Ausgesperrt? So seht ihr aus! Wir streiken!
Selbstverständlich war in der Auffassung der reformistischen Gewerkschaftsführer der Streik nun ein wilder, er vertrug sich nicht mit den Prinzipien der Gewerkschaften. Diese schlossen sich vielmehr der Auffassung der reaktionären „Tribüne“ an, welche die Bestrafung der Arbeiter mit allen Mitteln forderte, da sie den Boden des Privateigentums verlassen hätten. „Das sind keine Streiker“, rief das entrüstete Blatt, „das sind Verbrecher.“ Aber noch vertrug die Arbeitsgemeinschaftspropaganda kein Arbeiterblut. Der Streik wurde siegreich beendet. Eine lokale Angelegenheit war abgeschlossen.
Nokofsky war, Gott sei Dank, eine Einzelerscheinung. Das Halsabschneiden war noch ein individuelles Problem. Die Betriebsbesetzung war ebenfalls ein Ausnahmefall, die Tat einer Gruppe von Verbrechern unter bestimmten lokalen Verhältnissen. Die Masse der Arbeiter konnte weder mit Nokofsky noch mit den Hormel-Verbrechern identifiziert werden. Geduldig, anständig lasen sie noch immer die Zeitungen und sahen mit Verachtung auf jene, die sich darauf betteten. Jedoch, obwohl eine lokale Angelegenheit, war die Aktion der Hormel-Arbeiter zugleich das Signal der heraufziehenden Streikwelle , die sich bald darauf über Amerika ergoß und in ein paar Monaten mehr für die Erziehung der Arbeiter leistete, als es zwanzig Jahre Agitation vermocht hatten.
Tausend Fensterscheiben zersprangen in Toledo. „Ihr wollt eine offene, unorganisierte Fabrik ? Allright! Da habt ihr sie!“ Die Arbeiter der Electric-Light-Werke waren gute Base-Ball-Spieler. Ihre Steine zerschmetterten mit unbedingter Sicherheit die blinden Fabrikscheiben und versetzten die von außerhalb herangezogenen Streikbrecher in Schrecken. Der Sheriff kam den Streikbrechern zu Hilfe. Man transportierte sie auf Lastwagen. Aber die Lastwagen wurden von den Streikenden umgeworfen. Da explodierten die Tränengasbomben. In ihrem Dunst versanken die Forderungen nach Anerkennung der Gewerkschaften, nach Lohnerhöhung und besseren Arbeitsbedingungen. „Nieder mit den Streikbrechern!“ Die Fabrik wurde belagert. Die Streikbrecher hungerten, sie konnten nicht schlafen, und so konnten sie auch nicht arbeiten; aber das war schon der Beginn des Bürgerkrieges. Die Nationalgarde rückte ein. Erschreckte Gesichter, Stahlhelme und Gasmasken, aufgepflanzte Bajonette. Die Bleisoldaten des Bürgertums: halbreife Bauernjungens, kleine Geschäftsleute, geknechtete Schreiberseelen, ewig dem Soldatenspiel hingegeben, da sie sonst nichts galten. Ausschwärmen! Die Steine der Streiker trafen nicht mehr Fensterscheiben. Feuer! Vier Tote, dreißig Verwundete. Verhaftungen. Haussuchungen. Prügel. Mehr und mehr Gas.
Der Belagerungszustand verbot wohl das Streikpostenstehen, jedoch nicht den Streikbruch. Auch Steve Kardos wollte sein amerikanisches Bürgerrecht, das ihm freistellte, sich zu verkaufen, wann und an wen er Lust hatte, nicht von einer Rotte stadtfremder, eigennütziger roter Agitatoren verletzen lassen. Steve arbeitete. Er war ein junger Mann, der Wert darauflegte, daß seine Bügelfalte so scharf wie möglich durch die Luft schnitt. Sein Anzug war auf Taille gearbeitet, wie die der Ansager in den Kabaretts. Seine Kravatte hatte eine leichte Wasserfarbentönung, und neben diesen äußeren Qualitäten besaß Steve noch vielerlei ehrenhafte Ambitionen. Noch arbeitete er, aber bald würde er mit der Stoppuhr hinter seinen Kollegen stehen und die Akkordsätze berechnen. Und auch das würde sicher nur eine Stufe sein, die bald zu einem Meisterposten überleiten würde. Steve war ein verliebter Junge, bald würde er heiraten, sein Glück wuchs, sein Weg lag in klarer Schönheit vor ihm. Er wußte, wie man das Leben anzupacken hat. Jeder muß zuerst an sich selbst denken, erst dann kann man freundlich sein. Nach Feierabend und unter Menschen, mit denen er nicht zu konkurrieren hatte, war er ein in jeder Beziehung charmanter Kerl. Was hatte er mit dem Streik zu tun? Gewiß, die Löhne waren miserabel, aber konnte er deshalb seine Zukunft riskieren? Im Gegenteil, man mußte die Gelegenheit ergreifen, wo sie sich bot. Hier konnte er unter Umständen einen gewaltigen Sprung vorwärts machen. Sicher würde die Fabrik ihren ergebenen Arbeitern loyal entgegenkommen.
Steve hielt seine Lohntüte seinen streikenden Kollegen unter die Nasen. „Seht, Jungens, was ihr versäumt; ihr schädigt euch nur selbst.“ Man ließ ihm seine Lohntüte. Aber man zog ihm seine Kleider aus und trieb ihn nackt durch die belebten Straßen. Nur der wasserfarbene Schlips und die Socken bekleideten das lebende Symbol des Streikbruchs. „Nackt werden auch wir gehen müssen, wenn nicht bald mit den Steves Schluß gemacht wird!“
„Ihr seid Schweine“, sagte ein alter Wachtmeister, als er Steve befreite, „habt ihr denn keine Schwestern, keine Mütter ? Stellt euch doch mal vor, was die denken?“ Die Miliz war nicht so zartbesaitet, sie feuerte Gasbomben in die Häuser der Streikenden, trieb die Mütter und Schwestern im Hemd auf die Straßen, trieb ihnen für drei Tage schmerzende Tränen in die Augen. In ihrem Husten verfärbten sie sich, und einem Jungen riß eine Gasbombe den halben Schädel weg, aber die Miliz schämte sich durchaus nicht. Ja, die Zeitungen waren geschmückt mit den Bildern der Hoffnung Amerikas. Die Fabrik wurde zur Kaserne. Wo einst die scharfen Augen des Pförtners in die Herzen und Hosentaschen der passierenden Arbeiter drangen, richteten sich jetzt Maschinengewehrläufe auf die wartenden Streiker. Stoßtruppen gingen auf Strafexpeditionen. Verhaftungen über Verhaftungen.
