Franz Mehring

 

Die Vorwärts-Frage

(August/September 1905)


Leipziger Volkszeitung, Nr. 197–200, 204–208, 26., 28.–30. August und 4. bis 8. September 1905, gezeichnet „*“.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


I.

In unserer Nummer vom 16. August haben wir bereits mitgeteilt, dass der Leitartikel über „guten Ton“, den wir am 5. August veröffentlichten, den Vorwärts veranlasst hat, vier eng gedruckte, mit K. E. gezeichnete Spalten voll belletristischer Mätzchen und wissentlich unwahrer Schmähungen über die Leipziger Volkszeitung zu ergießen. Wir fügten hinzu, dass wir anfangs auf einen Angriff dieses Kalibers nicht hätten erwidern wollen, aber durch zahlreiche Zuschriften aus der Partei bewogen wurden, diesen uns aufgezwungenen Anlass zu benutzen und die ganze Vorwärts-Frage einer prinzipiell-systematischen Erörterung zu unterziehen.

Hierzu bemerkt der Vorwärts: „Während es sich um die Frage Leipziger Volkszeitung handelt, konstruiert die Notiz eine Vorwärts-Frage.“ Das ist eine gekünstelte Naivität, die niemandem imponieren kann. Der Vorwärts weiß besser als irgendwer, wie groß die allgemeine Unzufriedenheit in der Partei mit ihm und seinen Leistungen ist, und es sind keineswegs naive, sondern ganz andere Gründe, die den Haupturheber dieser allgemeinen Unzufriedenheit eine Leipziger Volkszeitungs-Frage konstruieren lassen möchten, indem er mit einer ganzen Artillerie von haltlosen Anklagen über unser Blatt hereinbricht. Machen es uns nun aber diese Gründe zu einer höchst widrigen Aufgabe, auf diese Angriffe zu antworten, so sind sie es doch auch wieder, die in unseren Freuden den Wunsch erregt haben, dass wir die Vorwärts-Frage aus den Regionen, in denen K[urt] E[isner] sie mit zwecklosem Zank verschleppen möchte, auf die prinzipielle Höhe erheben möchten, auf der sie allein zum Nutzen der Partei gelöst werden kann.

Wen wir uns entschlossen haben, diesen Wünschen gerecht zu werden, so geschieht es namentlich in der Erwartung, dass unseres unmaßgeblichen Erachtens in den unzähligen Vorwärts-Debatten, die namentlich auf den Parteitagen stattgefunden und alle damit geendigt haben, aus dem Zentralorgan der Partei immer mehr ihr Zentralleiden zu machen, die richtigen Gesichtspunkte verfehlt oder doch nicht entfernt zu der ihnen gebührenden Geltung gekommen sind. Das klingt anmaßend, soll es aber gar nicht sein und ist es auch nicht. Denn die richtige Würdigung dieser Gesichtspunkte setzt nichts andres als eine vieljährige Erfahrung im Zeitungswesen voraus, die nicht jedermanns Sache zu sein braucht, auch kein besonderer Vorzug und am allerwenigsten ein besonderes Glück ist. Wir möchten sozusagen ein fachmännisches Gutachten über die Vorwärts-Frage abgeben, und wie sich solche fachmännischen Gutachten durch eine gewisse trockene Sachlichkeit auszuzeichnen pflegen, so fügt es sich glücklich, dass wir unsere Aufgabe durchführen können, ohne an irgendeinem Parteigenossen irgendeine persönliche Kritik zu üben. Die fünfzehnjährige Geschichte des Vorwärts ist ein wahrhaft klassisches Beispiel dafür, wie ein falsches Grundprinzip wieder und wieder seine schädlichen Konsequenzen zieht, trotz der redlichsten und an sich durchaus überlegten Bemühungen, diese Konsequenzen zu beseitigen, ohne das falsche Prinzip selbst anzutasten.

Nur mit K[urt] E[isner] werden wir persönlich abrechnen müssen. Auch das würden wir uns gern schenken, wenn wir nicht unsere Erfahrungen hätten, wenn wir nicht wüssten, dass ein völliges Schweigen über seine gegen uns gerichteten Beschuldigungen falsch ausgelegt werden würde. Man würde sagen, wir hätten nichts zu erwidern gehabt und deshalb den Streit auf ein andres Gebiet gespielt. Indessen werden wir auch K[urt] E[isner] nachzuweisen haben, dass er weit mehr ein Opfer als ein Schuldiger, weit mehr zu entschuldigen als anzuklagen ist. Auch werden wir diesen Teil unserer Aufgabe möglichst kurz und schnell zu erledigen suchen, indem wir eine charakteristische Probe der belletristischen Mätzchen ohne ein Wort der Kritik unseren Lesern vorlegen und den wissentlich unwahren Schmähungen einfach den urkundlichen Tatbestand entgegenstellen, mit so wenig Räsonnement wie irgend möglich.

K[urt] E[isner] beginnt mit einer Betrachtung über bürgerliches Cliquenwesen, die uns hier nicht weiter interessiert. Einzelne Spuren davon will er auch in der Partei entdeckt haben, wobei es nach seiner Ansicht noch nicht einmal die schlimmste Erscheinung sei, dass sich Parteigenossen gegenseitig herunterrissen, weit bedenklicher noch sei ein gewisses System des Heraufsetzens. Und dann heißt es wörtlich:

“Für ein, allerdings nur ein einziges Parteiblatt genügte es, dass jemand seiner Meinung in irgend einem Streite war, und das betreffende Organ wurde dann, wenn es sich um eine noch so flüchtige Tagesleistung gehandelt haben mochte, als Ausbund selbständigen Urteilens, prinzipieller Erkenntnis und parteigenössischen Fühlens wahllos ausposaunt. Umgekehrt, wenn jemand an dem Parteiblatt etwas auszusetzen hatte, so blieb an dem Blatte kein gutes Haar übrig. Es wurde so jämmerlich zugerichtet, dass kein anständiger Hund mehr einen Bissen Brot aus solchen Händen hätte annehmen können. Bisweilen beobachtete man allerdings auch höchst betrübsame Abstürze und Wandlungen in den Schätzungen seitens jenes Parteiorgans. Es kam z. B., dass ein Blatt jahrelang als ein Muster der Vollkommenheit gepriesen ward, dann geriet es aus irgend einem Anlass mit dem begönnerten Parteiblatt in Konflikt und wurde auch dieses Blatt plötzlich, obwohl sich in der Redaktion und im Wesen gar nichts geändert hatte, unter jenes Gesinde gesteckt, das nicht wert ist, den Namen eines anständigen Parteigenossen zu tragen. Wie gesagt, der „schlechte Ton“, der von einzelnen Parteigenossen angewendet worden ist, ist noch viel anstößiger als dieser allzu gute Ton, denn er verführt zu der verderblichen Anschauung, dass es nicht sowohl darauf ankomme, dass jeder nach bestem Ermessen seine Überzeugung ausspricht, dass man nicht ach sachlichen Erwägungen Wert oder Unwert einer Anschauung, einer Leistung prüft, sondern dass man sein Urteil danach einrichtet, gehört er zu mir, dann hat er immer recht, dann schreibt er immer glänzend; aber ist er am Ende mein Gegner, dann kann er am Ende ein Heros sein, er wird niemals eine anständige Zensur erhalten. Das Verfahren erinnert ein wenig an jene verrufenen Zeugnisse, welche Herrschaften dem „Gesinde“ ins Führungsbuch einschreiben, jene Zeugnisse, die davon abhängig gemacht werden, ob sich die Herrschaft mit dem Gesinde vertragen oder gezankt hat. Schon aus diesen Bemerkungen sieht man, dass mit dem Schlussartikel vom guten oder schlechten Ton noch gar nichts gesagt ist. Gerade der gute Ton kann noch viel schlechter sein als der schlechteste.

Die Leipziger Volkszeitung, die ja den Ruf und Beruf hat, zu der Durchdringung der Partei mit prinzipieller Aufklärung der ganzen übrigen Parteimasse um ein unendliches Stück voran zu sein, gibt neuerdings wieder eine Probe von dieser Erziehung zur prinzipiellen Klarheit, indem sie einen ganzen Leitartikel dieser Guten-Ton-Frage widmet. Wir begreifen es, dass der Leipziger Volkszeitung dieses Thema so sehr am Herzen liegt, dass sie es bei jeder Gelegenheit traktiert. Die Leipziger Volkszeitung verteidigt seit jeher nach demselben Muster das Recht auf einen schlechten Ton, das sie sich allerdings durchaus als ein monopolistisches Recht denkt. Wenigstens möchten wir niemandem raten, mit der Leipziger Volkszeitung in irgend einer Frage nicht ganz einer Meinung zu sein, auch die höflichsten und zartesten Ausdrücke eines solchen Gegensatzes würden nicht davor schützen, morgen in diesem Parteiblatt zu lesen, dass ein Bubenstück an ihm verübt worden sei, wie es in der Geschichte der entarteten Gesellschaftsklassen auch von den verwahrlostesten Individuen noch niemals begangen worden sei. Wer sich gegen dieses monopolistische Recht auf den schlechten Ton wehrt, der ist – das wird stets als einziges Argument angeführt –philisterhaft oder sentimental, er ist weinerlich, er flennt, er ist zimperlich wie eine alte Jungfer, e ist ein Schwächling, kurz er ist ein Idiot und ein Lump obendrein.“

Wir begnügen uns gern, diese Probe einer parteigenössischen und sachlichen Kritik niedriger zu hängen.
 

