Aus: DISKUS No.4, Frankfurt 1973, abgedruckt in Paul Mattick, Marx und Keynes, Wien, Räteverlag, 1973, S. 358ff.
Fragen sowohl als auch Antworten sind gelegentlich von der Redaktion gekürzt worden.
Transkription/HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.
Peter van Spall:
Der Parlamentarismus des kapitalistischen Westens paßt sich strukturell dem Scheinparlamentarismus des staatskapitalistischen Ostens an. Die ökonomisch-politische Macht der kapitalistischen Technobürokraten nimmt damit immer mehr zu. Ist dann die amerikanische . „Präsidentendiktatur“, von der selbst die bürgerlichen Oppositionellen in der letzten Zeit reden, nicht symptomatisch für die sich jetzt auch in den hochkapitalistischen Gesellschaften abzeichnende Entwicklung von der liberalen parlamentarischen Demokratie zum autoritär-faschistischen Führer- und Gefolgssystem neueren Typs? Die vorherrschende Regierungsform in der ganzen Welt ist - wie der US-Senator Fulbright immer wieder betont - die Diktatur. Uns würde interessieren, wie Sie die Dinge sehen.
Paul Mattick:
Die „Präsidentendiktatur“ ist keine neuartige Erscheinung in Amerika und auch keine Diktatur im Sinne der autoritären Staaten des 20. Jahrhunderts. Dem Präsidenten ist durch die amerikanische Verfassung eine außerordentliche Verfügungsgewalt zugesprochen worden, die sich durch einen übermäßigen Staats- und Personenkult weit über die legalen Möglichkeiten hinaus erweitern läßt. Gleichzeitig wird im allgemeinen die Politik als Geschäft aufgefaßt, und der sich daraus ergebende Zynismus bedarf der ideologisch überspitzten Verherrlichung staatlicher Institutionen und vornehmlich der des Präsidenten, bedingt aber auch die marktschreierische Schärfe der politischen Kämpfe um staatliche Positionen. Wie der Kapitalismus selbst, so bringt die Politik als Geschäft eine alles-durchsetzende-Korruption des öffentlichen Lebens mit sich. Da das System selbst noch nicht infrage gestellt wird, beziehen sich alle politischen Beziehungen auf Personen. Der Eindruck wird erweckt, daß Politik und Wirtschaft von der herrschenden Partei und damit vom Präsidenten abhängen, was jedoch nicht der Fall ist. So hat sich z.B. die amerikanische Innen- und Außenpolitik - von Roosevelt bis Nixon - durch ihre Abhängigkeit von den kapitalistischen Entwicklungstendenzen und den aus dem Zweiten Weltkrieg resultierenden ökonomischen und politischen Machtkonstellationen unverändert erhalten. Ob sich der Parlamentarismus des Westens dem Scheinparlamentarismus des Osten annähert, ist vom Arbeiterstandpunkt aus völlig belanglos, da er sich in beiden Fällen nicht auf die Produktionsverhältnisse als Klassenverhältnisse bezieht, sondern nur die traditionell überlieferte Form der Vortäuschung politischer Mitbestimmung darstellt. Allerdings war der Parlamentarismus im Rahmen der bürgerlichen Emanzipation ein politisches Mittel der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung und innerhalb bestimmter Grenzen der Boden sozialer Reformen zur Konsolidierung der kapitalistischen Herrschaft, während der Scheinparlamentarismus der staatskapitalistisch orientierten Gesellschaften nur als Kontrollinstrument der autoritären Staatsgewalt dient. Der kapitalistische Aufstieg, wie der Zustand kapitalistischer Zersetzung, kennt keine andere einheitliche Haltung der Bourgeoisie als die gegen die Arbeiterschaft. Auch innerhalb des Monopolkapitalismus verhindert die kapitalistische Konkurrenz eine geschlossene zentralistisch geleitete Front des Kapitals, wie sie in den staatskapitalistischen Systemen möglich ist. Der noch nicht