Auf Waikiki lauschte Roosevelt den sentimentalen Liebesgesängen der Hawaiis, bewunderte ihre wollüstigen Tänze. Seine Frau kaufte in den verschiedensten Galerien Radierungen für das Weiße Haus und erregte mit ihren Dollarscheinen hungernde Künstler bis zur Ekstase. Ihre Söhne dinierten mit der Nackttänzerin Sally Rand auf der Chicagoer Weltausstellung. Sie sprachen alle viel und über viele Dinge. Keiner erwähnte den Guerillakrieg in Toledo. „Der Bürgerkrieg, das ist das Resultat der Roosevelt-Politik“, schrien die oppositionellen Blätter, die sich bereits für die neue Präsidentenwahl vorbereiteten. Roosevelt schwieg und fuhr durch den Panamakanal, bewunderte die Präzision der militärischen Manöver, angelte und bräunte sich. In Toledo begrub man die Arbeiter, die ihm in den Kinos zu laut applaudiert hatten.
In den Hotels und Restaurants von New-York bedienten sich die Gäste selbst. Damen der Gesellschaft bildeten Kochzirkel, erinnerten sich ihrer Pensionatserziehung und besprachen die eventuelle Möglichkeit, das Erlernte praktisch anzuwenden. Die Arbeiter hatten die dumpfen, dampfenden Küchen und Korridore der Hotels verlassen und sonnten sich auf der Fifth Avenue. Wo sonst elegante Damen Paris in den Schatten stellen, wo sonst die gepflegtesten Hunde promenieren, da demonstrieren jetzt Tausende Arbeiter für menschenwürdige Arbeitsbedingungen im Dienste des Übermenschentums. Streikbrecher verdarben die Speisen, Festessen wurden von radikalen Intellektuellen gestört, die elementarsten Rechte der Bourgeoisie wurden verletzt. Aber noch gab es blaue Uniformen und tänzelnde Pferde, die sich nicht genierten, Demonstranten zu überrennen. Und dann das Gas, das nicht nur Tränen erzeugt, sondern auch Neigungen zu Verhandlungen mit sich bringt und als Mutter der Kompromisse gefeiert wird. Kaum waren jedoch die rauhen Hände wieder mit der Zubereitung von Salaten beschäftigt, kaum summten die Staubsauger durch die Gänge der Wolkenkratzer, da wurde der Belagerungszustand über die Zigarrenarbeiter von Pennsylvania verhängt. Straßenkämpfe mit vielen Verletzten im Interesse der Raucher, die so oft betont hatten, daß von einer guten Fünfcentzigarre die Wohlfahrt Amerikas abhänge. Tausende Havannas wurden nun in den Dreck getreten, Autos umgeworfen, und statt des wundervollen kubanischen Aromas legte sich der Gestank von Tränengas über die Zigarrenstädte. Dann streikten die Töpfer in Ohio, die Bäcker in Chicago, die Kohlenarbeiter in Illinois. Die Kühe blökten, und die Schweine quiekten in den Schlachthäusern, als die Viehtreiber die Arbeit niederlegten und es den Pinkertons überließen, die künftigen Konserven und Räucherwaren abzufüttern. „Die Brutalität der Streiker ist abstoßend“, schrieben die bürgerlichen Blätter, „was haben ihnen die armen Tiere getan?“ Dreihunderttausend Textilarbeiter drohten mit Streik, hunderttausend waren schon auf den Straßen. „Ernst ist die Lage des amerikanischen Geschäfts“, schrieb die Chicagoer „Daily News“, „klar ist, daß streikende Arbeiter und stillstehende Maschinen keinen Reichtum erzeugen. Das allgemeine Elend wird nur vergrößert. Wo bleibt die Vernunft? Streik heißt nicht einfach Arbeitseinstellung, er bedeutet Aufruhr, Unterdrückung, Terror, Konflikte mit Militär- und Zivilbehörden. Der Streik ist der Ruin. Er wird nicht durch durchbrochene Arbeitsverträge, sondern durch zerbrochene Schädel charakterisiert. Streiken die Köche, so hungern die Nichtstreikenden; streiken die Arbeiter der Wasserwerke, dann durstet die ganze Bevölkerung. Streik ist Bürgerkrieg und muß als solcher behandelt werden.“
Streik ist Bürgerkrieg! Die Munitionsfabriken Clevelands zogen ihre Annoncen zurück. Das Geld konnte gespart werden, man konnte auch ohne Inserate kaum noch den Bestellungen nachkommen. Die Lake Erie Chemical Co. legte Überschichten ein. Tag und Nacht füllten sich Kisten mit Tränengasbomben. Sechs Dollar das Stück. Die Polizei, die Miliz, die Unternehmer kauften. Wer sagt, wir hätten eine Krise? Nicht nur der Unternehmer-, auch der Erfindergeist rührte sich. Streiker hatten Bomben, noch ehe sie explodiert waren, aufgehoben und in die Reihen der Polizei zurückgeworfen. Jetzt wurden Bomben gemacht, die so heiß wurden, daß es unmöglich war, sie anzufassen. Ist der Wind günstig, wird es nie mehr vorkommen, daß die Polizisten selbst vergast werden.