II.

Der Vorwärts behauptet, K[urt] E[isner] habe mit seinen Ausfällen gegen uns nur „auf einen an den Haaren herbeigezogenen Angriff“ geantwortet. Sehen wir zu!

Vollmar wurde wegen seiner Depesche an die Tägliche Rundschau vom Vorwärts verurteilt. Dagegen legten wir in unserem Leitartikel über „guten Ton“ dar, dass mit der Verurteilung Vollmars sehr wenig erreicht sei, wenn nicht mit der üblen Sitte, die in seiner Depesche gipfelte gründlich aufgeräumt werde. Wir führten als Beispiel an, dass der Vorwärts, wenn auch nicht in so krasser Form wie Vollmar, eben erst denselben Fehler begangen habe. Diese Kritik war gerade so „an den Haaren herbeigezogen“ wie die Kritik des Vorwärts an Vollmar.

Den Fall selbst kennen unsere Leser, aber wir müssen uns gestatten, ihn noch einmal zu rekapitulieren. Ende Mai d[iesen] J[ahres] veröffentlichten die Berliner Genossen einen Aufruf im Vorwärts, worin sie die Absicht kundgaben, eine Pflicht der Pietät gegen ihre Vorfahren zu erfüllen und eine Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung herauszugeben, wozu sie um Einsendung von Material baten. Der Aufruf, der nicht den geringsten Angriff auf gegnerische Parteien enthielt, veranlasste Eugen Richter in einem langen Leitartikel die höhnische Aufforderung an die Berliner Genossen zu richten, in dem von ihnen geplanten Geschichtswerk doch ja auch zu erzählen, dass Bismarck und sein Reptilienfonds [zur Korrumpierung der Presse] die Taufpaten der Berliner Arbeiterbewegung gewesen seien. Hierzu schwieg der Vorwärts, während wir in einer kurzen Notiz einige besonders bübische Lügen Richters zusammenstellten und ihn daraufhin einen „Strolch noch im Sterben“ nannten. Dazu schwieg der Vorwärts abermals. Erst zehn oder zwölf Tage später, als die Kölnische Zeitung die Parteipresse aufforderte, unseren auf Richter angewandten Ausdruck zu verleugnen, brachte der Vorwärts – das einzige von allen Parteiblättern – diese Aufforderung nach und entsprach ihr, indem er unseren Ausdruck missbilligte, ohne seinen Lesern auch nur eine Silbe über den Tatbestand mitzuteilen, der uns veranlasst hatte, Herrn Richter zu nennen, wie wir ihn genannt haben.

Wir haben uns nun nicht über die Missbilligung des Vorwärts an sich beschwert, denn hätte er sie aus eigener Kraft produziert, so wäre er in seinem Reichte gewesen, das wir ihm nicht bestreiten können und wollen. Wir haben uns nur darüber beschwert, dass der Vorwärts auf Verlangen eines gegnerischen Blattes seine Missbilligung aussprach, wobei es vollständig gleichgültig ist, ob sie an sich berechtigt war oder nicht. Diese Verfahrend es Vorwärts stellten wir auf eine Linie mit Vollmars Depesche an die Tägliche Rundschau, wobei wir jedoch nicht verfehlten zu bemerken, dass Vollmars Fall noch schlimmer liege. Hören wir nun, was K[urt] E[isner] zu unserer Beschwerde zu sagen hat:

“Es geht wirklich nicht an und es ist uns unbegreiflich, dass die Leipziger Volkszeitung diese Entgleisung nicht einfach zugibt, sondern sie noch zu einem Ruhmestitel umzubiegen sucht, den Führer der Freisinnigen Volkspartei, ein so unverständiger und gehässiger Gegner er ist, in dem Augenblick, wo er schwer erkrankt darnieder liegt, einen „Strolch noch im Sterben“ zu nennen. Wir haben uns seinerzeit begnügt damit, einfach festzustellen, dass wir derlei Wendungen nicht billigen, die kein „schlechter Ton“ sind, sondern einen bedauerlichen Empfindungsmangel verraten, anstatt etwa nun aus diesem Anlass eine große Polemik gegen unser Parteiblatt zu führen. Die Ungehörigkeit dieser Phrase wurde dadurch verschärft, dass das Organ Eugen Richters in der Beurteilung des parteigenössischen Arbeiterführers v. Schweitzer im wesentlichen auf ein korrekt angeführtes Zitat aus einer Rede Bebels berufen hatte, ohne dass die Leipziger Volkszeitung, als sie diese Wendung über den erkrankten Eugen Richter gebrauchte, es für nötig befunden hätte, diesen Sachverhalt mitzuteilen. Es ist zwar eine gewisse, aber keine genügende Entschuldigung, dass das Organ Eugen Richters die heute noch aufrecht erhaltenen Behauptungen Bebels über Herrn v. Schweitzer in bösartiger Weise verallgemeinert hatte. Wen uns die Leipziger Volkszeitung jetzt zum Vorwurf macht, dass wir uns mit der einfachen Missbilligung ihres Ausdrucks begnügt haben, war das eben die gelindeste Form, denn sonst hätten wir nicht unterlassen dürfen, auch darauf hinzuweisen, dass in dem Angriff der Leipziger Volkszeitung zu einem gewissen Teil auch Parteigenossen mit betroffen worden sind.“

Diese Sätze sind eine wissentliche Entstellung des Sachverhaltes. Wir hatten dem Vorwärts nicht zum Vorwurf gemacht, sich mit einer einfachen Missbilligung begnügt zu haben, unsere Beschwerde war, dass er auf Verlangen eines gegnerischen Blattes seine Missbilligung ausgesprochen hat. Diesen Punkt, um den sich der ganze Streit dreht, verschweigt K[urt] E[isner] absichtlich. Dagegen sagt er, wir hätten es nicht für nötig befunden, Richters Berufung auf eine Äußerung Bebels mitzuteilen, und er will die „gelindeste Form“ der Missbilligung gewählt haben, weil er sonst nicht hätte unterlassen dürfen, darauf hinzuweisen, dass in unserem Angriffe zu einem gewissen Teile auch Parteigenossen mit betroffen worden seien. Alles das ist entweder entstellt oder erfunden, um die Leser des Vorwärts über den wahren Zusammenhang der Dinge zu täuschen.

Bekanntlich hat Genosse Bebel vor etwa dreißig Jahren den ehemaligen Parteigenossen Schweitzer einen „politischen Lumpen“ und einen „Regierungsagenten“ genannt. Diese Äußerung Bebels hat Herr Eugen Richter seitdem unzählige Male abgedruckt, und so auch in dem Artikel, wo er schamlos genug war, eine pietätvolle Absicht der Berliner Genossen zu verhöhnen. Hätten wir behauptet, dass jeder Satz des Richterschen Artikels eine Verleumdung sei, dann allerdings wären wir verpflichtet gewesen, sein Zitat as einer Rede Bebels zu erwähnen. Aber davon waren wir so weit entfernt, dass wir selbst in unserer kurzen Notiz nicht weniger als drei falsche Behauptungen Richters berichtigten, von denen wir zugeben, dass sie unseres Erachtens keiner verleumderischen Absicht zuzuschreiben seien. Also welchen Anlass hatten wir, uns dabei aufzuhalten, dass Herr Eugen Richter vielleicht zum hundertsten Male die Äußerung Bebels über Schweitzer abdruckte?

Dazu kam eine Rücksicht jener Loyalität gegen Parteigenossen, die uns K[urt] E[isner] so eindringlich empfiehlt. Der politische Leiter unsres Blattes [Franz Mehring] hat Bebels Urteil über Schweitzer schon zu einer Zeit, wo K[urt] E[isner] noch gar nicht der Partei angehörte, as unrichtig bekämpft; und Bebel hat darauf erklärt, er werde seine Ansicht in seinen Denkwürdigkeiten [Aus meinem Leben] begründen, an denen er in der Zeit arbeite, die ihm seine Parteitätigkeit übrig ließe. Sollen wir bis dahin nun jedes Mal, wenn Eugen Richter jene Äußerung Bebels zitiert – und das geschieht mindestens alle vier Wochen einmal – gegen Bebel polemisieren? Das hieße ja in jenen „unfruchtbaren Krakeel“ und jene „öde Rauferei“ verfallen, vor denen uns K[urt] E[isner] so ernst warnt.