abgeschlossene - und auf dem Boden des Privateigentums nicht abschließbare - kapitalistische Konzentrations- und Zentralisationsprozeß ist auch weiterhin von politisch-parlameritarischen Auseinandersetzungen begleitet. Der durchgehende Staatskapitalismus - wenn nicht, wie vor allem in Osteuropa, von außen aufgezwungen, bedarf einer sozialen Umwälzung; er ist kein automatisches Produkt der kapitalistischen Entwicklung. Die in den Vereinigten Staaten ausgeübte „Diktatur“ drückt damit nur die Vorherrschaft des ausschlaggebenden Teils des amerikanischen Kapitals aus, die allerdings und notwendigerweise, die allgemeine Richtung der politischen Entwicklung bestimmt. So sehr der Imperialismus auch eine Lebensnotwendigkeit des Kapitals ist, so betrifft er die verschiedenen Kapitalgruppen durchaus unterschiedlich, so daß sich die allgemeine Richtung über Opposition hinweg durchzusetzen hat. Die Gegensätze im bürgerlichen Lager kommen z.B. in der Spaltung wegen des Krieges in Indochina zum Vorschein. Es hat keinen Sinn von der ökonomisch-politischen Macht der Technokraten zu sprechen. Wir leben in einer kapitalistischen Gesellschaft, in der die Technik, wie alles andere, der Akkumulation des Kapitals untergeordnet ist. Die Technik kann nur insoweit entwickelt werden, als sie zur Aussaugung unbezahlter Arbeitskraft beiträgt. Sie dient weiterhin den politisch-militärischen Anforderungen der imperialistischen Konkurrenz, stellt in dieser Abart jedoch nur eine den Profit vermindernde Belastung dar. Die Technik bezieht sich auf den direkten Arbeitsprozeß, die gesellschaftliche Entwicklung hingegen ist von den sich im Kapitalismus als „ökonomische Verhältnisse“ repräsentierenden Klassenverhältnissen abhängig. Die wirtschaftliche und damit politische Macht ist in den Händen der Kapitalbesitzer; der parasitäre Staatsapparat hängt von der durch das Kapital vermittelten Ausbeutung der Arbeiter ab. Die Technokraten haben unter diesen Umständen keine eigene Machtpositionen. Sie sind zum Teil selbst Kapitalbesitzer, zum Teil selbst Angestellte anderer Kapitalisten, und sind in beiden Funktionen an die Reproduktion der bestehenden sozialen Verhältnisse gebunden. Wenn von der Möglichkeit des Faschismus in Amerika die Rede ist, so handelt es sich hier nicht um eventuelle Vorgänge, wie sie sich z.B. in Italien oder Deutschland abspielten, sondern einfach um die verschärfte Anwendung aller schon vorhandenen Unterdrückungsmaßnahmen. Eine faschistische Massenmobilisierung ist hier noch genau so unwahrscheinlich wie das Aufkommen einer sozialistischen Massenbewegung. Im Bewußtsein seiner Schwäche versucht der dem Sozialismus zugängliche Teil der Bevölkerung im Rahmen der gegebenen politischen Institutionen zu operieren und stellt keine direkte Gefahr für die herrschende Klasse dar. Der „rechte“ wie der „linke“ Radikalismus sind noch Randerscheinungen. Allerdings besagt dies nichts für die Zukunft. Mit der Zunahme wirtschaftlicher Schwierigkeiten kann es zu spontanen Bewegungen kommen, in der weitere in Reserve gehaltene Unterdrückungsmittel angewandt werden müssen. Aber Bürgerkriegszustände sind für Amerika nichts Neues; im lokalen Rahmen begleiten sie die ganze amerikanische Geschichte, und die in ihnen angewandte Brutalität der staatlichen Macht steht der Keines anderen Landes nach. In diesem Sinne mag schon der heutige Staat als ein „faschistischer“ gelten.
Peter van Spall:
Was ist für Sie Staatskapitalismus im Unterschied zum dezentralisierten Privatkapitalismus? Was sind aus der Sicht der Arbeiterklasse die Vor- und Nachteile dieser Systeme?