Der kritischen Situation erwuchsen die notwendigen Männer. Bergoffs „Industrielle Dienstgesellschaft“ florierte wie schon seit langem nicht. Er druckte auf feinstem Bütten neue Prospekte und sandte sie an die Büros des schaffenden Kapitals. Ausgebaut wurde, wie man lesen konnte, die „Antistreikabteilung“. Männer mit Führerqualitäten, Intelligenz, Courage, Überzeugungsgabe als Gegenkräfte der Streikagitation. Die „Geheimabteilung“, ausgesuchte männliche und weibliche Angestellte, die Informationen über die Betriebsstimmungen lieferten. Streikbrecher wurden großweise gehandelt. Wichtig war der Ausbau der „Schutzabteilung“, Männer mit militärischer Ausbildung und ausgesuchten Körpermaßen zur Sicherung von Leben und Eigentum. ...Machte nach der „Daily News“ der Streik Amerika arm und trieb es dem Ruin entgegen, so traf dies im Falle Bergoffs nicht zu. Der hatte goldene Tage. Er träumte davon, Agitatoren zu bezahlen, um die Streiks nicht abflauen zu lassen, um für sich das tausendjährige Reich des Profits aufzurichten.
Gasmasken für die Polizei und für die Pferde, Karabiner für die Polizei, Extragehälter für die Polizei ... alles für Ruhe und Ordnung. Und warum nicht? Was wollen denn diese Arbeiter ? Haben sie nicht ihre Minimallöhne, die verkürzte Arbeitszeit, leben wir nicht fast schon im Sozialismus? Ist Roosevelt nicht ein Bolschewikenhäuptling ? ... O nein, es geht garnicht gegen die Arbeiter, es geht gegen die rote Kanaille, die die Verfassung stürzen, den Rätestaat aufrichten will; es geht gegen den Kommunismus, der seine blutigen Finger jetzt auch nach Amerika ausstreckt. „Wer in die Luft schießt“, lautete der Dienstbefehl an die Nationalgarde, „kommt vor das Kriegsgericht“.
Streiks in Cleveland, in Detroit, in New-Orleans, in Kansas City, in Alabama, Streiks überall. Die Zwiebelpflanzer, die Tomatenzüchter, die Eisenbahner, die Gummiarbeiter, die Chauffeure werfen die Arbeit hin. Die Rebellion greift wie die Seuche um sich. Ja, selbst im Paradies wird gestreikt.
Mister Kohler of Kohler war ein Philanthrop. Nicht einer vom Schlage Nokofskys, wenn er auch selbst einst Arbeiter gewesen war. Aber das lag lange zurück. Doch noch immer hob er sich vom Durchschnitt der Unternehmer ab. Er wollte praktisch zeigen, daß die Arbeitsgemeinschaft kein leerer Wahn ist, daß das kapitalistische System durchaus harmonisch funktionieren kann, wenn man nur den richtigen Willen hat. Vom Klempner hatte er sich zum Beherrscher eines Monopols der Badewannenindustrie emporgearbeitet. Es gab nur wenig Wasserleitungen und Klosetteinrichtungen, die nicht die Handelsmarke „Kohler of Kohler“ trugen. Er verwandte grünes, blaues und schwarzes Porzellan. Er baute Badewannen im römischen Stil und Klosetts in Rokoko. Seine Nickelüberzüge waren unverwüstlich und die Formen der Wasserhähne kühn. Die elegantesten Frauen bewunderten sich täglich neu in seinen Kristallspiegeln, und die Scheuerfrauen rutschten auf den Knien über seine Mosaik-Fliesen. Um seine Fabrik baute er die Musterstadt Kohler, dem Mustermenschen Kohler ein ewiges Denkmal. Die Stadt war nach einem Plan gebaut — ein Stück sozialistischer Architektur — eine Insel im kapitalistischen Meer, ein Paradies! Der Stil der Häuser war den Träumen der holländischen Modernen nachempfunden, die Gärten waren ein Vorbild innigen Verständnisses zwischen Kunst und Natur. Die Schönheit war für die Arbeiter. Für sie waren auch die Geschäfte, die Banken, und langsam entfremdeten sie sich der Geldideologie, welche die Masse der amerikanischen Menschen noch immer bedrückte. Was Kohler ihnen gab, floß wieder zu Kohler zurück. Ihre Löhne verwandelten sich in Abgaben an die verschiedensten Einrichtungen der Kohlerschen Planwirtschaft. Kohler, das war Anfang und Ende. Man arbeitete für ihn, man kaufte von ihm, man roch seine Blumen, schlief in seinen Betten, liebte für seinen industriellen Nachwuchs, und die Gesichter der Arbeiter trugen bald auch seine Handelsmarke, ohne daß sie ihnen noch extra eingebrannt werden mußte.
Schnellsprechende Reformer, starkknochige sozialpolitisch wirkende Damen besuchten Kohler, schrieben über Kohler, verherrlichten ihn. Er selbst blieb ein einfacher Mensch, ganz seinen Plänen hingegeben, ein Künstler, wie ihn nur Sinclair Lewis besingen kann. Der Letzte seiner Arbeiter stand ihm so nahe wie sein eigner Bruder. Er war nur ein Teil des Werkes, wie alle anderen auch, und wenn er ins Büro fuhr und unterwegs einen Arbeiter sah, so lud er ihn ein, in seinem Auto Platz zu nehmen, und unterhielt sich mit ihm über Kaninchenzucht. Kohler, das war eine einzige große sich industriell betätigende Familie. Der Besitzer war nur der Vater, die Arbeiter die vielen Kinder, das Ganze war von Gott gesegnet. Oft gab es warme Worte der Anerkennung, oft auch einen wohlgemeinten Klaps. Solange die Prosperität anhielt, wurde das Paradies immer himmlischer.
„Die rote Propaganda greift um sich“, beklagten sich die bürgerlichen Blätter. Man jagte die Agitatoren, aber die wirkliche Streikpropaganda vollzog sich durch die Anschläge an den schwarzen Brettern. „Zwanzigprozentige Reduzierung des Personals“ ... es tut uns leid. „Zehnprozentige Lohnkürzung“ ...leider sehen wir uns gezwungen. „Unsere Überzeugung verbietet uns, in den Gewerkschaften die Formationen der Zusammenarbeit zu sehen, nach wie vor verhandeln wir nur mit jedem Arbeiter persönlich.“ Dann der Tanz der Knüppel auf den Köpfen der Streikenden, die blutenden Gesichter der Arbeiterfrauen, für die die Ritterlichkeit des Amerikaners nicht gilt. Die Arbeiter pochten auf ihr Recht, sie hatten es schwarz auf weiß, von Roosevelt selbst. Die Schicksalsgemeinschaft blieb Phrase, die Teuerung stieg. Streiks hier, dann dort, Signale, Zeichen, Beispiele. Es galt die Herren beim Wort zu nehmen. Der Moment schien auch für die Aspiranten der Gewerkschaftsposten gekommen; vielleicht ließ sich etwas bei der Geschichte heraushandeln. Sie drohten, forderten; die Arbeiter handelten.