Aus diesen Gründen haben wir die Berufung Richters auf Bebel nicht erwähnt und nur solche Behauptungen Richters angenagelt, die auch dann nichtswürdige Verleumdungen bleiben, wenn Bebels Urteil über Schweitzer vollkommen zutreffen sollte. Mag Schweitzer ein „politischer Lump“ gewesen sein, so hat Eugen Richter kein Recht, in die von Schweitzer verfassten Bismarckartikel einen Inhalt hineinzulegen, von dem auch nicht eine Silbe darin steht, nur um auf diesen erlogenen Inhalt hin die Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung einer schmutzigen Korruption zu bezichtigen, und mag Schweitzer ein „Regierungsagent“ gewesen sein, so hat Eugen Richter kein Recht zu behaupten, die erste sozialdemokratische Zeitung in Deutschland sei aus dem Reptilienfonds unterhalten worden, wodurch alte Freunde und Kampfgenossen Bebels, wie Tölcke, Hasenclever und Bracke, noch im Grabe als bestechliche Schufte beschimpft werden.

Verlangt denn K[urt] E[isner], dass die erste Organisation der deutschen Sozialdemokratie für jeden kapitalistischen Lügner vogelfrei sein solle, weil Bebel eines ihrer hervorragenden Mitglieder, und wäre es auch mit Recht, für einen falschen Bruder hält? Machen wir uns die Sache an einem Beispiel klar, unter der Voraussetzung, dass Bebels Urteil über Schweitzer richtig sei, an einem ideell vollkommen zutreffenden, wenn auch deshalb praktisch unmöglichen Beispiele. Gesetzt, der Redakteur X des Vorwärts wäre durch ein Parteischiedsgericht als Regierungsagent enthüllt worden, gesetzt der kapitalistische Klopffechter Y druckte dieses Urteil zum soundso viel hundertsten Male ab, um die Behauptung hinzuzufügen, der Vorwärts werde aus den geheimen Fonds der Regierung unterhalten, gesetzt endlich, wir erklärten auf diese Behauptung hin den Y für eine gottverdammte Kanaille, ohne das aller Welt bekannte Urteil über X zu erwähnen, so argumentiert K[urt] E[isner]: „Die Leipziger Volkszeitung hält es nicht für nötig mitzuteilen, dass Y sich im Wesentlichen in der Beurteilung des X auf das richtig wiedergegebene Urteil eines Parteischiedsgerichtes berufen hat. Es gereicht ihm zwar zu einer gewissen, aber zu keiner genügenden Entschuldigung, dass Y das unanfechtbare Urteil eines Parteischiedsgerichts in bösartiger Weise verallgemeinert hat. Wir beschränken uns jedoch auf die gelindeste Form der Missbilligung, indem wir nur die Ausdrucksweise der Leipziger Volkszeitung rügen, denn sonst müssten wir auch darauf hinweisen, dass in ihrem Angriff zu einem gewissen Teil ein Parteischiedsgericht mit betroffen worden ist.“ Schaltet man die Person Bebels aus, so tritt der Widersinn in seiner ganzen Nacktheit hervor, aber die Person Bebels wird eben von K[urt] E[isner] „an den Haaren herbeigezogen“, um den Berliner Genossen zu suggerieren, dass wir in einem Falle, wo wir beim Versagen ihres eigenen Organs eine von ihnen beabsichtige Handlung der Pietät gegen verleumderischen Hohn geschützt haben, vielmehr einen hinterhältigen angriff auf Bebel beabsichtigt hätten.

Wenn uns K[urt] E[isner] dann einen „bedauerlichen Empfindungsmangel“ vorwirft, so nehmen wir diesen aus eigener Kraft produzierten Tadel gern entgegen bedauern jedoch, dass seine bessernde Kraft durch folgenden gleichzeitig im Vorwärts veröffentlichten Satz sofort gelähmt wird:

„Der dortige (Dortmunder) Redakteur, Genosse Haenisch, tritt an Stelle des Genossen Jaeckh in die Leipziger Volkszeitung ein.“

Die Notiz über den demnächstigen Eintritt des Genossen Haenisch in unsere Redaktion ist von der ganzen Parteipresse gebracht worden, nur allein das Zentralorgan der Partei versieht sie mit dem unwahren Zusatze, den wir durch gesperrten Druck hervorgehoben haben. Dabei wusste der Vorwärts, dass eine Lücke in unserer Redaktion bestand, denn er selbst hat – sogar noch vor der Leipziger Volkszeitung, wenn auch, wie bei ihm üblich, unter Angabe unrichtiger Einzelheiten – den Übertritt des Genossen Wagner von unserem Blatt an das Bauter [?] Parteiorgan gemeldet. In derselben Nummer des Vorwärts also, wo K[urt] E[isner] den „erkrankten Eugen Richter“ seine „Empfindungen“ widmet, erhält der erkrankte Parteigenosse Jaeckh einen Stoß in den Rücken, dass er gleich zur Leipziger Volkszeitung hinausfliegt, wenigstens in den Augen derer, die es für selbstverständlich halten, dass im Zentralorgan der Partei wahrheitsgemäß über Parteivorkommnisse berichtet wird.

Wir stellen übrigens fest, dass wir den Vorwärts sofort auf die Unrichtigkeit seiner Mitteilung über den Genossen Jaeckh aufmerksam gemacht haben, ohne dass er se bisher berichtigt hätte, obgleich sie die bürgerliche Presse zu den höhnischsten Angriffen auf einen Genossen veranlasste, dessen Parteitägigkeit von niemandem höher geschützt wird als von denen, die sie am genauesten kennen, nämlich von den Leipziger Parteigenossen.
 

III.

Unmittelbar nach seiner wissentlichen Entstellung der Richteriade fährt K[urt] E[isner] fort:

„Und wenn endlich die Leipziger Volkszeitung mit schönem Zorn die Kameradschaft gegenüber Angriffen der Gegner fordert, die der Vorwärts angeblich verletzt haben soll, so dürfte das Gedächtnis der Leipziger Volkszeitung nicht so kurz sein, um nicht zu wissen, dass der Vorwärts zwar bei jeder Gelegenheit diese Solidarität geübt hat, dass aber die Leipziger Volkszeitung in wiederholten Fällen, wo nicht nur die ganze bürgerliche Presse uns umheulte, sondern wo wir auch sehr schwere Konflikte mit der bürgerlichen Justiz hatten, dem Vorwärts in den Rücken gefallen ist, ja sogar für die Gegner auch das Stichwort des Angriffs ausgegeben hat.“

Wir haben vom Vorwärts weder Kameradschaft noch etwas für uns gefordert; in diesem Punkte sind wir äußerst bescheiden. Wir habe nur verlangt, dass der Vorwärts die Partei nicht blamieren solle, indem er auf das Verlangen der gegnerischen Presse andere Parteiblätter verleugnet, wenn sie berechtigte Parteiinteressen vertreten, so gut sie können.

Im Übrigen aber stellt K[urt] E[isner] mit den oben angeführten Sätzen die Wahrheit auf den Kopf. Unser Gedächtnis ist lang genug, um zu wissen, dass wir niemals einem Parteiblatte, das sich im Kampfe mit den Gegnern befand, in den Rücken gefallen sind, aber es brauchte nur sehr kurz zu sein, um sich zu erinnern, dass, als im Dezember v[origen] J[ahres] die Leipziger Volkszeitung wegen des Zollartikels von „der ganzen bürgerlichen Presse umheult“ wurde, K[urt] E[isner] ihr in den Rücken fiel mit erbaulichen Betrachtungen über „kalte und triviale Schimpfereien“, „Kraftmeiertum“, „inhaltlose Phrasenhaftigkeit“, „Athletentum in Worten“ usw. Darauf haben wir in kräftigeren Wendungen, als wir heute gebrauchen wollen, aber dem Sinn nach erwidert, dass, wer die Kaiserinselgeschichte und ähnliche Sensationen am stecken habe, sich immerhin einige Karenzzeit im Schulmeistern anderer Genossen auferlegen dürfe, ohne seiner Würde etwas zu vergeben. Das war unser Recht, und zwar nicht bloß, weil wir in raffinierter weise herausgefordert waren. Ein Parteiblatt, das sich im Gedränge mit dem Gegner befindet, und sei es auch durch eigene Schuld, hat allen Anspruch darauf, von den eigenen Genossen mit Moralpredigten verschont zu werden, aber es hieße, einen allzu lockenden Preis auf Parteidummheiten setzen, wenn sie in alle Ewigkeit als ehrwürdige Parteiüberlieferungen gelten sollten, weil sie in irgendwelcher Vergangenheit den Gegnern zum Nutzen und Vergnügen gereicht haben.

