Paul Mattick


[Rezension von Kapitalismus in den siebziger Jahren]

(August 1972)


Aus: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin, August 1972, Heft 16, S. 118-21.
Transkription/HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.



Kapitalismus in den siebziger Jahren. Referate vom Kongreß in Tilburg im September 1970.
Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt. 1971. 295 S. DM 32,–.


Diese Sammlung von 12 Referaten beginnt mit der Geschichte des Kapitalismus und seiner Bewegungsgesetze und endet mit der Frage nach der Zukunft der unterentwickelten Länder. Dazwischen wird fast alles berührt, was sich auf die Problematik des heutigen Kapitalismus bezieht. E. Mandel eröffnet die Diskussion mit einem Beitrag, der sich gegen die Reduzierung der Geschichte auf die Theorie wendet. Seiner Ansicht nach reichen die abstrakten Bewegungsgesetze des Kapitals nicht aus, um dessen Geschichte zu verstehen. Es müsse auch auf die empirisch-historischen Erscheinungsformen eingegangen werden, wie z. B. auf das „Gesetz der ungleichen und kombinierten Entwicklung“. Es stimmt natürlich, daß der Kapitalismus sich zuerst in bestimmten Ländern entfaltete und damit die Entwicklung der Wirtschaft von vornherein einem ungleichen Werdegang unterwarf. Die kapitalistische „internationale Arbeitsteilung“ zusammen mit den Konzentrations- und Zentralisationsaspekten der Akkumulation teilten die Welt in entwickelte und unterentwickelte Länder. Aber diese Feststellung besagt nur, daß das „Gesetz der ungleichen und kombinierten Entwicklung“ keine besondere Erscheinung, sondern nur ein anderer Ausdruck für die kapitalistischen Bewegungsgesetze ist.

Mandel zufolge waren alle bisherigen marxistischen Entwicklungstheorien zu keinem gültigen Resultat gelangt, weil sie unberechtigterweise versuchten „das Problem auf einen ‚grundlegenden’ Faktor zu reduzieren „. Er opponiert z. B. gegen R. Luxemburg und H. Grossmann, die ihre Akkumulationstheorien aus den Marxschen Reproduktionsschemata des Kapital abgeleitet hätten und damit zum Scheitern verurteilt gewesen seien. Mag dies im Falle Luxemburgs auch zutreffen, so nicht für Grossmann, der die kapitalistische Zusammenbruchstendenz durch die Anwendung des Marxschen Wertgesetzes auf den kapitalistischen Produktions- und Akkumulationsprozeß nachwies. Die diesbezüglichen Ausführungen Mandels weisen auf eine mangelnde Sachkenntnis hin. Es war Marx nicht eingefallen, wie Mandel behauptet, anzunehmen, daß die Reproduktionsschemata nachwiesen, warum das kapitalistische System „sich nicht in ständiger Unruhe und ständigem Zerfall befindet, sondern periodisch zum Gleichgewicht gelangen kann“. Aus dieser falschen Interpretation zieht Mandel den nichtssagenden Schluß, daß die kapitalistische Entwicklung „als eine dialektische Einheit von Gleichgewicht und Ungleichgewicht“ verstanden werden müsse.

Für Mandel ist die kapitalistische Produktionsweise „eine dynamische Totalität, in der die Wechselwirkung aller Bewegungsgesetze notwendig ist, um eine gegebene spezifische Entwicklung zu entfalten“. Nicht das Besondere der kapitalistischen Produktionsweise, die Mehrwertproduktion und die Verwertung des Kapitals, ist für ihn ausschlaggebend, sondern der Kapitalismus in seinen vielfältigen Erscheinungen, da „alle Grundvariablen des Systems zum Teil unabhängige Variable sind“. Während Marx alle wesentlichen kapitalistischen Erscheinungen auf das Wertgesetz zurückführte, d. h. die zwieschlächtige Natur der Produktion als Tausch- und Gebrauchswertproduktion, will Mandel den äußeren Erscheinungen des Marktes eine eigene, den inneren Zusammenhängen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse selbständig gegenüberstehende Gesetzmäßigkeit verleihen. Er bemerkt nicht, daß von einer „Wechselwirkung“ hier keine Rede sein kann, da die vielseitigen Markterscheinungen nur die fetischisierten Formen der ihnen zugrunde liegenden Produktionsverhältnisse sind. So spricht Mandel eigentlich nicht über das Verhältnis von Theorie und Geschichte, sondern von der banalen Tatsache, daß die Geschichte mehr als jede Theorie ist. Mandels unübersehbare „dynamische Totalität“ der Geschichte gibt keinen Aufschluß über ihre Entwicklungstendenzen, hingegen kann die Entdeckung der letzteren die Totalität durchsichtig machen.