„Keine Angst vor den Arbeitslosen, sie werden euch nicht in den Rücken fallen.“ Wohl spekulierte die Bourgeoisie auf ihre Not, wohl sind ihr die Nokofskys so wichtig wie die Polizei. Aber auch die Nokofskys ohne Rasiermesser pfiffen auf die Verpflichtungen, die aus ihrer gesellschaftlichen Position erwuchsen. Die Stadt Milwaukee hat nur tausend Straßenbahner, aber als diese in den Streik traten, demonstrierten sie in Stärke von fünfzigtausend Mann. Arbeitslose belagerten die Elektrizitätswerke, sprengten Leitungsträger mit Dynamit in die Luft, zertrümmerten die Hallen und die Fenster der Straßenbahnen. Arbeitslose schlugen sich mit der Polizei des sozialistischen Bürgermeisters um ein Stück praktischen Sozialismus. „Hier ist der Beweis“, tobten die bürgerlichen Blätter, „daß es nicht die Streiker sind, die hinter den Streiks stehen, sondern fremde Elemente; unter den Verhafteten befand sich nur ein einziger Straßenbahner, der Rest fiel unter die Kategorie der Landstreicher.“ Und wie es in Milwaukee war, so war es im Großen und Ganzen fast überall.
Vater Kohler war bis ins tiefste seiner Seele getroffen. Wie undankbar war doch die Welt. Seine Kinder blieben von der Streikseuche nicht verschont.
Sie verließen die elterliche Fabrik und beschimpften den Vater. Trotz dem vierten Gebot. Blinde, verhetzte, verführte Arbeiter; es schmerzte Kohler nicht wenig, daß er zu strafen hatte, aber wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie. Nicht alle seine Leibeigenen verrieten ihn. Da waren treue Seelen, gewillt, mit ihm durch dick und dünn zu gehen, gewillt, nach den sieben fetten Jahren auch die sieben mageren ohne Murren hinzunehmen. Seelen, die sich in die Lage Kohlers versetzen konnten, die mit ihm fühlten und mit ihm kämpften. Sie verließen die Betriebe nicht mehr. Roosevelts Postbeamte brachten ihnen mit der Paketpost die nötigen Lebensmittel. Ihre gefühlvollen Frauen und vernachlässigten Kinder planten einen Kreuzzug gegen die Streiker, um die Belagerung zu durchbrechen. Aber die Streikenden hatten Stricke um die Fabrik gezogen, sie hielten die Streikbrecher wie Ratten in der Falle. Die Stricke rissen erst, als die Polizei auf die Menge schoß, als sich das Gas der „Lake Erie Co.“ von neuem bewährte. Von den verzerrten Gesichtern der Toten war die Handelsmarke „Kohler of Kohler“ verschwunden. Mit dem rinnenden Blut der Verwundeten verrann auch die Illusion der Familienbande vollständig. Die einmarschierende Nationalgarde verwandelte die glatten Rasenflächen in Exerzierplätze. Das Paradies war erneut verloren. Die starkknochigen Wohlfahrtsdamen senkten betrübt die Köpfe. Margarete Sänger hatte die soziale Frage nicht gelöst. Kohler hatte sie nicht gelöst. Roosevelt versagte. Vielleicht brauchen wir tatsächlich einen amerikanischen Hitler!
Die „American Legion“ beschäftigte sich mit der Verfassung eines Gesetzentwurfes , der vorschlug, Alaska zu einem amerikanischen Sibirien zu machen. Zu den Wölfen mit den Ruhestörern, Kommunisten, Ausländern! General Johnson, der Chef des Wiederaufbauprogramms, überdachte die wirtschaftlichen Vorteile, die sich aus der Deportation von drei Millionen Nichtbürgern ergeben könnten. Die Hetzblätter des Hearst-Konzerns waren für einen kürzeren Prozeß, sie forderten zum Totschlag auf. Antistreikgesetze wurden eingebracht und erörtert. Der Präsident wurde mit einer Flut von peinlichen Fragen bombardiert. „Farbe bekennen! Der Feind steht links!“ Aber Roosevelt sprach nur von seinen Abenteuern beim Fischfang, von der Schönheit der Nationalparks, von der Gewalt der geplanten Dämme, von seiner Liebe zur Flotte. Kein Wort über die Streiksituation. In den Hospitälern quälten Kriminalbeamte verwundete Arbeiter, um ihnen Aussagen abzupressen. Die Gefängnisse füllten sich, den Toten wurden die Augen zugedrückt. „Es wird scharf geschossen. Verstanden!“ Der kluge Mann genoß und schwieg.
John Jacob Astor verläßt Vancouver. Er hat die finanziellen Arrangements für seine Frau zu treffen. Sein Gesicht ist sauer wie immer. Aber die amerikanische Szene betrübt ihn nicht. Er weiß nichts davon. Nur gewöhnliche Leute lesen Zeitungen. Er hat andere Sorgen, es gilt die richtige Bridge-Gesellschaft zusammenzustellen.
Frau Rose Tisachny fühlt die Fäden, die ihren Hals zusammenhalten. Es wird schon besser. Ein Wahnsinniger, dieser Nokofsky! Was mag ihr George jetzt tun, ob er sich im Waisenhaus wohlfühlt? Doch ihr Bett ist weiß und das Essen ihrem Leiden angepaßt. Was nur, was, wenn sie wieder entlassen ist? Vielleicht wird man ihr helfen. Vielleicht? Nur nicht denken, nur schlafen, schlafen.