Über das „Stichwortgeben“ für den Gegner nur ein kurzes Wort! Solange die Partei existiert, hat es in ihr auch Meinungsverschiedenheiten gegeben, und solange diese Meinungsverschiedenheiten öffentlich ausgetragen werden, sind sie von den Gegnern ausgebeutet worden. Wir geben bereitwillig zu, dass die Leipziger Volkszeitung mitunter gegen den Vorwärts ausgespielt worden ist, aber wir müssen hinzufügen, dass der Vorwärts noch viel häufiger gegen die Leipziger Volkszeitung ausgespielt wird. Wie oft müssen wir von den Gegnern noch heute das „Athletentum in Worten“ hören, und selbst die beiden Artikel, die K[urt] E[isner] gegen uns richtet, sind schon von Hanswurst Liman in den Leipziger Neuesten Nachrichten durch einen virtuosen Grotesktanz verherrlicht worden. Sagen wir deshalb, der Vorwärts habe den Gegnern das „Stichwort“ zu Angriffen gegen die Leipziger Volkszeitung gegeben? Fällt uns gar nicht ein! Wir gehören noch jener altväterlichen Zeit an, wo die ganze Partei durchdrungen war von Lassalles Wort, dass die Unabhängigkeit von derjenigen öffentlichen Meinung, die kapitalistische Tintenkulis fabrizieren, die erste Vorbedingung sei, etwas Tüchtiges für die Arbeiterklasse zu leisten, wo auf alle Kapriolen dieser Kulis gepfiffen und in Parteisachen weder nach der Musik der #täglichen Rundschau noch nach der Musik der Kölnischen Zeitung getanzt wurde.

Nun aber kommt die Hauptanklage gegen uns. K[urt] E[isner] erzählt den Lesern des Vorwärts:

„Die Leipziger Volkszeitung hat gelegentlich des Plötzenseeprozesses zwei Vorwärts-Redakteuren vorgeworfen dass sie Kabinettsjustiz wenn auch nicht veranlasst, so sich doch haben gefallen lassen. Kabinettsjustiz ist kein Schimpfwort, kein derber Ausdruck, kein schlechter Ton es ist ein höchst nobler und stilistisch durchaus würdiger technischer Ausdruck. Der Inhalt dieses Vorwurfs aber ist so schwer, dass er, wenn er berechtigt wäre, genügen würde, den Ausschluss jedes Parteigenossen, der sich solche Verfehlung hat zuschulden kommen lassen, ohne weiteres herbeizuführen. Ja auch jeder bürgerliche Rechtsanwalt, der mit Recht einer solche Verfehlung beschuldigt wäre, würde aus dem Rechtsanwaltsstande beseitigt werden müssen. Die Leipziger Volkszeitung erhob diesen Vorwurf auf Grund der unbegreiflich groben Verwechslung: der Justizminister wurde als Chef des Oberstaatsanwalts angerufen, der den Klageantrag im Interesse der im Justizressort beschäftigten Beamten erhoben hatte. Es handelte sich um den Justizminister als Chef der angeblich beleidigten Beamten, um die Einwirkung auf Rücknahme des Strafantrags bei der dazu berechtigten Person. Es kam aber gar nicht in Frage der Justizminister als höchster Beamter der Rechtspflege, der in die unabhängige Rechtspflege eigenmächtig eingreift. Gehörte Plötzensee nicht zufällig ins Ressort des Justizministeriums, sondern unterstände es, wie die meisten anderen Gefängnisse, dem Minister des Innern, so hätte der Minister des Innern in Anspruch genommen werden müssen. ein bürgerlicher Rechtsanwalt hat in sehr klarer Weise diesen Unterschied auseinandergesetzt. Die Leipziger Volkszeitung aber, anstatt loyal diesen unerhörten Angriff zurückzunehmen, erklärte diesen fundamentalen Unterschied, ohne die überzeugenden Ausführungen selbst wiederzugeben, für „Haarspalterei“! Wenn ein Parteiblatt den denkbar schwersten Vorwurf gegen Parteiredakteure erhebt aufgrund einer leichtsinnigen Verwechslung grundlegender Begriffe, und wenn es, aufmerksam auf diese Verwechslung gemacht, dann nicht reumütig und loyal den Angriff zurücknimmt, sondern sich noch den Anschein des guten Rechts gibt, um ja nicht die von ihm beanspruchte Unfehlbarkeit einzubüßen, so ist das wahrlich keine Frage des guten oder schlechten Tones. Wer solche Methoden nicht mit allen Mitteln zu bekämpfen sucht, der weiß nicht, was er seiner Parteipflicht schuldig ist.“

Das ist ein Weichselzopf von Entstellungen und Verdrehungen, den wir am leichtesten aufwirren, indem wir ihm die urkundliche Wahrheit entgegenstellen.

Als der Plötzenseeprozess den bekannten unerwarteten Ausgang nahm, veröffentlichte ein Gerichtsberichterstatter eine ihm vom Rechtsanwalt Löwenstein diktierte Notiz, worin mitgeteilt war, dass Herr Löwenstein die Vergleichsverhandlungen durch einen Besuch beim Justizminister eingeleitet habe. Es heißt kann wörtlich weiter:

>„Obgleich der Minister keinen Empfangstag hatte, wurde Dr. Löwenstein dennoch sofort empfangen, nachdem der Justizminister von dem Zweck der nachgesuchten Audienz unterrichtet worden war. Die Besprechung der beiden Herren dauerte über eine halbe Stunde. Zum Schlusse derselben erklärte der Minister, dass er für seine Person jede Einmischung in den schwebenden Prozess und jede unmittelbare Einwirkung auf die Behörden, die den Strafantrag gestellt haben, ablehnen müsse, andererseits werde er es nicht verhindern, wenn auf der vom Rechtsanwalt Dr. Löwenstein vorgeschlagenen Basis Verhandlungen mit der Oberstaatsanwaltschaft geführt wurden und diese daraufhin den Strafantrag zurücknehme.“

Wir stellen fest, dass nach dieser, von Herrn Löwenstein selbst diktierten Notiz der Justizminister als Vorgesetzter der Oberstaatsanwaltschaft, der Behörde, die den Strafantrag gestellt hatte, also als Chef der Justizverwaltung angesprochen worden ist, dass nicht mit einer Silbe angedeutet wird, er sei als Chef der Gefängnisverwaltung angesprochen worden. Wenn der Justizminister gesagt hat, dass er „für seine Person jede Einmischung in den schwebenden Prozess ablehne“, so hat er das abgelehnt, was man in der sinnlichen Kutschersprache des gewöhnlichen Lebens eine Kabinettsjustiz nennt, und da Herr Löwenstein in keiner Weise behauptet, dass der Minister in die Irre geredet habe, so blieb nach dieser Notiz nur der Schluss übrig, dass dem Justizminister das von ihm abgelehnte Ansinnen auch gestellt worden ist.

Demgemäß sagten wir in unserer Nummer vom 13. Juni, anknüpfend an die Notiz des Gerichtsberichterstatters:

„Danach ist die Initiative zum Abbruch des Prozesses von einem der Verteidiger ausgegangen, selbstverständlich von keinem Verteidiger der angeklagten Parteiredakteure. Immerhin macht es auch so einen peinlichen Eindruck, dass ein Verteidiger in einem politischen Prozesse sich an den Justizminister mit dem, sogar von Herrn Schönstedt sanft gerüffelten Ersuchen zu wenden, in ein schwebendes Verfahren einzugreifen. Wir wissen natürlich sehr gut, was es im preußisch-deutschen Reiche mit der so genannten ‚Unabhängigkeit‘ der Rechtsprechung auf sich hat, aber dass ausgerechnet ein Verteidiger eine Kabinettsjustiz zu provozieren sucht, das ist zwar neu, aber nicht schön.“

Zu dieser Auffassung bemerkte der Vorwärts in jenem „guten Ton“, der ihm so wohl ansteht, dass sie trotz ihrer Dummheit schwerlich aus Dummheit geboren sei; wir hätten sie aus den Fingern gesogen, in originaler Böswilligkeit etc. Er gab dann folgende Aufklärung der Löwensteinschen Taktik:

„Bekanntlich war Klage erhoben wegen Beleidigung von Beamten der Justizverwaltung – Plötzensee gehört in das Ressort des Justizministers – und der Justizminister als Chef der Verwaltung war auch Chef der Strafantragsteller: ohne seine Zustimmung konnte daher für die Beamten seines Ressorts das Verfahren weder eingeleitet noch eingestellt werden!“

Trotz ihrer groben Verbrämung druckten wir diese Angaben sofort wörtlich nach, in unserer Nummer vom 17. Juni; wir wiesen zwar auf ihren Widerspruch mit der Notiz des Gerichtsberichterstatters hin, gaben jedoch zu, dass nach der Darstellung des Vorwärts das Verhalten des Herrn Löwenstein „formal weniger inkorrekt“ erscheine. Die Sache selbst werde allerdings auch dann nicht schöner, was wir so begründeten:

„Sollte die humane Rücksicht auf den Dr. Baer entscheiden, wie der Vorwärts neulich behauptete, dann hätte man mit den alten Herrn und seinem Anwalt verhandeln sollen, die ja als Nebenkläger der Verhandlung beiwohnten, und wenn er geneigt dazu war, konnte man es ihm überlassen, die Zustimmung seiner Vorgesetzten zur Zurückziehung seines Strafantrages einzuholen. Der Gang zum Justizminister als einleitender Akt der Vergleichsverhandlungen war, gleichviel wen Herr Schönstedt beim Ohr nehmen sollte, gelinde gesagt, eine grobe Taktlosigkeit.“

