Aus: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin, August 1972, Heft 16, S. 117-8.
Transkription/HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.
Richta-Report. Politische Ökonomie des 20. Jahrhunderts. Die Auswirkungen der technisch-wissenschaftlichen Revolution auf die Produktionsverhältnisse. Herausgegeben von Radovan Richta und Kollektiv. Frankfurt/M.: 1971. Makol Verlag 428 S. DM 12,-.
Obwohl sich die bürgerliche Ökonomie für die einzig mögliche hält, ist sie doch seit ihrem Beginn durch einen tiefen Pessimismus gekennzeichnet. Da war einerseits Malthus’ Bevölkerungsgesetz und andererseits Ricardos Theorie des abnehmenden Bodenertrages, die der Entwicklung Schranken setzten und bestenfalls auf einen stationären Gesellschaftszustand hindeuteten. Demgegenüber waren die Vertreter des Sozialismus optimistisch eingestellt und überzeugt, daß sich alle sozialwirtschaftlichen Probleme lösen ließen. Diese unterschiedlichen Einstellungen machen sich auch heute noch bemerkbar Während die bürgerliche Ökonomie an sich selbst und an der Gesellschaft, der sie dient, zu zweifeln beginnt, sind die Ökonomen und Wissenschaftler der „sozialistischen Welt“ scheinbar mehr denn je überzeugt, daß sie auf dem Wege sind, die sozialistische Utopie zur Wirklichkeit zu machen. Dieser offiziell gepflegte und angeordnete Optimismus charakterisiert auch den Richta-Report.
Der Forschungsbericht, an dem sich 46 Kapazitäten aus vielen akademischen Gebieten beteiligten, ist eine Art „sozialistisches“ Gegenstück zu der in den kapitalistischen Ländern seit einiger Zeit populären Zukunftsforschung, wobei das Hauptaugenmerk auf die Wirtschaft in ihrem Verhältnis zur Wissenschaft und Technik gerichtet ist. Dem Aufwand entsprechend, ist das eindrucksvolle Resultat viel zu weitreichend, um sich in einer kurzen Rezension würdigen oder erfolgreich kritisieren zu lassen. Das Literaturverzeichnis allein umfaßt 31 Seiten und enthält Arbeiten aus allen Weltteilen. 59 Seiten sind mit aufschlußreichen, den Text ergänzenden Tabellen gefüllt. Ohne Rücksicht auf Vorbehalte, die von verschiedenen Gesichtspunkten aus angebracht wären, bleibt der Bericht empfehlenswert, da die vielen in ihm enthaltenen Informationen einen von ihrer Interpretation unabhängigen Eigenwert haben.,
Die wissenschaftlich-technische Entwicklung, die in den Nachkriegsjahren in den kapitalistischen Ländern zu einer Produktionssteigerung und Pseudoprosperität führte, wird in diesem Report als der Beginn einer „qualitativ revolutionären Umwälzung“ aufgefaßt, die „in Zukunft den Charakter der Zivilisation verändern und den Bemühungen um eine neue Gesellschaft ungeheure Möglichkeiten öffnen kann“ Da sich diese Entwicklung, wenn auch in unterschiedlichem Tempo, in den „sozialistischen“ wie kapitalistischen Ländern gleichzeitig vollzieht, muß sich die „qualitativ revolutionäre Umwälzung“ auf beide soziale Systeme erstrecken und muß, da sie in den kapitalistischen Ländern einen großen Vorsprung hat, zuerst in den kapitalistischen Ländern wirksam werden. Dem darf aber nicht so sein, da den Autoren zufolge der Sozialismus ein fortschrittliches und der Kapitalismus ein verfallendes System bezeichnen, womit schon gesagt ist, daß nicht die wissenschaftlich-technische Entwicklung, sondern die Umwälzung der sozialen Verhältnisse, oder Produktionsverhältnisse, entscheiden, ob und wie sich der „Charakter der Zivilisation“ verändern wird.
Der Report versucht sich aus diesem Widerspruch herauszuwinden durch die Annahme, daß aufgrund der schon vollzogenen Umwälzung der Produktionsverhältnisse in den „sozialistischen Staaten“ sich hier die wissenschaftlich-technische Revolution ungehindert entfalten kann, während sie in den kapitalistischen Ländern auch noch die Produktionsverhältnisse mit zu verändern hätte. Gelingt dies nicht, dann wird sich der wissenschaftlich-technische Vorsprung in den kapitalistischen Ländern verringern, und die „sozialistischen Staaten“ werden den Weg der weiteren Entwicklung bestimmen. Jedenfalls sei die wissenschaftlich-technische Revolution das wesentliche Moment zur „strukturellen Umwandlung des menschlichen Lebens“ geworden.
Die wissenschaftlich-technische Revolution zeigt sich in der Kybernetisierung, der Chemisierung, Automatisierung und der Kombination dieser Tendenzen, was zu einer „ständigen grundlegenden Wandlung der Struktur der industriellen Produktion führt“. Daraus ergebe sich auch eine Umwandlung in der „subjektiven Komponente“ der Produktion und die eventuell zur erwartende Aufhebung des Arbeitsprozesses in seinem heutigen Sinn. Hing bisher „der Fortschritt der Zivilisation vom Wachstum des Kapitals und der Einschaltung immer größerer Massen von Arbeitskräften in die Industrie ab, so ist heute die Ausschaltung von Arbeitskräften aus der Industrieproduktion durch die Technik und die ‚Freisetzung von Kapital’ ein Merkmal wachsender Produktivkräfte“. Die aus der Wissenschaft erwachsenden „neuen Produktivkräfte „, oder, in bürgerlicher Terminologie, das „menschliche Kapital“, stehen im Widerspruch zu den Ausbeutungsnotwendigkeiten der Klassengesellschaft und machen diese überflüssig.
