Paul Mattick


[Rezension von H. Reichelt „Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs“ & I.I. Rubin „Studien zur Marxschen Werttheorie“]

(Juni 1974)


Aus: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin, 10 Jg., Juni 1974, Heft 2, S. 257-261.
Transkription/HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.



REICHELT, Helmut: Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx. Mit einem Vorwort von Iring Fetscher. — Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt, 4., durchgesehene Aufl., 1973. 276 S.

RUBIN, Isaak Iljitsch: Studien zur Marxschen Werttheorie. Eingeleitet und aus dem Amerikanischen übersetzt von A. Neusüss-Fögen. Frankfurt/M Europäische Verlagsanstalt 1973. 256 S.


Da die Hegelsche Philosophie die historische Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft reflektiert und systematisiert und sich zum Teil direkt auf die klassische Ökonomie bezieht, bestand die Marxsche Umstülpung der idealistischen Dialektik mittels der materialistischen Geschichtsauffassung in der Konkretisierung der von Hegel festgehaltenen Entwicklungsgesetze des Kapitals. Was Hegel in philosophisch-ideologische Betrachtungen kleidete, entblößte Marx in der Sprache der Nationalökonomie und der ihr zugrundeliegenden aktuellen gesellschaftlichen Beziehungen. Marx’ Dialektik ist so im Kapital zu finden, wie das Kapital die gesellschaftliche Bewegung zu einer dialektischen macht. So wie einst Marx an Kugelmann schrieb, daß man den Wertbegriff nicht zu beweisen hätte, da die Analyse der wirklichen Verhältnisse ihn von selbst ergebe, so bedarf auch die Dialektik keiner besonderen Behandlung, da es, wie Reichelt formuliert, „unmöglich ist, die Marxsche Methode unabhängig von ihrem Gegenstand darzustellen“.

Eben weil dem so ist, besteht kein Widerspruch zwischen der in den Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie vornehmlich philosophisch-dialektischen Ausdrucksweise und der im Kapital verwendeten Sprache der politischen Ökonomie. Der „Rohentwurf“ war für den von der Philosophie her kommendem Marx zur Selbstverständigung verfaßt, das Kapital richtete sich an die Öffentlichkeit und wurde dementsprechend terminologisch abgeändert, ohne die Methode oder ihren Gegenstand und deren Einheit zu beeinträchtigen. Reichelts Buch ist ein bedeutender Beitrag zur Aufhellung dieser Sachverhalte, besonders durch die Zurückweisung der Vorstellungen der Dialektik als einer bloßen Methode, die als erlernbare Verfahrensweise an verschiedene Inhalte von außen herangetragen werden kann.

Reichelt beginnt mit der Marxschen Herausbildung der materialistischen Geschichtsauffassung und zeigt die ihr ursprünglich noch anhaftenden Mängel auf, die erst durch die Erkenntnis der wirklichen kapitalistischen Verhältnisse überwunden werden konnten, wie z.B. die unberechtigte Überbetonung der Arbeitsteilung als bestimmendes Element der Entfremdung, des Privateigentums, und der Klassengesellschaft. Reichelt weist auch auf Marx’ Schwierigkeiten hin, das kapitalistische System in all seinen vielseitigen Details zu erfassen, und auf die sich für ihn ergebende Lösung des Problems durch die Konzentration auf den „allgemeinen Begriff des Kapitals“. Reichelt bemerkt jedoch richtig, „daß es sich hier nicht um eine vordergründige Verkürzung handelt, sondern von Marx als eine durchaus adäquate Bewältigung des gesamten Materials empfunden wurde“.