Gleich darauf veröffentlichte Her Löwenstein eine Erklärung, worin er seine Taktik ebenso erläuterte wie der Vorwärts, dessen Angaben wir, wie gesagt, sofort wörtlich abgedruckt hatten. Nur verbrämte Herr Löwenstein seine Ausführung zwar nicht, wie der Vorwärts, mit Ungezogenheiten gegen die Leipziger Volkszeitung, aber mit einem juristischen Kauderwelsch darüber, dass er schon in der Notiz des Gerichtsberichterstatters dasselbe gesagt haben wollte, was er uns mehr sage. Darüber mit ihm zu streiten, hatten wir nicht den mindesten Anlass und nicht die mindeste Neigung, nachdem wir unseren Lesern an der Hand des Vorwärts mitgeteilt hatten, wie Herr Löwenstein seinen Gang zum Justizminister entschuldigen wolle. Gleichwohl gaben wir auch von den nachträglichen Erläuterungen des Herrn Löwenstein eine summarische Notiz, als Genosse Karl Liebknecht in einem Artikel der Sächsischen Arbeiterzeitung sich so ausdrückte, als sei von der „Parteipresse“ den angeklagten Parteiredakteuren und ihren Verteidigern der Vorwurf gemacht worden, eine Kabinettsjustiz provoziert zu haben. Wir schrieben in unserer Nummer vom 21. Juni:

„Wir wollen demgegenüber nochmals feststellen, dass wir weder den Vorwärtsredakteuren noch ihren Verteidigern den Vorwurf gemacht haben, den Genosse Liebknecht so lebhaft abwehrt. Wir haben mit aller gebotenen Vorsicht gesagt, dass „selbstverständlich kein Verteidiger der angeklagten Parteiredakteure“, sondern Herr Löwenstein, den wir ausdrücklich als Verteidiger des Herrn Ahrens nannten, den Justizminister zu einer Kabinettsjustiz zu veranlassen versucht habe. Das hat Herr Löwenstein selbst öffentlich mit Worten kundgetan, die, wenn sie überhaupt einen Sinn haben sollen, nur diesen Sinn haben können. Wenn Herr Löwenstein selbst jetzt durch langatmige Tüfteleien über den Begriff der Kabinettsjustiz, die er in der bürgerlichen Presse veröffentlicht, die Sache anders zu wenden sucht, so fehlt es uns an Raum und Zeit, um auf diese Haarspaltereien einzugehen, aber selbst wenn wir zugunsten des Herrn Löwenstein annehmen wollen, dass er sich in seiner ersten Notiz bloß ungeschickt ausgedrückt hat, so bleibt es dabei, dass sein Bittgang zum Justizminister politisch mindestens eine grobe Taktlosigkeit war. Sollten die Vergleichsverhandlungen angebahnt werden, so war es das einzig Schickliche, mit den Nebenklägern zu verhandeln, denen dann überlassen werden konnte, sich mit dem Oberstaatsanwalt und dem Justizminister auseinanderzusetzen.“

Selbstverständlich halten wir auch heute alle diese Ausführungen bis auf die letzte Silbe aufrecht. Wie haben die mildernden Umstände, die der Vorwärts für das Vorgehen des Herrn Löwenstein geltend machte, sofort unseren Lesern mitgeteilt; wenn aber K[urt] E[isner] nicht begreift, dass, auch trotz dieser mildernden Umstände, der Gang zum Justizminister juridisch und politisch eine grobe Taktlosigkeit war, so ist ihm noch ein Rätsel, was Karl Marx unter „einfachem sittlichem Takt“ verstand.

Nun zu den angeklagten Parteiredakteuren, die wir der denkbar ehrlosesten Handlungen beschuldigt haben sollen. In unserer Nummer vom 13. Juni baten wir um eine – immer noch nicht gegebene – Aufklärung über die Gründe, aus denen der Plötzenseeprozess abgebrochen worden sei, um den Gegnern die Möglichkeit zu nehmen, einen „ehren- und siegreichen Kampf mit einem Schein von Recht zu verspotten“; und wir sagten über die Bemühungen der Gegner:

„Die Vossische Zeitung stellt die Sache so dar, als ob der Vorwärts seine Kritik des Strafvollzuges in Plötzensee als einen Injurienkrieg gegen die Personen begonnen, aber vor Gericht seinen Beweis nicht habe führen können, und dass er sich nun durch ein demütiges pater peccavi [„Vater, ich habe gesündigt“] aus der Affäre gezogen habe. Das ist eine schnöde Entstellung des Sachverhalts. Der Vorwärts hat sich durch die Kritik des Strafvollzuges in Plötzensee ein großes Verdienst erworben; mit reinem Gewissen und mit voller Ehre konnten seine angeklagten Redakteure wieder und wieder erklären: wir wollten keine Personen beleidigen, sondern ein unheilvolles System bessern. Ein nicht minder großes Verdienst haben sich ihre Redakteure und ihre Verteidiger dadurch erworben, dass sie in kräftiger und zähester Weise den Kampf ums Recht aufnahmen, der ihnen durch die Instituierung und Leitung des Prozesses aufgedrängt wurde. Sie haben in diesem Kampfe nicht nur Ehren, sondern auch Sieg auf Sieg errungen; sowohl der Strafvollzug als auch die Rechtsprechung, wie sie in Preußen üblich sind, standen vor einer zerschmetternden Niederlage.“

Am nächsten Tage, 14. Juni, gab uns eine Erklärung des bürgerlichen Mitangeklagten Schneidt, wonach die Angeklagten die Richtigkeit der mehrerwähnten Berichterstatternotiz nicht kontrollieren könnten, den Anstoß zu Bemerkungen, von denen die erste sich auf die – bekanntlich unrichtige – Behauptung Schneidts bezog, das Herr Löwenstein von der Anklagebehörde zum Gange aufs Justizministerium veranlasst worden sei, während die zweite lautete:

„Ferner aber müssen die Angeklagten mindestens die Angabe des Gerichtsberichterstatters zu kontrollieren in der Lage sein, wonach sie Herrn Löwenstein, nachdem er beim Justizminister gewesen war, auch ihrerseits zur Führung der Vergleichsverhandlungen bevollmächtigt haben sollen. Das wäre nach der, wie die [bürgerlich-liberale] Frankfurter Zeitung nicht mit Unrecht sagt, „etwas befremdliche“ Taktik des Herrn Löwenstein, nicht so ganz selbstverständlich.“

Auf diese schonende und schüchterne Andeutung einer Ansicht hin, die andere Parteiblätter, wie die Dortmunder Arbeiterzeitung und die Elberfelder Freie Presse zehnmal so derb und freilich auch zehnmal so treffend ausgesprochen haben, der Ansicht nämlich, dass die angeklagten Parteiredakteure bei allen ihren sonst willig anerkannten Verdiensten den Herrn Löwenstein nach seinem Gange aufs Justizministerium nicht mehr hätten bevollmächtigen sollen, erhebt K[urt] E[isner] seine summarischen Anklagen auf Hochverrat an der Partei und den Parteigenossen.

Kellen wir noch die Suppe der sittlichen Entrüstung auf, die er über den von ihm fabrizierten Tatbestand ergießt, versteht sich, ohne sie durch ein kritisches Wort zu versalzen:

„Es ist keine Frage guten oder schlechten Tons, ab man von Parteigenossen unwahrerweise Dinge behauptet, die ihre parteigenössische und persönliche Ehre herabsetzen. Es ist keine Frage des starken oder sentimentalen Stils, ob man fälschlich ihnen Handlungen unterstellt, die sie auf das empfindlichste bloßstellen müssen. Es ist überhaupt keine Frage des „Tones“, ob man von Parteigenossen unwahre Dinge behauptet oder nicht, ob man ihre Anschauungen entstellt, ihre Gesinnungen verleumdet, ihre Qualifikation beweislos höhnt – das sind Fragen der Partelehre und es ist ganz gleichgültig, ob solche angriffe in Schimpfereien oder in sanftesten „Tönen“ sich äußern. Eine Polemik, die solche Mittel anwendet, frisst ins Mark der Partei, und es ist ein unmöglicher Zustand, dass gleichstrebende Weggenossen, die für das selbe Ideal arbeiten und kämpfen, sich gegenseitig Dinge – ohne irgendeinen tatsächlichen Untergrund – vorwerfen, die für immer ein Zusammenarbeiten, einen weiteren parteigenössischen Verkehr vereiteln müssen, sofern man überhaupt, was doch die Voraussetzung aller parteigenössischen Polemik ist, die Personen, die solche Angriffe fanatisch pflegen, ernst nehmen will. Es geht nicht an, diese Angriffe auf die Dauer zu ignorieren, sie lassen sich auch nicht, wenn sie systematisch geübt werden, als gelegentliche Entgleisungen entschuldigen, sie müssen unter allen Umständen ausgerottet werden!“

Unsere aufrichtigen Wünsche begleiten K[urt] E[isner] auf dem Ausrottungsfeldzuge, für den er seine Kampfmethoden so feierlich ankündigt.