Nokofsky liegt im Gefängnislazarett. Das Bett ist weniger weiß, das Essen weniger gewählt. Aber draußen sind nur die Müllkästendiners. „Laß man mit mir machen, was man will!“ Er lebt ja nicht mehr. Er ist blind wie ein Maultier in der Kohlengrube. Bücken muß man sich, um nicht anzustoßen. Trott-trott-trott... He! Hier geht es lang! ... He! Wenden! ... He! Friß! ...He! ...Trab! Und man hat ihm das Rasiermesser abgenommen.
In Minneapolis traten die Transportarbeiter in den Streik. Die Bauarbeiter schlossen sich ihnen an. Polizeichef Johannsen war ein begeisterter Verehrer Mussolinis, seine Polizeitruppe war klein. So drillte er tausend Freiwillige als Spezialpolizei für den Streikdienst. Leute, die zwanzig Jahre lang der Flagge salutiert hatten, die in den Kellerräumen der Kirchen Skat spielten und Vereinen angehörten, in denen anzügliche Witze wie Bücher zirkulierten, die auf Herrenpartien in versteckte Bordells gingen und mit den Polizisten Grüße wechselten. Die Streikblockade mußte durchbrochen, der Markt wieder lebendig werden. Kühn warfen sich die Extras auf die Streikposten, aber schnell flohen sie, ihre Toten und Verwundeten mit sich schleppend . Die Base-Ball-Knüppel der Arbeiter hatten nur ein Ziel: die Spezialpolizei , — und der kühne Traum Johannsens war ausgeträumt. Der fortschrittliche Gouverneur Olsen, fortschrittlicher noch als Roosevelt selbst, vermittelte. Eine Kompromißlösung kam zustande. Sobald die Bourgeoisie ihre Kräfte wieder gesammelt hatte, brach sie alle Abmachungen. Darauf begann der Streik von neuem. Johannsen ging diesmal mit bedeutend mehr Raffinement vor. Mit Polizei beladene Lastwagen, als harmlose Streikbrecherautos getarnt, provozierten die Streikposten. Als sich die Arbeiter den Wagen näherten, schoß man auf sie. Fünf Tote, sechzig Verwundete. Olson verhängte den Belagerungszustand. Truppen rückten in die Stadt ein. Ärzte, die verwundete Arbeiter pflegten, wurden verhaftet, das Streikpostenstehen verboten, die Streikführer aus der Stadt gewiesen. Flieger warfen Flugblätter ab. „Mitbürger, wollt ihr euch wirklich dem roten Terror beugen? Wollt ihr warten, bis es von den roten Kommissaren abhängt, ob ihr euren Geschäften nachgehen könnt oder nicht? Kämpft gegen die rote Pest.“ An den Straßenecken ballten sich die Arbeiter um die Redner: „Man schießt auf uns — Es lebe der Generalstreik!“
Resigniert übergab Madame Perkins, Arbeitsminister der Vereinigten Staaten, der Presse eine kurze, aber vielsagende statistische Aufstellung: „Während der ersten fünf Monate des Jahres 1934 verloren die amerikanischen Arbeiter durch Streikaktionen rund einhundertundfünfzig Millionen Arbeitstage. Der Lohnverlust überstieg fünfundsiebzig Millionen Dollar.“
Mehr als anderswo ist das Glück der Hafenarbeiter San Franziskos dem Zufall überlassen. Mögen sie auch ewig Hafenarbeiter bleiben, ihre Arbeit ist durchaus nicht permanent. Dauernd pendeln sie zwischen den Extremen widersprechender Gefühle. Wohl finden sie sich erwartungsvoll jeden Morgen in den Heuerhallen ein, aber nie wissen sie, ob sie nicht enttäuscht nach Hause gehen müssen. Sie bieten den Unternehmern eine große Auswahl, und diese sind, obwohl Unternehmer, doch Menschen mit speziellen Neigungen und besonderen Antipathien. Wer ihnen nicht paßt, der erhält nie einen Auftrag, doch sagt man ihm nicht, wie vergeblich seine ständigen Bemühungen sind. Die Hoffnung will man niemand rauben; die verliert sich schon von selbst. Die schiefe Nase eines Hafenarbeiters schloß ihn unter Umständen in die Kategorie der Nokofskys ein. Aber diese Willkür war zugleich System, sie brachte den belebenden Konkurrenzgeist auch unter die Arbeiter. Je mehr die Arbeitslosigkeit wuchs, je weniger Schiffe den Hafen anliefen, desto krasser erschien den Arbeitern das Naturgesetz der Heuerhallen als ein unwürdiger Zustand, und sie schickten sich an, es abzuändern. Sie forderten die Kontrolle der Hallen, doch lachte man ihnen ins Gesicht. Das war der Beginn des Streiks. Die Schiffe blieben ungelöscht im Hafen und gaben den Matrosen, Köchen und Kulis Gelegenheit, sich mit eigenen Forderungen dem Streik anzuschließen, denn auf See gilt der Streik als Meuterei. Der Hafen stank noch mehr als sonst. Die Waren verfaulten, und die Schiffsmagnaten bissen sich auf die Lippen. Streikbrecher versuchten ihre Talente, aber es wurde zu kostspielig; ein paar Autos glitten ins Wasser, und ein paar Köpfe mußten verbunden werden. Abwarten, der Hunger wird die Streiker schon mürbe machen. Wir können’s aushalten.
Aber der Hunger machte die Streiker nicht mürbe, und als für fünfzig Millionen Dollar Ware verfault war, gaben die Unternehmer ihre passive Haltung auf. Die Wasserkante wurde befreit. Unter dem Schutze der Polizei setzten sich die ersten Lastwagen vom Hafen aus in Bewegung. Die Streiker waren auf ihren Posten. Aber sie erreichten die Lastwagen nicht, das Feuer der Polizei warf sie zurück. Die Streiker rissen Pflastersteine aus der Erde, bombardierten die Angreifer, doch mußten sie weiter und weiter zurückweichen. Die Polizei drängte sie ins Wasser. Kugeln flogen durch die Luft. In einer Straßenbahn schrie eine Frau auf, sank um und starb auf dem Wege zum Krankenhaus. Zwei Tote, dreißig Verwundete auf Seiten der Arbeiter. Die Wasserkante wurde zum Kriegsschauplatz mit Sandsäcken und Maschinengewehren. Eisenbahnwaggons, von den Streikern in Brand gesteckt, wurden zu leuchtenden Fackeln, die dem zweiten Angriff der Streiker einen fantastischen Hintergrund gaben. Die Polizei säuberte die Quartiere der Seeleute. Gasbomben in die Kneipen, Gas ins Seemannshospiz, Gas in die billigen Hotels! Der Hafen war erobert. Aber der Streik hielt an, griff weiter um sich. Oakland, Portland, Seattle wurden einbezogen.