Allerdings ist das alles noch Zukunftsmusik. Sogar in den industriell am weitesten entwickelten Ländern wirkt die „neue Produktivkraft“ in sehr begrenztem Rahmen und hat keine Chance, zur allgemeinen Norm zu werden, da innerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse die Anwendung von Wissenschaft und Technik von der Akkumulation des Kapitals bestimmt wird. In den „sozialistischen Staaten“ drückt das Bedürfnis nach „neuen Produktivkräften“ bisher nur die Notwendigkeit einer beschleunigten Kapitalakkumulation aus, um den westlichen Kapitalismus „einholen und überholen“ zu können. So beklagen sich denn auch die Autoren über den wissenschaftlich-technischen Rückstand der Tschechoslowakei, in der nur „1 % unter den Bedingungen teilweiser Automatisierung“ arbeitet und wo die existierende Organisation der Produktion und Verteilung „den Lebensinhalt eines beträchtlichen Teils der arbeitenden Bevölkerung ... trotz der veränderten Sozialstruktur, den wachsenden Konsum und die relativ weitgehende soziale Fürsorge in den Schranken der einfachen Reproduktion der Arbeitskraft“ hält. Angesichts dieser Tatsache kann man nur die Frage aufwerfen, welchem Zweck diese Zukunftsmusik dienen soll, da sie sich offensichtlich nicht mit den heutigen Zuständen oder denen der absehbaren Zukunft verträgt. Die Antwort findet sich nicht in den aktuellen Bedürfnissen der Gesellschaft, sondern in denen der Verfasser dieses Berichtes. Sich selbst als „menschliches Kapital“ auffassend, als „neue Produktivkraft,“ der nach Beseitigung der alten Produktionsverhältnisse die „Schlüsselstellung“ im „neuen System planmäßiger Leitung“ zukomme, fanden sie vorerst nicht die ihnen gebührende gesellschaftliche Würdigung. So erklärt der Report: „Wenn eine Avantgarde-Organisation als leitendes Zentrum der Gesellschaft und als Organisation der wissenschaftlich-technischen Revolution mit allen ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen wirksam sein soll ... kann sie diese Aufgabe nur meistern, wenn sie den engen Horizont der traditionellen, mit administrativen Mitteln verknüpften machtpolitischen Leitung sprengt und höherstehende, wirksamere Formen einer gesamtgesellschaftlichen Leitung entwickelt“. So läßt sich der Report besser verstehen, wenn er mit der 1962 einsetzenden Reformbewegung in der Tschechoslowakei in Verbindung gebracht wird. Während dieser Periode, die durch die russische Invasion 1968 zu ihrem vorläufigen Abschluß kam, wurde eine Reihe von Änderungen in der Wirtschaftspolitik vorgeschlagen, die in diesem Report ihre ideologische Basis fanden.
Da sich die Autoren darüber im klaren sind, daß die wissenschaftlich-technische Revolution „einen ungeheuren historischen Umwälzungsprozeß in Maßstäben von Jahrzehnten und in einem bestimmten Sinn auch von Jahrhunderten darstellt“, so spielen alle die mit dieser Umwälzung verbundenen Erwartungen, wie die „Verkürzung sämtlicher Komponenten der Arbeit“, durch eine „neue ökonomische Rationalität“, die zu einem „absoluten Produktivitätswachstum der gesellschaftlichen Gesamtarbeit“ führt und nebenbei noch den Unterschied zwischen geistiger und körperlicher Arbeit eliminiert, in absehbarer Zeit keine Rolle. Aber um eines Tages Wirklichkeit zu werden, „darf man mit Bestimmtheit sagen, daß es ohne tiefgehende Umgestaltung der Wirtschaftsstruktur, ohne Freisetzung und Geltendmachung eines hochentwickelten Systems der Interessen nicht möglich sein wird, die Tür zur wissenschaftlich-technischen Revolution zu öffnen, ihr den ihr eigenen ökonomischen Boden zu bereiten und sie endgültig durchzusetzen.“
So muß den Autoren zufolge jeder „vulgären Gleichmacherei“ entgegengetreten werden, denn das „Wesen der sozialistischen Umwandlung besteht nicht darin, daß das ökonomische Interesse am Gewinn beseitigt wird ... sondern in der Beseitigung der Ausschließlichkeit, des Monopols des Profits für das Kapital, denn es handelt sich im Sozialismus keineswegs um eine Liquidierung der Unternehmungslust, sondern um deren Verallgemeinerung auf gesellschaftlicher Basis“. Es sei deshalb kein Rückzug in Richtung auf den Kapitalismus, wenn die sozialistischen Länder heute daran gehen, sich des Marktes und der Wertformen zu bedienen, sondern es handele sich dabei um „eine beachtliche Vervollkommnung ihrer eigenen sozialistischen Wirtschaftsstruktur, die der neuen Dynamik der Produktivkräfte entspricht“.
Zusammenfassend kann gesagt werden, daß der Richta-Report die speziellen Interessen der wissenschaftlichen Intelligenz innerhalb der in den „sozialistischen Staaten“ auftretenden Reformbewegungen zu vertreten versucht, und der Kommunistischen Partei zu verstehen gibt, daß sie sich immer mehr auf die Wissenschaft zu stützen habe und darum der Wissenschaft „freie Bahn“ gewähren müsse. Selbstverständlich werden diese Sonderinteressen als Allgemeininteressen ausgegeben und können als solche auch von ihren Befürwortern verstanden werden.
Zuletzt aktualisiert am 19.1.2009