Marx schrieb das Kapital in engster Auseinandersetzung mit der klassischen Theorie, weil diese Theorie die des Kapitals ist und mit ihm steht oder fällt. „Ökonomische Theorie“, schreibt Reichelt, „kann es in einem strengen Sinne nur in der bürgerlichen Gesellschaft geben; ökonomische Theorie einer sozialistischen Gesellschaft ist ein Widerspruch in sich.“ Das spezifische der kapitalistischen Ökonomie ist die Verschleierung der aktuellen Produktionsverhältnisse durch die Tauschrelationen, wenn diesen selbst auch reale Bedeutung zukommt; aber eben nur auf der Basis der gesellschaftlichen Arbeit unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen. Die Marxsche Kritik des kapitalistischen Systems ist nicht die Kritik seiner ökonomischen Kategorien, sondern der ihnen zugrundeliegenden Klassenverhältnisse, die sich nur durch die Aufhebung dieser Verhältnisse, nicht durch die ökonomische Kritik, beseitigen lassen. Das Aufzeigen des nur historischen Charakters des Kapitals verlangt allerdings ein Eingehen auf seine Bewegungsgesetze und damit die gründliche Analyse der kapitalistischen Wirtschaftsvorgänge.

Marx’ revolutionäre Ablehnung des kapitalistischen Systems geht seinen Auseinandersetzungen mit den Vertretern der klassischen Ökonomie voraus. Die Existenz des Proletariats, der Ausbeutung, der Konkurrenz, der Akkumulation, deutet von selbst auf die dem Kapitalismus innewohnenden Gegensätze, ohne gleichzeitig deren geschichtliche Konsequenzen aufzuzeigen. Die Suche nach dem entscheidenden, die kapitalistische Bewegung bestimmenden Widerspruch veranlaßte Marx, sich mit der Theorie der kapitalistischen Wirtschaft eingehend zu befassen, da sich diese, wenn auch in verkehrter Form und mit falschem Bewußtsein, auf die reale Welt bezieht.

Reichelt demonstriert die Marxsche Kritik der bürgerlichen Ökonomie an Beispielen seiner Auseinandersetzung mit den Physiokraten A. Smith und D. Ricardo. Nach einer Beschreibung des Verhältnisses von logischer und historischer Methode bei Marx wendet er sich der Marxschen Werttheorie zu, um hier den oft übersehenen Zusammenhang zwischen Arbeitszeitwert und Geldtheorie hervorzuheben. Das Wertgesetz wird aus der Notwendigkeit der gesellschaftlichen Aufteilung der Arbeit abgeleitet, was sich unter den Bedingungen der Warenproduktion nur dann erreichen läßt, wenn „die verschiedenen Produkte als quantitativ verschiedene Ausdrücke derselben Einheit in Erscheinung treten“.

Allerdings erschöpft sich die Arbeitswertlehre nicht in der Aufteilung der gesellschaftlichen Arbeit in der Warenproduktion, da sich die Ware Arbeitskraft nur scheinbar austauscht, in Wirklichkeit aber von den Kapitalisten unentgeltlich angeeignet wird.

Die Teilung des gesellschaftlichen Produkts in Wert und Mehrwert zeigt an, daß sich hinter den Wertverhältnissen nicht nur die Notwendigkeiten der gesellschaftlichen Verteilung der Arbeit verbergen, sondern auch die kapitalistischen Klassenverhältnisse. Damit handelt es sich bei der unbewußten gesellschaftlichen Aufteilung der Arbeit nicht um die Proportionalitäten der wirtschaftlichen Beziehungen schlechthin, sondern um die Aufteilung der Arbeit zur Reproduktion der Klassenverhältnisse, und damit der Aufteilung der Arbeit zu Zwecken der Akkumulation, also um eine ganz besondere Aufteilung der gesellschaftlichen Arbeit; nicht zur Erreichung der gesellschaftlich-notwendigen Proportionalität als solcher, sondern der spezifischen kapitalistisch-notwendigen Proportionalität, aus der sich alle Widersprüche der kapitalistischen Entwicklung ergeben. Auf diese Zusammenhänge geht Reichelt leider nicht ein, so daß sich seine Interpretation der Werttheorie im wesentlichen auf die einer imaginären Warenproduktion bezieht, nicht auf die kapitalistische Warenproduktion.