Die Arbeiter hatten keine anderen Waffen als die Pflastersteine. Aber sie hatten auch Kreide, und so zogen sie einen Kreis um die Stelle, wo ihre Genossen Sperry und Botloise tot zusammengebrochen waren. In den Kreis schrieben sie: „Hier machte die Polizei zwei Arbeiter nieder. Die Kugeln schlugen im Rücken ein.“ Rote Rosen umkränzten diese zwei Sätze, an denen tausende von Arbeitern vorbeigingen. Diese Arbeiter gingen zu Versammlungen, zu anderen Arbeitern, und sie brachten diese Sätze nicht aus ihren Köpfen. Die Toten führten die Versammlungen.
Der Generalstreikbeschluß wurde mit überwältigender Mehrheit angenommen. Man wartete die festgesetzte Zeit nicht ab, täglich verließen mehr und mehr Arbeiter die Betriebe, bis die Zahl der Streiker hunderttausend überschritten hatte.
San Franzisko war eine tote Stadt. So hatte sie nur einmal nach dem großen Erdbeben ausgesehen. Keine Straßenbahnen, keine Autos, leere Plätze, geschlossene Restaurants. Vor den Benzinstationen und den Fenstern der Geschäfte hingen Schilder: „Ausverkauft“. Wucherpreise — zertrümmerte Scheiben, Plünderungen. Nur die Milch- und Brotwagen fuhren, nur Elektrizitäts-, Gas- und Wasserwerke und die Telegrafenstationen funktionierten. Und die Presse konnte weiter geifern: „Die Kommunisten haben die Macht an sich gerissen. Man ist auf dem Wege zur Revolution.“ Die Streiker organisierten ihre eigene Polizei, um die notwendige Lebensmittelzufuhr zu sichern und den Ausschank von Alkohol zu verhindern. Die Presse machte die Menschen auch ohne Schnaps betrunken. Ihre systematische Hetze verängstigte sehr bald das „ehrbare Element“ in den Gewerkschaften. Man ließ sich in die Defensive drängen und schuf so die Voraussetzungen zur Niederlage . Durch das Radio tönte unangenehm die fette Stimme des fetten Bürgermeisters Rossi: „Die Arbeiter haben gar keinen Grund zum Streik. Sie brechen die Kontrakte. Es handelt sich hier um eine kommunistische Verschwörung, man will die Sowjetherrschaft aufrichten. San Franzisko ist nur ein Versuchsballon, gelingt es hier, so wird bald das ganze Land folgen.“
Bald war die gesamte Nationalgarde Californiens unter Waffen. Fünftausend Soldaten patroullierten in den Straßen Friskos. Eine Bürgerwehr wurde ins Leben gerufen. Die Zeitungen sprachen nur noch im Namen der Bevölkerung. Die Streiker verletzten die Interessen des Publikums. Es war offensichtlich, daß die streikenden Arbeiter nicht zur Bevölkerung gezählt wurden.
Die Gesellschaft San Franziskos hatte wenig zu tun. Die Salons und Klubs blieben geschlossen. „Aber das macht uns garnichts aus“, sagte eine bekannte Dame der Gesellschaft, „jetzt habe ich wenigstens Gelegenheit, meine Familie näher kennen zu lernen. Es ist ein wirkliches Erlebnis, mit Mann und Kindern den Abend zu Haus zu verbringen.“
Nur die wenigsten Millionäre leben in Frisko selbst. Sie haben sich in dem Villenvorort Piedmont eine ihnen völlig entsprechende Umgebung geschaffen. Da gibt es keine Arbeiter, keine Fabriken und keine Straßenbahnen, da gibt es auch keine Bettler und keine Kriegskrüppel. Dort haben selbst die Polizisten intelligente Gesichter und bessere Figuren in auf Maß gearbeiteten Uniformen. Selbst die Feuerwehr trägt blankere Helme und lungert in eleganten Sesseln vor den Toren ihrer Quartiere. Neuntausend Seelen zählt der Ort; neuntausend mit einem jährlichen Durchschnittseinkommen von fünfzig Millionen Dollar laut Steuereinschätzung und wohl dem doppelten in Wirklichkeit. War Piedmont auch in jeder Beziehung weit davon entfernt, die billigen Freuden und die niedrigen Sorgen der Masse der Friskoer zu teilen, so bemächtigte sich der Stadt doch eine große Aufregung, als sich der Generalstreik mehr und mehr verwirklichte. Lebten die Einwohner Piedmonts auch nicht mehr auf der Erde, so lag der Ort selbst doch in erschreckender Nähe der Frisko-Bay. Vielleicht konnte es den Verbrechern einfallen, ihren hungrigen Mägen in Piedmont eine gute Stunde zu bereiten. So rüstete sich denn Piedmont zur Verteidigung. Der Polizeichef sammelte die Freiwilligen auf den Golfplätzen, organisierte ein Korps von Millionären, vereinigte es mit der Feuerwehr. Jedes Haus erhielt eine Wache. Der Friseurgehilfe des Ortes wurde vorsichtshalber verhaftet. Seine Steuererklärung lag weit unter dem Durchschnitt. Der Paßzwang wurde eingeführt. Waffenübungen abgehalten. Die Straßeneingänge verbarrikadiert. Passierende Arbeiter mit Geschrei in die Gefängnisse geschleppt. Man spielte mit fast demselben Eifer Krieg, wie man sonst die Bälle über den Rasen trieb.