* * *

Fassen wir zusammen! Das eine der Parteiverbrechen, die wir begangen haben sollen, besteht in einer Beschwerde, von deren Berechtigung K[urt] E[isner] selbst so durchdrungen ist, dass er sie den Lesern des Vorwärts nicht einmal mitzuteilen wagt, das andere aber darin, dass wir einer lebhaften Anerkennung des Vorwärts und seiner im Plötzenseeprozess angeklagten Redakteure den leisen Vorbehalt hinzugefügt haben, diese Redakteure hätten für die Vergleichsverhandlungen lieber nicht einen bürgerlichen Advokaten bevollmächtigen sollen, der sich durch sein Antichambrieren bei einem preußischen Minister in eben dieser Sache juridisch und politisch bloßgestellt hatte.

Uns genügt, dass wir in beiden Fällen die Überlieferungen der Lassalle, Marx und Engels durchaus sachlich gewahrt haben.
 

IV.

Indem wir zur Sache übergehen, knüpfen wir an einen Antrag an, der vor einigen Tagen von der Kreiskonferenz des Wahlkreises Bochum angenommen wurde und folgenden Wortlaut hat:

„Die Kreiskonferenz des Wahlkreises Bochum-Gelsenkrichen-Witten-Hattingen ersucht den Parteitag in Jena, sich energisch gegen die unaufhörlichen Zänkereien einer Gruppe schriftstellerisch tätiger Parteigenossen auszusprechen und den Parteitag nicht zum Tummelplatz persönlichen Literatenstreites werden zu lassen. Je länger der Zank andauert, um so deutlicher stellt sich heraus, dass nicht um prinzipielle Fragen gestritten wird, deren sachliche Diskutierung sehr förderlich sein würde, sondern dass eine kleine Gruppe Parteiliteraten „prinzipielle Gegensätze“ vorschützt, um ihrer persönlichen Rechthabersucht frönen zu können.

Dieser unleidliche Zustand schädigt ungemein die Interessen der Partei und lähmt die Arbeitsfreudigkeit der Genossen im Lande. Wenn die in dem persönlichen Streit an führender Stelle stehenden Genossen wüssten, wie sehr sie den Agitatoren für unsere Bewegung, insbesondere den unter ihren Klassengenossen agitierenden sozialdemokratischen Arbeitern die Aufklärung der Masse erschweren, sie würden gewiss ihre ganze Kraft gegen die immer brutaler auftretenden Gegner der Arbeiterbewegung verwenden, statt so viel im Kampfe gegen Genossen zu verschwenden. Die Kreiskonferenz erwartet daher von dem Parteitag, dass er dem parteischädigenden Treiben gegenüber mit aller Entschiedenheit erklärt: Bis hierher und nicht weiter!“

Der Vorwärts ist mit dieser Resolution einverstanden und macht nur die einschränkende Bemerkung dazu: aber wir sind nicht schuld, sondern „die in das Gewand der Parteirettung gekleidete Krakeelsucht der Leipziger Volkszeitung“. Wir dagegen sind mit der Resolution der Bochumer Genossen nicht einverstanden, weil sie von falschen Voraussetzungen ausgeht, obgleich wir zugeben, dass, wenn ihre Voraussetzungen richtig wären, sie allerdings mit Recht die Schuld auf beide Seiten verteilen würde. Wir würden dann nicht so „rechthaberisch“ sein, unseren Teil der Schuld abzulehnen; bei einem bloßen Literatengezänk sind alle schuldig, die sich daran beteiligen.

Aus dieser verschiedenen Aufnahme, die ihr Vorschlag beim Vorwärts und bei uns findet, können die Bochumer Genossen schon ersehen, dass es sich hier um wirkliche Gegensätze handelt, und nicht um bloße Rechthabereien.

Wir verstehen die Aufwallung zu würdigen, aus der heraus sie ihren Vorschlag gemacht haben, und wir freuen uns, dass sie ihn besser begründet haben als mit der hergebrachten Redewendung, die große Masse der Arbeiterschaft wolle von „persönlichen Zänkereien“ in ihrer Presse nichts wissen. Diese Phrase ist an und für sich en selbstverständlicher Gemeinplatz, aber in seiner ewigen Wiederholung ein überaus trauriges Kompliment an die Adresse der Partei, das Kompliment nämlich, dass sie zwar eine feindliche Welt erobern wolle, aber nun schon seit Jahren nicht mit einer Handvoll „persönlicher Zänker“ fertig werden könne. Der Grund, den die Bochumer Genossen an ihrem Teil für ihren Vorschlag anführen, hat leider Hand und Fuß; wir erkennen an, dass durch die Streitigkeiten, die sie aus der Welt schaffen wollen, worin wir ganz mit ihnen übereinstimmen, die werdende Kraft der Agitation geschädigt wird. Aber mit Aufwallungen in dem Stimme: Nun soll endlich einmal ein Himmeldonnerwetter dreinschlagen! Macht man keine gute Politik. Die Bochumer Genossen werden uns das offene Wort nicht übel nehmen, wenn wir hinzufügen, dass wir, nämlich die „Literaten“ der Leipziger Volkszeitung vor einer Reihe von Monaten einer ganz ähnlichen Aufwallung unterlegen sind, und auch einen ganz falschen Vorschlag gemacht haben, von dessen völligen Unhaltbarkeit wir gerade durch Arbeiter überzeugt worden sind.

Es war im Januar d[iesen] J[ahres], als wir nach einem Konflikt zwischen Vorwärts und Leipziger Volkszeitung sagten:

„Wir sind mit unserem Latein am Ende. Ihr habt uns die Direktive erteilt, Euer Blatt als ein klares Prinzipienblatt im Sinne der Lassalle, Marx und Engels und mit Bekämpfung aller abweichenden Tendenzen zu redigieren, aber wir können diesen Auftrag nicht ausführen, ohne dass persönliche Zänkereien in der Partei entstehen, die Euer Blatt ebenso schädigen wie die Partei selbst. Gebt uns also eine andere Direktive, wonach wir die Flagge der Lassalle, Marx und Engels streichen und uns eine Reserve auferlegen, die bei niemandem in der Partei, der abweichenden Tendenzen folgen will, irgendwelchen Anstoß erregt.“

Die Leipziger Parteiinstanzen haben diesen Vorschlag zurückgewiesen, da sie unsere Auffassung für viel zu pessimistisch hielten und namentlich auch wohl glaubten, dass wir durch eine größere Behutsamkeit in der Form allen „persönlichen Zänkereien“ aus dem Wege gehen könnten. Sie werden sich inzwischen, namentlich aus unserem gestrigen Artikel, überzeugt haben, dass, je schonender und schüchterner in der Form wir die alten Parteiprinzipien vertreten, ein nur umso heftigerer Hagel persönlicher Beschuldigungen auf uns niederprasselt, und dass wir insoweit nicht zu pessimistisch, sondern sie zu optimistisch geurteilt haben. Allein in der Sache haben sie unzweifelhaft Recht gehabt, wenn sie ihren wohlerwogenen Entschluss nicht aufgeben wollten, weil andre Leute daraus den Anlass zu „persönlichen Zänkereien“ schöpfen.

Die Sache ist einfach die, dass heute kein Parteiblatt nach den alten Parteiprinzipien redigiert werden kann, ohne unausgesetzt mit dem Zentralorgan der Partei zu kollidieren, und dass kein Parteiblatt mit dem Zentralorgan der Partei kollidieren kann, ohne sofort wegen Mangels an „gutem Ton“, wegen „Krakeelsucht“, wegen „unmöglicher Diskussion“, wegen der Anmaßung, die Lassalle, Marx und Engels zu „engeren Kollegen“ erwählt zu haben, wegen „Literateneitelkeit", „Literatenmätzchen“, „Literatenreibereien“ peinlich angeklagt zu werden. Das ist nicht nur das Schicksal der Leipziger Volkszeitung, sondern auch sehr vieler anderer Parteiblätter, denn glücklicherweise herrschen die alten Parteiprinzipien ja noch in der Partei vor. Selbstverständlich wollen wir mit der Feststellung dieser Tatsache nicht etwa nach dem Vorbilde des Vorwärts sagen: der Vorwärts ist der allein Schuldige und wir anderen sind die reinen Unschuldslämmer; es wird unsere Aufgabe sein, demnächst nachzuweisen, dass diese beklagenswerte Entwicklung in den Zuständen und nicht in den Personen wurzelt. Wir stellen einstweilen nur die Tatsache fest, um daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass die gegenwärtigen Streitigkeiten kein Ende finden werden, bis entweder kein Parteiblatt mehr nach den alten Parteiprinzipien redigiert wird, oder der Vorwärts denen gegeben wird, denen er gehört, den Berliner Genossen, in denen die alten Parteiprinzipien so lebendig sind, wie an irgend einem anderen Orte des Reichs. Es ist die schiefe, und wie wir nachweisen wollen, historisch unmögliche Stellung des Vorwärts als eines angeblichen Zentralorgans der Partei, die die beklagenswerten Reibungen erzeugt, denen die Bochumer Genossen mit gutem Rechte den Garaus machen wollen.