Diese Vernachlässigung rächt sich denn auch in Reichelts — wenn auch nur flüchtiger — Betrachtung der Krise, die für ihn in „dem Widerspruch zwischen Produktion und Konsumtion unter kapitalistischen Bedingungen“ zu suchen ist, oder in „der Entwicklung der Produktivkräfte und der Beschränktheit der Konsumtion“. Wenn dem so wäre, dann wäre die Marxsche Krisentheorie nur ein Plagiat der Sismondischen Krisentheorie, und die heutigen „linken“ Keynesianer wären nichts als Anhänger der Marxschen Krisentheorie. Da aber die Marxsche Akkumulations- und Krisentheorie als Dynamik des Kapitals von Reichelt nicht näher behandelt wird, läßt sich auch nicht feststellen, wie er die Bewegungsgesetze des Kapitals aus der dem Kapitalbegriff zugrundeliegenden Werttheorie ableitet. Nichtsdestoweniger ist Reichelts Buch ein interessanter Beitrag zum Marxismus.

Auch die Studien I.I. Rubins zur Marxschen Werttheorie legen sich Beschränkungen auf, nämlich die auf die Werttheorie selbst. Für Marx war die Werttheorie ein Schlüssel zum Verständnis des Kapitals und seiner Bewegungsgesetze, wenn auch hier, wie Reichelt in einem anderen Zusammenhang bemerkte, die Methode nicht vom Gegenstand trennen läßt. Hinter den Wertverhältnissen verbergen sich aktuelle Arbeitszeitrelationen, von denen die Bewegungsgesetze des Kapitals abhängen. Trotzdem bleibt der Gegenstand, mit dem sich der Marxismus beschäftigt, das Kapital und die Werttheorie das Mittel, um diesem Gegenstand gerecht zu werden.

Wie die Arbeit von Reichelt, stützt sich Rubins Interpretation der Werttheorie auf den schon erwähnten Brief von Marx an Kugelmann, in dem die Unerläßlichkeitkeit der Proportionalität der gesellschaftlichen Arbeit hervorgehoben wird. Die Werttheorie erscheint damit als Theorie des gesellschaftlichen Gleichgewichts und unterscheidet sich von den bürgerlichen Gleichgewichtstheorien nur darin, daß anstatt von subjektiven Preisrelationen von objektiven Wertrelationen gesprochen wird. Deshalb stützt sich Rubin nicht nur auf die flüchtigen Bemerkungen von Marx, sondern in weit grösserem Maße auf die Ideen Rudolf Hilferdings, für den das Wertgesetz nur ein anderer Ausdruck für die materialistische Geschichtsauffassung war, die auf die Gebundenheit der Gesellschaft an die Arbeit und deren rationelle Aufteilung hinwies.

„Indem Marx von der menschlichen Arbeit ausging“, zeigt er, Rubin zufolge, „daß in einer warenproduzierenden Gesellschaft die Arbeit zwangsläufig zu der Wertform der Warenproduktion führt“. Allerdings sind Kapitalist und Arbeiter durch Produktionsverhältnisse aufeinander bezogen. Dennoch „schließen sie Verträge untereinander als formal gleiche Warenproduzenten“. Rubin scheint hier zu übersehen, daß der Arbeiter keine Ware, sondern seine Arbeitskraft gegen Kapital „austauscht“, welches selbst, als angehäufter Mehrwert, sein eigenes Produkt ist. In anderen Worten, daß es hier in Wirklichkeit gar keinen Austausch gibt, sondern nur den Schein eines solchen, durch die kapitalistische Beherrschung der Produktionsmittel. Bei der Entwicklung des Wertbegriffs bezieht sich Rubin denn auch vorerst auf die sogenannte nicht existierende „einfache Warenproduktion“, die dann der kapitalistischen Warenproduktion gegenübergestellt wird. Aber das sich mittels des Wertgesetzes ergebende wirtschaftliche Gleichgewicht bleibt für ihn auch in der kapitalistischen Warenproduktion bestehen, allerdings mit dem „Unterschied, daß sich das objektive Gleichgewicht in der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit durch die Konkurrenz ergibt“, d.h. durch die Produktionspreise, nicht die Werte. So bleibt für Rubin „das Gleichgewicht und die Verteilung der Arbeit die Grundlage des Werts und seiner Veränderungen, sowohl in der einfachen Warenproduktion als auch in der kapitalistischen Gesellschaft. Das ist die Bedeutung der Marxschen Theorie des Arbeitswerts.“