Die Angst der Millionäre beunruhigte William Green, den Präsidenten der American Federation of Labor, ungemein. In ihren Blättern ließ er sich also vernehmen: „Der Streik muß den Protest eines jeden anständigen Arbeiters hervorrufen. Ein Sympathiestreik hat noch niemandem geholfen. Die Streiker sind nahe daran, alles zu verlieren, was wir ihnen in langen Jahren errungen haben. Die Gewerkschaftsbewegung hat mit diesem Streik nichts zu tun.“ Tatsächlich, William Green hatte mit diesem Streik nichts zu tun. Sein Einkommen erlaubte ihm in Piedmont ein Haus zu beziehen. Seine kleinen Schweinsaugen folgten viel lieber den durch die Luft pfeifenden Gummibällen der Satten, als den zagenden Fingern der Arbeiter, die jeden Dollar drehen und wenden, um ihn wenigstens in der Erinnerung zu behalten. Daß die Arbeiter für die Rechte derjenigen Organisationen streikten, denen er als Präsident sein Gehalt entzog, war nur ein weiterer Beweis dafür, daß die Arbeiter nicht zur Bevölkerung gezählt werden können, daß sie tatsächlich nur als entmenschte Objekte der Piedmonter Gesellschaft zu betrachten sind. Für diese Gesellschaft war Green auch dann noch tätig, wenn er gegen sie streiken ließ, sobald die Ersparungskommissionen daran dachten, daß man eigentlich auch ohne Green auskommen könnte. Green bewies der Gesellschaft auf jede Weise, daß er unabkömmlich sei. Aber das in Frisko ging zu weit. Der Streik mußte zerbrochen werden.
General Johnson, der Green oft auf die Schulter klopfte, erhielt von der Universität California den Doktortitel, noch ehe er seine Ansicht über den Streik geäußert hatte. Wandte sich nun sein engster Freund gegen die Blindheit der Arbeiter, so konnte auch er nicht umhin, im Namen der Regierung den Streik zu verdammen. Die Brille zitterte auf seiner klobigen Nase; seine zu seinem Bulldoggengesicht in seltsamen Kontraste stehende weibische Stimme überschlug sich fast vor dem Mikrophon: „Ohne Zweifel haben die Arbeiter ein Recht auf den Streik. Jedoch ein Generalstreik, das ist etwas ganz anderes. Das ist die Bedrohung der Gesellschaft selbst, das ist der blutige Aufstand. Bei Generalstreik kann es keine Verhandlungen geben, da gelten die Kriegsgesetze.“
Diese Rede war das Signal zum allgemeinen Angriff. Die Bürgerwehr, von der Presse liebevoll die „Sorgenden“ genannt, setzte sich in Bewegung. Die „Sorgenden“ schwangen sich schwerbewaffnet auf die Automobile, vergaßen jedoch nicht, sich als Arbeiter zu maskieren, sie schmückten sich sogar mit den Gewerkschaftsabzeichen und begannen systematisch die Zentren der radikalen Arbeiterbewegung zu überfallen. „Die anständigen Gewerkschaftler selbst“, berichtete die Presse später, „rotteten das kommunistische Element mit Stumpf und Stiel aus.“ Der erste Angriff traf das Lokal der kommunistischen Zeitung „Western Worker“. Der zweite die I.W.W.-Halle, dann folgten die anderen Arbeiterklubs, Arbeiterheime, Versammlungshallen, Restaurants. Die Autos warteten mit angelassenem Motor vor den Türen. Gewehre hielten die Anwesenden in Schach. Mit Knüppeln wurden sie auf die Straße geprügelt oder zur Zerstörung ihres Besitzes gezwungen. Die „Sorgenden“ schützten das Eigentum. Türen und Fenster wurden mit Äxten zertrümmert. Stühle und Tische auseinandergeschlagen. Fahnen zerrissen, Schreibmaschinen zerstampft. Die „Sorgenden“ sorgten gründlich für die Erziehung der Arbeiter, sie zeigten den Streikern, was sie versäumt hatten, als sie die Presse ungehindert arbeiten ließen. Erst als die Zerstörung getan war, erst dann kam die Polizei. Prompt stets drei Minuten nach dem Abzug der „Sorgenden“. Und was den Letzteren nicht völlig geglückt war, vollendete die Polizei. Die Gefängnisse füllten sich mit hunderten von Arbeitern. „Neunzig Tage! — Neunzig Tage! — Deportation! — Neunzig Tage!“ so arbeiteten die Schnellgerichte.
Der Angriff der „Sorgenden“ galt nur als Mahnung an die Gewerkschaften. Was heute mit den Kommunisten geschah, würde morgen ihnen geschehen. Für die Streiker galt es jetzt, San Franzisko den Hals abzuschnüren. Es galt, die letzten Konzessionen rückgängig zu machen, der Stadt Brot und Milch zu entziehen. Jetzt mußte der halbe zum ganzen Generalstreik gemacht werden. Doch an diesem Punkte traf die Streiker nicht nur der Schlag der Bourgeoisie, sondern auch der Verrat der eigenen Führer. Die Warnung der „Sorgenden“ trieb den Gewerkschaftsbonzen den Schrecken in die Glieder. Man intrigierte, die radikalen Elemente wurden aus der Leitung gedrängt, der Streik selbst wurde abgeblasen. Die Gesellschaft war gerettet. Piedmont räumte die Barrikaden weg. Die Hafenarbeiter fluchten. Die Polizei vertauschte die Stahlhelme wieder mit den bequemen Mützen. Die Straßen wurden repariert. Die Kreide war vom Regen weggewaschen. Die gut angezogenen Damen der Friskoer Gesellschaft promenierten wieder auf den Boulevards und vergaßen ihre ehrbaren Vorsätze. Die goldene Sonne ergoß sich über die goldene Bucht der goldenen Stadt San Franzisko im goldenen Lande Californien.