Paul Mattick:
Der Staatskapitalismus war bisher die Form kapitalistischer Produktionsverhältnisse, die unterentwickelten Ländern die Versuchsmöglichkeit bot, sich trotz der monopolistischen Weltmarktkontrolle in relativer Unabhängigkeit aus ihrem Zustand der Rückständigkeit und Ausbeutung zu lösen. Die kapitalistische Entwicklung, die mit der Industrialisierung einhergeht, konnte sich hier den schon hochzentralisierten fortgeschrittenen Ländern gegenüber nicht auf dem Wege der liberalen Konkurrenz durchsetzen, sondern nur durch eine den Monopolkapitalismus übertreffende Konzentration und Zentralisation des Kapitals. Das kapitalistische Monopol in den entwickelten Ländern bedingt das staatliche Monopol in den unterentwickelten. Allerdings ist es nicht allen rückständigen Ländern gelungen, ihre national-soziale Befreiung mit dem Staatskapitalismus zu verbinden, so daß in vielen nur ein Abklatsch der gemischten Ökonomie der entwickelten Länder zu finden ist, d.h. die Vorherrschaft des Privatkapitals, das man durch staatliche Eingriffe zu stützen versucht. Vom kapitalistischen Standpunkt aus gesehen, ist der Staatskapitalismus eine andere Gesellschaftsform als der Privatkapitalismus, einfach deshalb, weil er der Klassenherrschaft der Kapitalisten ein Ende setzt, indem er die Kontrolle über die Produktionsbedingungen dem Staat, d.h. einer anderen Gruppe von Menschen, überläßt. Für die verdrängte Bourgeoisie ist der Staatskapitalismus mit dem Sozialismus identisch, da das eine wie das andere System ihre Herrschaft ausschließt. Aber vom Standpunkt der Arbeiter aus gesehen haben sich die Produktionsverhältnisse nicht geändert. Nach wie vor fehlt ihnen die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und über ihre Arbeitsprodukte. Sie haben nur ein kapitalistisches Verhältnis gegen ein anderes eingetauscht, und die Staatsbürokraten personifizieren für sie nun das Kapital wie zuvor die Kapitalisten. Es bedarf einer weiteren sozialen Revolution, um die Lohnarbeit abzuschaffen und die Produktion unter die Kontrolle der Produzenten zu bringen. Für die Arbeiter ist der Staatskapitalismus kein Sozialismus, sondern eine modifizierte Form der Ausbeutergesellschaft. Er hat für sie keine Vorteile, es sei denn, daß die kapitalistische Entwicklung schlechthin als Vorbild aufgefaßt wird, aber er hat den Nachteil größerer Schwierigkeiten im Kampf gegen die neuen Autoritäten. Auf jeden Fall ist der Staatskapitalismus auch eine Übergangsstufe für die Arbeiterbewegung der kapitalistisch entwickelten Länder. Für sie handelt es sich nicht nur darum, ein Proletariat zu entwickeln und Kapital zu akkumulieren, sondern darum, das Kapital mit dem Proletariat abzuschaffen. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, daß man auch in den entwickelten Ländern bestrebt ist, staatskapitalistische Systeme aufzubauen. Es ist aber zu hoffen, daß angesichts der tatsächlichen Zustände in den staatskapitalistischen Ländern die Arbeiter diesen Bemühungen entgegentreten und ihnen ihre eigenen sozialistischen Ziele entgegensetzen.
Peter van Spall:
In den USA und anderen führenden industriekapitalistischen Ländern nimmt der Widerspruch zwischen öffentlicher Armut und privatem Reichtum lebensbedrohende Formen an. Liberale und sozialistische Wissenschaftler warnen in diesem Zusammenhang vor der Zerstörung der „Umwelt“, die schon in wenigen Jahren nicht mehr aufzuhalten ist.
Haben die Linken recht, die aufgrund dieser Entwicklung der Auffassung sind, daß sich der „Spätkapitalismus“ in seiner Endphase befindet?