Mit Mandels eklektischer Methode läßt sich alles und nichts erklären, wie es sich denn auch aus seinen dem heutigen Kapitalismus gewidmeten Ausführungen ergibt. Die sich bei ihm anhäufenden, aber zusammenhanglosen Beschreibungen der vielseitigen Erscheinungen der kapitalistischen Welt lassen alle möglichen Schlußfolgerungen zu. Die von ihm selbst gezogenen Konsequenzen weisen auf eine „allgemeine Krise“ des Systems hin, die in der zunehmenden staatlichen Lenkung der Wirtschaft ihren Ausdruck findet. Damit verliert nach Mandel „nicht nur die Realisierung, sondern auch die Produktion des Mehrwerts mehr und mehr an Bedeutung gegenüber einer strafferen und strengeren Kontrolle aller Produktions- und Reproduktionsfaktoren, hauptsächlich der Arbeiterschaft selbst.“ In Wirklichkeit haben diese Kontrollmaßnahmen jedoch keine andere Funktion als die der Produktion und Realisierung des Mehrwerts.

Es ist eine Erholung, nach Mandel sofort auf E. Altvaters Referat über die kapitalistischen Klassenverhältnisse zu stoßen, die für ihn, nach wie vor, durch das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital bestimmt sind. Altvater zeigt anhand der Marxschen Begriffe der produktiven und unproduktiven Arbeit und mit Argumenten, die sich gegen Baran/Sweezys „Neo-Marxismus“ richten, daß die tendenziell wachsenden Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals und die Kämpfe der Arbeiterklasse einander bedingen, was sich in den kommenden ökonomischen Krisen erweisen wird. Auch M. Dobb. der über die Marxsche Wert- und Verteilungstheorie sprach, wies nach, daß sich diese Theorie trotz der kapitalistischen Veränderungen als „Instrument der Kritik“ der politischen Ökonomie auch weiterhin bewährt. Damit erschöpft sich der allgemeine ökonomisch-theoretische Teil des Buches. Die weiteren Beiträge wenden sich Spezialgebieten zu, wie denen des Staates, des Imperialismus, der Inflation und der revolutionären Strategien in den kapitalistisch entwickelten wie unterentwickelten Ländern.

J. Valier bemüht sich, die Inflation auf den kapitalistischen Akkumulationsprozeß zurückzuführen. Danach „erwirkt das Monopol eine Erhöhung der Verkaufspreise, die nicht nur den Extraprofit steigern, sondern auch die Profitrate der kleinen – nicht monopolistischen Unternehmen erhält“. Obwohl es stimmt, daß alle Preise steigen, so ist damit nicht gesagt, daß auch die Profitraten der konkurrierenden Kapitale dabei erhalten bleiben. Auch die Geldlöhne steigen mit der Inflation, um als Reallöhne zu fallen. Das ist der ganze Sinn der Inflation. Mit oder ohne Inflation beschneidet der monopolistische Extraprofit die Profite der konkurrierenden Kapitale, da es sich hier um eine Übertragung von Profiten der letzteren auf die Monopole handelt, was in der zunehmenden Kapitalkonzentration seinen Ausdruck findet. In dem Maße aber, in dem diese monopolistische Profitübertragung zunimmt, vermindert sich ihre weitere Möglichkeit durch die progressive Vernichtung des konkurrierenden Kapitals. Es ist auch nicht richtig, wie Valier annimmt, daß die staatliche Beeinflussung der Inflation darin zu sehen ist, daß eine Situation angestrebt wird, in der „die Gesamtnachfrage meistens auf einem höheren Niveau als das Gesamtangebot gehalten wird; diese Interventionen rufen die Geldpolitik hervor, die die erforderlichen Bedingungen für die schleichende Inflation setzt“. Es ist inzwischen offensichtlich geworden, daß sich die Inflation auch ohne Steigerung der Gesamtnachfrage und bei wachsender Arbeitslosigkeit fortsetzt, einfach als Mittel der Profiterhaltung und der Finanzierung der unprofitablen staatlichen Ausgaben.