Wenn ihr Antrag nun aber einen falschen Weg einschlägt und gerade das herbeiführen würde, was er vermeiden will, nämlich den Parteitag zum Tummelplatz persönlichen Literatenstreits zu machen, so schlägt dagegen der Antrag der Berliner Genossen, den Vorwärts seiner Eigenschaft als eines Zentralorgans zu entkleiden, den durchaus richtigen Weg ein. Er packt das Übel an der Wurzel und gestattet nicht nur, sondern ermöglicht eine durchaus sachliche Diskussion der Frage. Wir begrüßen den Antrag, von dem wir noch nichts wussten, zur Zeit, wo wir diese Artikel in einem Sommeraufenthalte zu schreiben begannen, da er unsere Aufgabe zum Teil wesentlich abkürzt, zum Teil aber auch um so notwendiger macht. Denn wenn die Berliner Genossen, wie durchaus berechtigt und natürlich ist, zunächst ihr gutes Recht beanspruchen, so werden wir nachzuweisen haben, dass die Annahme des Antrags auch im allgemeinen Partieinteresse notwendig ist.

Es trifft sich nicht minder gut, dass, wie wir in der Parteipresse lesen, die Redaktion des Vorwärts selbst den Antrag der Berliner Genossen lebhaft befürwortet. Wir sind also diesmal mit ihr in vollkommener Übereinstimmung und dürfen unserer Aufgabe gerecht werden, ohne den Vorwurf der „Krakeelsucht“, der „Literateneitelkeit“ und ähnlicher schöner Dinge mehr befürchten zu müssen.
 

V.

Als der Vorwärts 1890 von dem Parteitage zu Halle zum Zentralorgan erhoben wurde, war die ganze Partei einig über die Notwendigkeit eines Zentralorgans.

Nur die faktiöse Opposition, die von wenigen damaligen Parteigenossen betrieben wurde, bestritt diese Notwendigkeit, eher aber aus faktiösen Gründen, die keinen Eindruck machen konnten und mit Recht keinen Eindruck machten. Sonst wurde wohl über die Erscheinungsform des Zentralorgans debattiert, nicht aber über seine Notwendigkeit, die als ganz selbstverständlich vorausgesetzt wurde, auch von solchen Parteigenossen, die sonst nicht gerade für eine straffe Zentralisation schwärmten. Vollmar erklärte, ohne ein Zentralorgan, das „wohl bedient von leitenden Persönlichkeiten“ tagtäglich am Sitze der Macht in Berlin selbst seine Stimme ertönen lassen könne, sei nicht auszukommen.

Diese allgemeine Überzeugung stützte sich auf eine nahezu dreißigjährige Erfahrung. Die Partei hatte bis dahin immer oder fast immer mit ihrem Zentralorganen gute Erfahrungen gemacht. Sie hatten als Erziehungsmittel der werdenden Partei die bedeutendsten und ganz unersetzliche Dienste geleistet: für die Fraktion der Lassalleaner der Sozialdemokrat und der Neue Sozialdemokrat in Berlin; für die Fraktion der Eisenacher das Demokratische Wochenblatt, der Volksstaat und der Vorwärts in Leipzig. Die Lassalleaner hielten das Zentralorgan für ein so wesentliches Erfordernis einer guten Organisation, dass sie überhaupt keine Lokalblätter aufkommen ließen; die Eisenacher dachten darin duldsamer, aber die Blätter, die in ihren Reihen neben dem Leipziger Zentralorgan entstanden, waren durchweg Lokalblätter im engsten Sinne des Wortes, die in ihrer Politik ganz und gar vom Volksstaat und später vom Vorwärts abhängig blieben.

Nach der Verschmelzung beider Fraktionen auf dem Gothaer Parteitage von 1875 bestanden die beiden Zentralorgane, wesentlich aus finanziellen Rücksichten, noch ein Jahr nebeneinander fort, dann aber wurde der Leipziger Vorwärts zum alleinigen Zentralorgan erhoben, wiederum aus dem sehr guten Grunde, dass die nunmehr einige Partei nur ein Zentralorgan haben könne. Allein mit diesem Zentralorgan machte die Partei nicht mehr so gute Erfahrungen; während sonst die Verschmelzung der beiden Fraktionen der sozialdemokratischen Bewegung überall den mächtigsten Anstoß gab, verfiel ihr neues Zentralorgan einer unaufhaltsamen Schwindsucht. Von 12.000 Abonnenten sank es in noch nicht zwei Jahren auf 7.000, und dieser Rückgang dauerte ununterbrochen, und obgleich der ganze Parteiapparat aufgeboten wurde, nicht aufzuhalten. [?]

Der Grund davon war an sich nicht schwer zu entdecken. In Berlin und Hamburg waren Parteiblätter entstanden, die nicht mehr nur bloße Lokalblätter waren, sondern geistig und politisch völlig unabhängig von dem Leipziger Zentralorgan die Parteiprinzipien vertraten. Ihre Konkurrenz machte dem Leipziger Zentralorgan das Leben sauer. Allein zu der Erkenntnis, dass die Partei so weit entwickelt war, um nicht mehr eines Zentralorgans als Erziehungsmittel zu bedürfen, gelangte man damals noch nicht. Man schob die Schuld, was ja zunächst auch sehr nahe lag, auf das tägliche Erscheinen der Berliner Freien Presse, während der Leipziger Vorwärts dreimal wöchentlich erschien. Dass damit nicht alles gesagt war, zeigte schon ein Blick auf Hamburg. Das dortige Blatt erschien auch nur zweimal wöchentlich und gewann bald 22.000 Abonnenten, während der Vorwärts gerade in Hamburg den stärksten und unaufhaltsamsten Rückgang erlitt, in einer Arbeiterschaft, die relativ gut gelohnt war, stets eine große Opferbereitschaft für die Partei bewiesen hatte und namentlich auch stark zentralistisch gesinnt war. Indessen ehe man sich über die ganze Erscheinung in ihrem historischen Zusammenhange klar werden konnte, brach das Sozialistengesetz herein, das zunächst – aus Gründen, die wir hier nicht erst darzulegen brauchen – ein im Ausland erscheinendes Zentralorgan zu einem absolut notwendigen Verteidigungsmittel machte.

Auf diese Erfahrungen hin beschloss der Parteitag in Halle, das bisherige Berliner Volksblatt unter dem Namen des Vorwärts zum Zentralorgan der Partei zu erheben. Das schnelle Zusammenbrechen des früheren Vorwärts wurde zwar von Auer, der über die Organisationsfrage berichtete, wiederholt erwähnt, aber immer nur in dem Sinne, dass dies dreimal wöchentlich erscheinende Organ die Konkurrenz der Berliner Freien Presse als eines täglich erscheinenden Blattes nicht hatte aushalten können. Auer bekämpfte deshalb die Wiedererweckung des alten Vorwärts und meinte, nach nur einjährigem Erscheinen eines solchen Blattes würde die Partei rufen: „Um Gottes Willen, bringt das Zentralorgan wieder beiseite!“ Dass diese Prophezeiung sich noch in anderem Sinne erfüllen würde, als worin Auer sie ausgesprochen hatte, sollte erst eine langjährige Erfahrung erweisen.

Jedenfalls aber, so einig der Parteitag in Halle über die Notwendigkeit eines Zentralorgans war, so enge war er sich auch weiter, was diese Zentralorgan sein sollte, nämlich dasselbe, was die seitherigen Zentralorgane gewesen waren: das eigentliche Prinzipienblatt der Partei, das ihre revolutionären Ziele fest und klar vertrat, in allen Schwankungen und Wechseln der Tagespolitik, unbeirrt auch durch die lokalen und provinzialen Strömungen in der Arbeiterklasse selbst und vertraut genug mit der Gedankenarbeit der großen sozialistischen Vorkämpfer, um selbst neu auftauchende Problem gründlich und sachlich prüfen zu können. Die Frage freilich, ob ein einzelnes Organ bei solchen Anforderungen bei der geistigen Entwicklung, die die Parte zur Zeit des Halleschen Parteitages schon erreicht hatte, auch genügen konnte, legte man sich nicht vor.

Ebenso wenig diskutierte man die Frage, ob das neue Zentralorgan dem Parteivorstande zu unterstellen sei. Das erschien nicht nur als selbstverständlich, sondern war auch selbstverständlich, wenn ein Zentralorgan geschaffen werden sollte. Allein man erwog nicht – und konnte bei der damaligen Lage der Dinge auch nicht erwägen –, ob die Stellung des Parteivorstandes nicht auch dem historischen Wechsel der Dinge unterlegen sei. Zur Zeit der werdenden Partei war er in ebenso hohem Grade wie Exekutivbehörde und Verwaltungsinstanz zugleich geistig leitendes Organ der Partei gewesen und auch in dieser Beziehung hatte die kurze Zeit zwischen dem Gothaer Einigungskongress und dem Erlass des Sozialistengesetzes manche Erfahrungen in dem Sinne gebracht, dass die Partei so weit entwickelt sei, um wie keines Erziehungsmittels so auch keines Erziehers mehr zu bedürfen. Freilich zeigte sich in den Jahren 1875 bis 1878 die beginnende geistige Selbständigkeit der Partei zunähst nur in einem chaotischen Durcheinanderstrudelns der Meinungen, allein darin offenbarte sich doch, dass der Parteivorstand die geistige Leitung der Partei nicht mehr besaß. Indessen abermals hinderte das Hereinbrechen des Sozialistengesetzes mit den Ausnahmezuständen, die es schuf, die erschöpfende Würdigung der neu hervortretenden Erscheinung, und wenn auch auf dem Parteitage in halle mit großem Eifer und unseres Erachtens auch mit großem Rechte, so besonders wieder von Vollmar, die völlige Unabhängigkeit der übrigen Parteipresse vom Parteivorstande verfochten und durchgesetzt wurde, so trug eben dieser Eifer dazu bei, gar nicht der Frage näher zu treten, ob der Parteivorstand auch nur zur Aufsichtsinstanz über das Zentralorgan geeignet sei, das ja sozusagen den Ton für die übrige Parteipresse angeben sollte.