Walter Lippmann ist ein ausgezeichneter und erfolgreicher Schriftsteller. Er begann, wie viele der heutigen großen und wieder klein werdenden Männer, als Sozialist. Ja, er war lange Zeit einer der radikalsten, der konsequentesten. Lippmann war ein Genie, das „von der Pike auf dienen“ war ihm nicht gegeben, und so sprang er bei dem ersten günstigen Augenblick zum Liberalismus über. Unter Wilson verdiente er sich Ehre und Anerkennung, er war einer der besten Kämpfer für die Sache der Demokratie. Im selben Maße, wie dann später der amerikanische Liberalismus sich der Sozialdemokratie zuneigte, wurde Lippmann, der seine Individualität zu wahren hatte, immer konservativer. Bei diesen Wandlungen vermehrten sich seine Kenntnisse und verbesserte sich sein Stil. Seine Ansichten, die in vielen Zeitungen täglich zu finden waren, waren die Meinungen eines großen Teils der amerikanischen Bevölkerung.
Wenn Lippmann einen Generalstreik abzuurteilen hatte, so sprach er nicht nur als sein Gegner, sondern auch als Fachmann, und seine Kritik hob sich wohltuend von dem geifernden Geschwätz des Durchschnitts-Journalisten ab. Nach seiner Ansicht war der Streik in Frisko: „nicht schlecht geführt; vielmehr war die Führung das Resultat eines schlechten Generalstreiks, der von Beginn an verloren war, da die Streikenden nur daran dachten, wie sie ihn am besten beenden könnten. Die Arbeiter kannten die Logik des Generalstreiks nicht, da sie keine Revolutionäre waren. Ja, sie hatten gar keinen richtigen Generalstreik, denn der ist mit der Revolution identisch, die sich natürlich nicht um Milch und Brot kümmern würde. So zwangen sie die Stadt nicht in die Knie, sondern belästigten sie nur. So schwächten sie nicht, sondern stärkten die Kräfte der Regierung. So überzeugten sie die Bevölkerung nicht, sondern provozierten sie. Deshalb mußten sie unterliegen. Ein schlechter Generalstreik ist jedoch nicht der Rede wert, und es geschah den Streikern ganz Recht, dafür zusammengehauen zu werden. In einer Demokratie kann es dann auch gar keinen Generalstreik geben, da er die individuellen demokratischen Rechte aufhebt. Da die Leute aber keine Revolution machten, so ist es klar, daß die ganze Geschichte völlig widersinnig war.“ Kavaliermäßiger ließ sich der Streik nicht aburteilen. Die Leute waren ja garnicht satisfaktionsfähig, sie waren nicht einmal ihren eigenen Notwendigkeiten gewachsen. Lippmann bemitleidete fast die schlechte Logik der Arbeiter und überzeugte nebenbei noch seine Leser, daß er selbst einen viel besseren Generalstreik gemacht hätte. Offensichtlich hatte er Recht: der erste große Streik seit 1919 fand ein kleines Geschlecht. Die Arbeiter wurden geschlagen, noch ehe sie sich wirklich gereckt hatten. Nichts war dabei herausgekommen als die geistreiche Polemik Walter Lippmanns.
Gewiß, die Arbeiter Friskos waren geschlagen, aber in ihrer Niederlage erstarb auch der Schwindel vom Klassenfrieden, zerfiel auch der Respekt vor der Lippmannschen Phrase. Die bewaffneten Horden hatten ihnen keinen neuen Respekt vor der Demokratie eingeflößt, sondern sie mit einer Skepsis gefüllt, die ihre Gedanken in neue Bahnen lenkte. Sie dachten nach. Der Streik hatte um die Kontrolle der Heuerhallen eingesetzt, eine so kleine und unwichtige Sache, und er endete vor den Toren des Bürgerkrieges. Tote, Verwundete, Verhaftungen und Deportationen, und nur darum, weil die Hafenarbeiter etwas mehr System in die Arbeitsverteilung bringen wollten. Wie würde man ihnen erst antworten, wenn sie mit größeren, wichtigeren Forderungen aufträten? Wie, wenn sie die Versprechungen Roosevelts zu kassieren gedächten? Die Base-Ball-Enthusiasten begruben ihre Toten und saßen mit bitteren Gesichtern und unbeweglichen Händen in den Kinos. Man lächelte sie an und schoß ihnen in die Rücken. Das war das Wiederaufbauprogramm. Sie wußten am besten, daß sie keine Revolutionäre waren; weshalb jedoch behandelte man sie als solche? Sie waren gezwungen sich so zu wehren, wie Revolutionäre sich wehren würden, und sie waren gezwungen, sich um die Logik des Generalstreiks zu bemühen. Nichts anderes blieb ihnen übrig. Es war nicht die erste und letzte Welle, die gegen die Frisko-Bay rollte, andere würden folgen, wuchtigere, größere, Zeichen der heraufziehenden Flut, die einst alle Dämme wegspülen wird, und die ihre Kraft nicht zuletzt aus den bisherigen Niederlagen schöpft.
Die Arbeiter dachten auch noch über etwas anderes nach. Sie entwickelten die demagogische Neigung, in den Schicksalen Nokofskys und John Jacob Astors das Spiegelbild der heutigen Welt zu sehen. Das wirkliche Leben drückte sich in diesen Extremen merkwürdig klar aus. Die Astors und die Nokofskys, sie standen ihnen durchaus nicht fern. Die Welt atmete, arbeitete, hungerte und schoß für die Astors. Sah man sie auch nur auf der Leinwand, waren sie selbst auch unerreichbar fern, so zogen sie doch mit dem Gas in die Lungen der Arbeiter und flogen ihnen als Geschosse in den Rücken. Je ferner sie den Arbeitern waren, desto mehr bestimmten sie ihr Leben und ihren Tod. Und würden sich die Arbeiter nicht Klarheit aus den Extremen holen, sähen sie nicht, daß auf der anderen Seite der Medaille, die Astors Züge trägt, die hungrigen Augen Nokofskys flackern, dann würden sie bald selbst sein Schicksal zu teilen haben. Wie lange wird es dauern, und sie selbst würden nichts mehr in den Händen halten als ein rostiges Rasiermesser. Allein Klassen können nicht mit Individuen verglichen werden. Wenn eine Klasse zum Messer greift, dann gilt es bestimmt nicht dem eigenen Hals.
New-York, Herbst 1934.
Zuletzt aktualisiert am 26.1.2009