Ein Beitrag R. E. Rowthorns geht über die staatliche Geldpolitik hinaus, um sich im Sinne der Leninschen Imperialismustheorie mit der Identität von Staat und Kapital und mit der durch sie bestimmten weiteren Entwicklung zu beschäftigen. Er bezieht sich dabei auf Lenins Behauptung, daß „im Spätkapitalismus, in dem die Monopole vorherrschen, der Export von Kapital das typische Merkmal des Kapitalismus ist“. Es fällt ihm nicht auf, daß sich dieser „Spätkapitalismus“ auf den Kapitalismus vor 70 Jahren bezog und daß Lenin von Kapitalexporten in unterentwickelte Länder sprach, nicht von der gegenseitigen Kapitaldurchdringung der dominierenden imperialistischen Staaten. Lenins schon damals falsche Theorie läßt sich nicht auf die heutigen Zustände anwenden, und so leiden Rowthorns spekulative Erörterungen über die imperialistische Weltpolitik nicht nur an Überzeugungswillen, sondern auch an Überzeugungskraft.

Es ist eigenartig, daß der Begriff des „Spätkapitalismus“ stets mit dem der „neuen Arbeiterklasse“ verbunden ist. H. Gintis beschäftigt sich mit dieser „neuen“ (qualifizierten) Arbeiterklasse in ihrem Verhältnis zur revolutionären Jugendbewegung, womit er die radikale Studentenbewegung meint. Es geht ihm um die Schaffung einer „Gegenkultur“, da der alte Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital nicht ausreicht, um revolutionäres Bewußtsein zu entwickeln. Da die kapitalistischen Widersprüche „durch die Befriedigung der wesentlichen physischen und materiellen Bedürfnisse der meisten Menschen in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern sehr viel schwerer faßbar sind“, muß man, Gintis zufolge, „die speziellen Übergangsmechanismen umreißen, die von den gesellschaftlichen Widersprüchen zu kulturellen Widersprüchen führen“. Die Widersprüche eines gesellschaftlichen Systems sind für Gintis „nicht durch seine Schwäche, sondern durch seine Stärke“ gegeben, und, um sie zu erkennen, wäre eine „strukturelle-funktionelle Analyse der herrschenden Institutionen notwendig“. Es handelt sich hier um eine Wiederholung der Gedankengänge, die Marcuse in Der eindimensionale Mensch formuliert hat. Aber was bei Marcuse Ausdruck tiefster Enttäuschung über den Lauf der Geschichte war, wird in Gintis’ Händen zu einer „treibenden Kraft der Revolution „ und zur Hoffnung auf eine Zukunft, die der herrschenden Irrationalität ein Ende macht. In Wirklichkeit ist es aber nur ein Nachklang der dominierenden Ideologie der sechziger Jahre, die der heutigen Realität bereits unterlegen ist.

Während sich Gintis’ Ausführungen auf die inneren Zustände in den Vereinigten Staaten beziehen, befaßt sich V. Perlo mit dem amerikanischen Imperialismus, der, nach Leninscher Schablone, unter den Schlagworten Monopole, Finanzoligarchie, Kapitalexport, staatlicher Monopolkapitalismus, Militarismus usw. behandelt wird. Zum Glück verliert seiner Ansicht nach der amerikanische Imperialismus bereits an Boden – einerseits durch eine einheimische Opposition, andererseits durch internationale Verluste. Perlo spricht von einer internen „breiten Volksbewegung“ und von „Massenkämpfen“, die sich gegen den Imperialismus richten, aber in Wirklichkeit spricht er überhaupt nicht, sondern zitiert nur die völlig einflußlosen Propagandaschriften der Kommunistischen Partei der USA. Zudem bezieht sich seine Phrasendrescherei auf eine Propagandalinie, die schon wieder überholt ist, da sich der amerikanische Imperialismus anschickt, mit dem russischen ins Geschäft zu kommen. Jedenfalls hat dieses Referat nichts mit dem Kapitalismus der siebziger Jahre zu tun. Es ist nur eine gewissenlose Apologie für die russische Außenpolitik.

