Paul Mattick


[Rezension von „Leninism and the Revolutionary Process“]

(August 1972)


Aus: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin, August 1972, Heft 16, S. 101-2.
Transkription/HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.



Leninism and the Revolutionary Process. — Prague: Peace and Socialism Publishers 1970. 390 S. (= Marxism Today Series.) 25 Kčs.



Dieses Buch besteht aus 34 Beiträgen von Delegierten aus ebensoviel Ländern, die sich in Prag zu einer internationalen Konferenz anläßlich des 100. Geburtstags von Lenin zusammenfanden. Es ist der Welt im allgemeinen und den Parteianhängern, kommunistischen Wissenschaftlern und Propagandisten im besonderen zugeeignet und bezieht sich, wenn auch in sehr oberflächlicher Weise, auf alle Probleme, mit denen sich Lenin beschäftigte, sowie auf die Erfolge der leninistischen Theorie und Praxis. Ausschließlich auf ihre Erfolge, denn diesen Beiträgen zufolge kennt der Leninismus weder Niederlagen noch Irrtümer. Obwohl im Vorwort von verschiedenen auf der Konferenz zutage getretenen Auffassungen gesprochen wird, ist im Buch selbst nichts davon zu merken. Die ideologische Gleichschaltung ist absolut. Es hat deshalb keinen Sinn, auf die Beiträge der einzelnen Delegierten einzugehen. Ganz gleich, aus welchem Erdteil oder welchem Land sie auch kamen - was sie zu sagen hatten, fällt alles unter die gemeinsame Schablone der Lenin-Legende.

Da für die Autoren der Leninismus den „Marxismus unserer Epoche“ darstellt, genügt ihnen die Leninsche Interpretation des Marxismus und insbesondere dessen dialektisch-materialistische Philosophie, politische Ökonomie und Theorie des wissenschaftlichen Kommunismus, die als Weiterführung und Verwirklichung des Marxismus aufgefaßt werden. Es versteht sich für die Autoren, daß an den diesbezüglichen Theorien Lenins nichts auszusetzen ist, da sie angeblich ausnahmslos im geschichtlichen Prozeß ihre Bestätigung fanden. Deshalb erübrigt es sich für sie, die wirkliche Entwicklung mit der von Lenin projektierten zu vergleichen, was ihnen aber auch die Möglichkeit nimmt, auf Lenins Theorien ernsthaft einzugehen. Sie werden nur insoweit behandelt, als sie sich zur Apologie der heutigen Politik der zum russischen Block zählenden kommunistischen Parteien ausschlachten lassen. Sowenig der Marxismus Lenins dem Original entsprach, sowenig entsprechen diese Darstellungen des Leninismus seinem wirklichen Inhalt.

Bezog sich der Leninismus auf die besonderen Umstände der russischen Revolution, so wird er in diesem Buch als zeitlose und universale Theorie und Praxis der revolutionären Bewegungen und der kommenden Weltrevolution gefeiert, und die von Lenin geschaffene Partei wird als das unerläßliche Instrument des „Übergangs aus dem Reich der Notwendigkeit in das der Freiheit“ ausgegeben. Allerdings folgen diesen weitreichenden Erklärungen sofort erhebliche Einschränkungen, da - den Autoren zufolge — Lenin „sehr viel an einem friedvollen Wandel des kapitalistischen Systems gelegen war“ und demzufolge an der heutigen „Ko-existenz“, die jedoch als „eine spezielle Form des Klassenkampfes in der internationalen Arena“ anzusehen sei. Die Größe Lenins bestehe besonders darin, daß er „der höheren Produktivität der Arbeit die bestimmende Rolle im Sieg über den Kapitalismus“ zugeschrieben habe, womit die Innenpolitik in den „sozialistischen Ländern“ schon umrissen ist: Es muß mehr und besser gearbeitet werden, um den Kapitalismus auf dem Felde der internationalen Konkurrenz zu überbieten.

Soll dieser „revolutionäre Prozeß“ ungestört vor sich gehen, so muß - dem Leninschen Prinzip folgend - jede „rechte“ wie „linke“ Abweichung von der jeweiligen Parteilinie bekämpft werden. Es wird nicht recht klar, was mit „rechten“ Abweichungen gemeint ist, es sei denn, daß damit Bestrebungen in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei sich von der russischen Bevormundung zu lösen und sich aus eigenem nationalen Interesse durch eine Anpassung der zentralistisch regulierten Wirtschaft an die internationale Marktökonomie dem Westen zuzuneigen, umschrieben werden. Die Zielrichtung dieser Kritik wird dadurch nicht klarer, daß einzelne Konferenzteilnehmer „die Verbindung von Plan- und Marktwirtschaft für die geeignetste Form der wirtschaftlichen Entwicklung halten“, und daß sich der allgemein propagierte Kampf gegen den Kapitalismus nicht gegen alle Erscheinungsformen des Kapitalismus richtet, sondern nur als eine fast alle Volksschichten einschließende Opposition gegen die monopolistische Form der kapitalistischen Herrschaft verstanden wird. Wie dem auch sei, um so eindeutiger ist die Kampfansage an die „linken“ Abweichungen, d. h. an die sich „aus unproduktiven Elementen der Gesellschaft — den Studenten und Arbeitslosen - zusammensetzenden Trotzkisten und Maoisten, mit ihren überholten anarcho-syndikalistischen Redensarten, daß den Arbeitern die Fabriken gehören sollen“. Worum es jedoch heute gehe, sei die Bildung einer breiten anti-monopolistischen Front zur Nationalisierung der Schlüsselstellungen des Kapitals und zur Schaffung einer fortschrittlichen politischen und ökonomischen Demokratie.

Ob „rechts“, ob „links“ - als Opportunismus wurde alles verschrien, was sich gegen die speziellen Interessen und die opportunistische Politik des russischen Blocks „sozialistischer Staaten“ richtet. Ohne Ausnahme verurteilten alle Teilnehmer die angebliche Zerstörung der kommunistischen Einheit durch Maos China, und einstimmig verteidigten alle die „sozialistische“ Notwendigkeit der russischen militärischen Eingriffe in Ungarn und der Tschechoslowakei. Nichtsdestoweniger werden im Namen Lenins die „nationale Selbstbestimmung“ und das Ende des Imperialismus gefordert, aber nur als Ausdruck der eigenen expansiven Bestrebungen und als Strategie im internationalen imperialistischen Konkurrenzkampf. Das ganze Buch zeigt an, daß der „Leninismus“ als „revolutionärer Prozeß“ zum konterrevolutionären Prozeß geworden ist, und nur in diesem Sinne ist es nicht ganz wertlos.


Zuletzt aktualisiert am 19.1.2009