Paul Mattick:
Raubbau und die Zerstörung der Natur begleiteten die ganze kapitalistische Entwicklung. Dies wird umso bedrohlicher, je länger das Kapital die Welt beherrscht. Dieser Prozeß ist ohne gleichzeitige Vernichtung der kapitalistischen Produktionsweise nicht aufzuhalten. Die moralischen Empörungen liberaler Wissenschaftler und Politiker über die Zerstörung der Umwelt weisen entweder auf deren Dummheit oder Heuchelei oder beides hin. Rationell ist für das Kapital nur der Profit, die Basis seiner Existenz. Alles, was dem im Wege steht, kann keine Berücksichtigung finden. Es handelt sich hier nicht um einen Widerspruch zwischen „öffentlicher Armut und privatem Reichtum“, wie ihn die enormen Ausgaben für Rüstung und Krieg als kapitalistisch einzig mögliche Form des „öffentlichen Reichtums“ aufzuweisen, sondern um die Erhaltung und Vermehrung des Kapitals und der ihm eigenen Klassenverhältnisse. Die Betonung der Umweltzerstörung als Argument gegen den Kapitalismus kann nicht mehr bedeuten als die Forderung nach Reformen, die dem Kapitalismus seine Umwelt erhalten sollen. Es gibt keine „unmenschliche Technik“, da sie von den Menschen geformt und angewandt wird. Allerdings gibt es im Kapitalismus aufgrund des Warenfetischismus auch den Fetisch der Technik. Aber dahinter verbergen sich bestimmte, historisch bedingte, Klassen- und Eigentumsverhältnisse, womit schon gesagt ist, daß der Fetischcharakter der Technik auf revolutionärem Wege überwunden werden kann. Mit der sozialen Revolution verlieren auch Wissenschaft und Technik ihre nur im Kapitalismus „realen“ unabhängigen Eigenschaften und entpuppen sich als menschliche Tätigkeit zur Zufriedenstellung bewußt gefaßter Ziele. Es ist nicht die Technik, die die Menschen beherrscht, sondern die kapitalistisch angewandte Technik als Mittel und Ausdruck kapitalistischer Herrschaft. Wir haben uns nicht um die Technik zu sorgen, sondern müssen den Kapitalismus beseitigen, um die Technik einer sozialistischen Gesellschaft entsprechend anzuwenden. Die sozialistische Demokratie ist nur in einer klassenlosen Gesellschaft möglich und setzt die soziale Revolution voraus. Die Revolution hat nicht mit Demokratie im bürgerlichen Sinne zu tun, sondern mit dem Versuch, die Herrschaft einer Klasse durch eine andere zu brechen. Nur nach der Vernichtung des Kapitals ist die Demokratie der arbeitenden Bevölkerung die Vorbedingung zur Verhinderung eines neuen autoritären Regimes auf staatskapitalistischer Basis. Das Ratesystem in seiner ursprünglichen Form scheint den Ansprüchen einer Arbeiterdemokratie gewachsen zu sein; allerdings nur dann, wenn es gelingt, die Bildung eines neben ihm stehenden besonderen Staatsapparates zu verhindern. Der Aufbau und die Struktur des Rätesystems ist zum Teil eine experimentelle Frage. Wo ihm politisch nichts im Wege steht, handelt es sich hier um technisch-organisatorische Probleme, die sich im Prinzip lösen lassen.
Peter van Spall:
Die bürgerlichen Medien verbreiten die Meinung, daß es seit dem Abflauen der Protestbewegung gegen den Vietnam-Krieg keine „ernstzunehmende“ Linke in den USA mehr gibt.
Paul Mattick:
Von einer „oppositionellen“ Arbeiterbewegung kann in Amerika noch nicht die Rede sein, obwohl eine zunehmende kritische Einstellung zum Verlauf der Dinge schon zu bemerken ist. Sie richtet sich auch gegen die offizielle Haltung der Gewerkschaften und Industrieverbände - die hier die einzig bemerkenswerte wie fragwürdige Form einer Arbeiterbewegung vorstellen - und findet ihren Ausdruck in wilden Streiks.’ Es handelt sich hier aber vorerst um eine sich ausbreitende Unzufriedenheit mit den wirtschaftlichen Zuständen und dem Krieg, der damit in Verbindung gebracht wurde. Die allgemeine Mißstimmung erfaßt auch die Arbeiterjugend und die Studenten wie auch die Minoritäten, die vom ökonomischen Niedergang am härtesten betroffen sind. Was hier als „Linke“ bezeichnet wird, d. h. die radikale Bewegung der Neger und Studenten, hat bisher, wie jede aussichtslose Sache, keine Beständigkeit. Sie springt an und flaut ab mit den nicht von ihnen bestimmten wechselnden Situationen, wie z.B. anläßlich der Protestbewegung bei der Wiederaufnahme des Bombardements von Nordvietnam. Jedoch drückt die Ansicht der bürgerlichen Medien über das Abflauen der Protestbewegung nur einen Wunschtraum aus. Wie die Dinge liegen, wird die nächste Zukunft mit der Verschärfung aller kapitalistischen Widersprüche auch die Verschärfung der sozialen Unruhen mit sich bringen.
Zuletzt aktualisiert am 16.1.2009