Mit dem amerikanischen Imperialismus setzen sich auch die Beiträge von T. des Santos, M. de Cecco, R. D. Wolff und B. Sutcliffe auseinander. Santos führt die relativ ungestörten nationalen Reformbewegungen in Lateinamerika auf die durch die Wirtschaftskrise und den Krieg in Indochina verursachte momentane Schwäche der USA zurück, die sie von direkten Eingriffen zurückhält. Allerdings verspricht sich Santos nicht viel von den Reformbewegungen. Doch läßt er die Frage offen, warum die linken Bewegungen in Lateinamerika „unfähig sind, die Radikalisierung der Massen revolutionär zu wenden „. Sutcliffe knüpft an die von Santos angeregten Fragen an. Vom Standpunkt des Trotzkismus ausgehend, nimmt er zur Kenntnis, daß Teile der Bourgeoisie oder der Armee reformistische Bewegungen auslösen und den Imperialismus bekämpfen können, ohne damit dem Sozialismus dienlich zu sein. Man müsse deshalb „die Reformen verteidigen und die Reformisten angreifen“. Er weist jedoch darauf hin, daß die Zerstörung des Kapitalismus in den rückständigen Ländern von einer „Veränderung in der Sowjetunion, oder, vor allem, von dem zukünftigen Fortschritt der revolutionären Kämpfe der Arbeiterklasse in den fortgeschrittenen Ländern“ abhängig sei. So sei das Augenmerk nicht nur auf die national-revolutionären Bewegungen zu richten. Der Kapitalismus müsse an allen Fronten gleichzeitig bekämpft werden.

Wenn Cecco über den Einfluß der multinationalen Gesellschaften auf die Wirtschaftspolitik der unterentwickelten Länder schreibt, so vornehmlich über die Öl-Investitionen und den amerikanischen Anteil an diesen Investitionen. Er stellt jedoch fest, daß „im Ganzen gesehen die Auslandsinvestitionen in den Wirtschaften der unterentwickelten Länder im Absteigen begriffen sind“, hält aber eine Änderung dieser Situation für möglich. Neben anderen Dingen untersucht er weiterhin, ob die Anwesenheit der ausländischen Gesellschaften den Entwicklungsbedürfnissen der unterentwickelten Länder zuträglich ist und kommt zu dem Schluß, daß eine selbständige Entwicklung vorzuziehen wäre, da die Verwendung lokaler Mittel durch die ausländischen Gesellschaften einen niedrigeren Beschäftigungsgrad mit sich brächte, als dies bei autarken Wachstumsbemühungen der Fall wäre. R. D. Wolff konzentriert sich auf das Gewebe finanzieller Aktivitäten, das durch die gleichzeitige Expansion der amerikanischen multinationalen Gesellschaften und der US-Banken gebildet wurde und einen wesentlichen Aspekt des amerikanischen Imperialismus darstellt.

A. Gorz bringt die Diskussion wieder auf die Frage nach den Aussichten einer revolutionären Strategie in den kapitalistischen Ländern zurück. Das setzt natürlich voraus, daß „objektive Bedingungen existieren, die die Massenmobilisierung ermöglichen“, Bedingungen, die für Gorz in Ländern wie Frankreich und Italien gegeben zu sein scheinen. Aber die möglichen revolutionären Situationen werden von den traditionellen Arbeiterorganisationen sabotiert, die ihre Aufgabe darin sehen, „die aufkommende Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse zu unterdrücken und sie auf gewerkschaftliche, parlamentarische und reformistische Forderungen abzulenken“. Es sei jedoch nicht sicher, daß diese Taktik auch weiterhin Erfolg haben werde, obwohl sie zu einer Situation führen könne, die die Alternative zwischen einer sozialistischen Revolution und neuen Formen des Faschismus eröffnet. Gorz wendet sich gegen die Marxisten-Leninisten aller Prägungen und ebenfalls gegen die Illusion, wonach die Völker der „Dritten Welt“ das einzig mögliche Subjekt der Weltrevolution seien. Sie könnten nur in Verbindung mit den revolutionären Kräften innerhalb der imperialistischen Metropolen den Kapitalismus überwinden. Die Revolution in den kapitalistischen Ländern setze aber die autonome und selbstorganisierte Aktion der Arbeiter voraus, und diese zu fördern, wäre die Aufgabe einer noch zu bildenden neuen revolutionären Partei, die sich nur als „Hilfsmittel für die Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse selbst versteht“.

Man sieht, daß auf dem Kongreß in Tilburg fast alle Arten der heutigen sich als „links“ und „revolutionär“ fühlenden Gruppen vertreten waren, von der offiziellen Kommunistischen Partei, über die Trotzkisten und Maoisten, bis zu den sich den Rätekommunisten nähernden Einzelgängern, die sich noch auf der Suche nach neuen Organisationen befinden. Was immer Negatives über deren Gesamtprodukt auch hier gesagt wurde, es soll niemanden hindern, das Buch zu lesen. Im Detail enthält es viele wichtige Einsichten und Feststellungen, die auch denen nützlich sein können, die sich nicht mit dem einen oder anderen oder allen Autoren zu identifizieren vermögen.


Zuletzt aktualisiert am 29. September 2019