Andererseits hebt Rubin jedoch hervor, daß „Marx nie müde wurde, zu wiederholen, daß der Wert ein gesellschaftliches Phänomen ist, daß die Wertgegenständlichkeit ‚rein gesellschaftlich’ ist und kein Atom Naturstoff in sie eingeht“. So ist die wertschaffende, abstrakte Arbeit für Rubin als gesellschaftliche Kategorie zu begreifen, in der jedes stoffliche Element fehlt. Wenn dem so ist, dann ist nicht verständlich, wie das Wertgesetz das von Rubin hervorgehobene und sich auf reale Arbeitszeitrelationen beziehende Gleichgewicht mit sich bringen kann. Wie abstrakt auch immer, die Arbeitszeit drückt sich in Produktion aus und die Gesamtproduktion muß der kapitalistisch bestimmten gesellschaftlichen Arbeitsaufteilung entsprechen. Die Vergegenständlichung des Werts setzt die Produktion voraus, so daß der Wert des Naturstoffes und der Arbeit nicht entbehren kann, wenn er auch selbst weder das eine noch das andere ist. Was Rubin sich zu sagen bemüht, ist, daß Gebrauchsgüter in der Warenproduktion erst Wertcharakter annehmen müssen, um sich als Gebrauchsgüter realisieren zu können, daß dies aber nicht eine Notwendigkeit der Produktion ist, sondern eine Eigenart, die sich ausschließlich aus der Warenproduktion ergibt. In dem Sinne ist der Wert ein rein gesellschaftliches Phänomen, da er unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen wegfallen würde, ohne damit die „Ökonomie der Zeit“ zur Bewältigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse aufzuheben.

Die theoretische Herausbildung des Marxschen Wertbegriffs wird von Rubin mit dem das kapitalistische System aktuell beherrschenden Wertgesetz gleichgesetzt. Wenn Marx mit Bezug auf den historischen Materialismus auch von der „menschlichen Arbeit“ ausging, so mit Bezug auf den Kapitalismus auf die kapitalistische Lohnarbeit. Und wenn Marx auch den Wert aus den Tauschverhältnissen ableitete und dies an einer imaginären „reinen Warenproduktion“ ersichtlich machte, so lassen sich diese doch nicht von den aktuellen kapitalistischen Produktionsverhältnissen trennen. Aber Rubins Festhalten an den ausschließlich durch den Tausch bestimmten Wert, erklärt sich aus seiner Auffassung des Wertgesetzes als Gleichgewichtsmechanismus. „In der planlosen Warenproduktion“, schreibt er, spielt das durch die abstrakte Arbeit bestimmte Wertgesetz „die Rolle, die die gesellschaftlich gleichgesetzte Arbeit in einer bewußten geplanten sozialistischen Wirtschaft spielt“. So ist das Wertgesetz für Rubin eine unbewußte Regulierung der Wirtschaft, die zwar im Sozialismus zum Abschluß kommt, aber durch eine Planung ersetzt wird, die das bewußt leistet, was sich in der Warenproduktion unbewußt vollzieht.

Aus dem Mißverständnis der Wertlehre als Gleichgewichtsmechanismus ergeben sich eine Reihe von Fehlinterpretationen der Marxschen Theorie, auf die hier jedoch nicht weiter eingegangen werden soll. Davon abgesehen, weist das Rubinsche Buch auch viele gelungene Darstellungen einzelner Aspekte der Werttheorie auf, so daß seine Lektüre empfehlungswert bleibt. Aber die Gleichgewichtsbetrachtung und die nahe Identifikation des historischen Materialismus mit der Werttheorie, hindern Rubin, sich mit aktuellen Problemen des Kapitals zu befassen, wie z.B. der Akkumulations- und Krisentheorie. Auf die Schwächen des Buches weist schon die Einleitung von Annette Neusüss-Fögen hin, der zufolge die Arbeitswertlehre zwar der Gegenstand dieser Studien ist, sich aber doch die Frage aufdrängt, „ob hier die Form der Darstellung nicht am Sinn der Wertlehre vorbeigeht“. Es muß noch bemerkt werden, daß die deutsche Übersetzung aus dem Amerikanischen stark gekürzt ist und daß die ausgelassenen Teile eigentlich zu den besten des Buches gehören.


Zuletzt aktualisiert am 16.1.2009