Wir betonen noch einmal: diese kritischen Bemerkungen sind nicht aus einem damaligen Besserwissen, sondern aus den Erfahrungen geschöpft, die seitdem gesammelt worden sind. Sie stellten sich heraus, sobald das neue Zentralorgan seine Wirksamkeit begann.
 

VI.

In den ersten Jahren nach dem Halleschen Parteitage suchte der Vorwärts den Aufgaben eines Zentralorgans in dem Sinne gerecht zu werden, worin er als solches gegründet worden war. So in dem Streite mit der faktiösen Opposition der „Jungen“, so in dem Streite mit Vollmar über den Staatssozialismus.

Aber es dauerte nicht lange, bis ihm die Dinge über den Kopf wuchsen. Da wir schlechterdings keine polizeilichen Neigungen und Talente haben und keine Register über die etwaigen Fehlgriffe anderer Parteiblätter führen, so wissen wir den Zeitpunkt, wo es anders wurde, nicht genau anzugeben, und auf Stunde und Tag, oder auch nur auf Woche und Monat lässt er sich auch schwerlich feststellen. Genug, dass spätestens im Jahre 1895, also vor nunmehr zehn Jahren, als mit der Agrardebatte die großen Auseinandersetzungen in der Partei begannen, die seitdem nie wieder aufgehört haben, der Vorwärts jeden Anspruch auf und jeden Versuch zur politischen Führung der Partei aufgegeben hatte und nur noch das große Sammelbecken war, in dem alle möglichen Ansichten zusammenstoßen und aus dem sich jeder nahm, was ihm behagte. Der Vorwärts sammelte, was an verschiedenen Meinungen in der Partei laut wurde, aber er tat von allen Parteiblättern am wenigsten dazu, die Lage zu klären.

Begreiflich genug, dass dies gänzliche Versagen des Zentralorgans bittere Klagen und Proteste hervorrief. Man schob die Schuld auf die Redaktion, in mancher Beziehung vielleicht mit Recht, worauf wir noch zurückkommen, im Wesen der Sache jedoch mit Unrecht. Die geistige Entwicklung der Partei war viel zu bewegt, viel zu mannigfaltig, viel zu reich, die Aufgaben, die an sie herantraten, waren viel zu groß und verwickelt geworden, als dass eine einzelne, noch so große Tageszeitung leitend über ihnen stehen konnte. Die Partei hatte ihre wissenschaftliche Literatur, sie hatte eine ganze Reihe von Tageszeitungen, die, wenn auch mit weniger reichen Mitteln ausgestattet, so doch dem Vorwärts geistig vollkommen ebenbürtig waren; aus den verschiedensten Quellen speiste sich das innere Leben der Partei und eben erst in dieser Mannigfaltigkeit spiegelte es sich vollständig wider; was sollte oder wie konnte noch ein Zentralorgan über den bewegten Wassern schweben?

Erläutern wir die Sache an dem ältesten und neuesten Beispiele! Wenn man bedenkt, welche Fülle der Debatten, welche Masse wissenschaftlicher Literatur die Agrarfrage seit zehn Jahren erzeugt hat, so ist es klar, dass der Vorwärts in dieser Frage nicht von vornherein als tonangebendes Zentralorgan sprechen konnte. Er konnte sich an den Debatten beteiligen, wie jedes andere Blatt, aber er konnte es nicht mit irgendwelchem autoritativem Anspruch. Seine Eigenschaft als Zentralorgan erwies sich nun als eine Fessel, die seinen Mund schloss Oder nehmen wir die gegenwärtige Debatte über den Massenstreik! Das Buch der Genossin Roland-Holst ist für diese einzelne Frage ein wahres Muster, wie ein Zentralorgan die Diskussion vorbereiten müsste, indem es alle historische Material sammelte, in seinem inneren Zusammenhang erläuterte, alle Einwände beleuchtete und die Frage gewissermaßen spruchreif machte. Allein die Schrift der Genossin Roland-Holst ist das Produkt einer langen und langwierigen Arbeit, die während vieler Monate konzentriertesten Nachdenkens in der Studierstube geleistet worden ist, habe sich im Drange und in der Hast des täglichen Kampfes, den das Zentralorgan zu führen hat, nicht leisten lässt.

Dazu kam, dass sich der Parteivorstand auch historisch gewandelt hatte. Hatte er früher einen entscheidenden Anteil an der geistigen Entwicklung der Partei genommen, so jetzt nicht mehr, und je mehr sich die inneren Gegensätze der Partei entfalteten, die doch eine unumgängliche Bedingung ihres geistigen Fortschritts sind, um so größere Reserve legte er sich auf. Das war nicht nur sein Recht, sondern auch seine Pflicht. Die einzelnen Mitglieder des Parteivorstandes können durch ihre sonstige Parteitätigkeit einen größeren oder geringeren Einfluss auf die geistige Entwicklung der Partei ausüben und haben ihn ausgeübt, aber der Parteivorstand als solcher kann es nicht, ohne die vorhandenen Gegensätze in unerträglicher Weise zu verschärfen. Es ist unserem Parteivorstande nur zu danken, dass er niemals auch nur den leisesten Versuch gemacht hat, sich als eine Art Oberzensurbehörde aufzuspielen. Jedoch auf der anderen Seite darf man nicht übersehen, dass dadurch ein klaffender Widerspruch entstand zwischen seinen Aufgaben und den Aufgaben des Zentralorgans, das seinen Direktiven widerstand.

Nicht als ob wir damit sagen wollten, dass der Parteivorstand das Ausscheiden des Vorwärts aus den prinzipiellen Meinungskämpfen der Partei jemals gewünscht oder auch nur begünstigt hätte. Im Gegenteil! Mitglieder des Parteivorstandes haben sich oft genug öffentlich in bitterster und schärfster Weise darüber ausgesprochen. Allein hier berühren wir einen der Punkte, deren richtige oder doch erschöpfende Würdigung nur aus einer genauen Kenntnis des Zeitungswesens zu gewinnen ist, die offiziöse – wir nehmen hier das Wort ohne jeden kränkenden Nebensinn – die offiziöse Abhängigkeit von einer offiziellen Körperschaft, die doch immer gewisse Rücksichten nehmen muss, hat noch keinem Blatte gut getan, hat noch jedem Blatte sozusagen die Kehle zugeschnürt. Als wir diesen Punkt einmal vor einer längeren Reihe von Jahren im Gespräche mit einem Mitgliede des Parteivorstandes berührten, wurde uns mit einer gewissen Entrüstung erwidert: „Aber wo denken Sie hin? Niemand wäre so glücklich, wenn der Vorwärts ein scharfes Prinzipienblatt wäre, wie wir. Es ist unser lebhaftester Wunsch, und wir legen ihm nicht einen Strohhalm in den Weg.“ Das ist heute zweifellos so richtig, wie es damals war, aber in solchen Verhältnissen spielen tausend Imponderabilien mit; schon der Gedanke, mit einem falschen Urteil, mit einem unvorsichtigen Worte, bis zu einem gewissen Grade gleich die oberste Parteibehörde festzulegen, wirkt gerade auf eine pflichtgetreue Redaktion lähmend. Alle die Gründe, die in Halle und sonst für die völlige Unabhängigkeit der Parteipresse vom Parteivorstand geltend gemacht worden sind, traten auch für den Vorwärts in Kraft, sobald sich das frühere Verhältnis zwischen Parteileitung und Zentralorgan überlebt hatte.

Seitdem der Vorwärts, spätestens bei dem Beginn der Agrardebatten vor zehn Jahren, sich selbst aus der Parteidiskussion ausschied, die zu leiten und zu regeln sein Beruf war, ist er im wesentlichen dabei geblieben, nur dass es wie allemal auf einer schiefen Bahn, immer weiter abwärts ging. Waren die Übersichten, die er über die Meinungen anderer Parteiblätter gab, früher wenigstens so objektiv zusammengestellt, dass man ein wirkliches Bild bekam, so werden die Parteinachrichten des Vorwärts heute mit einer Illoyalität redigiert, von der wir zur Ehre der Parteipresse sagen müssen, dass sie in ihr ganz einsam steht. Es blieb, wie es neulich ein Arbeiter in einem Artikel der Dortmunder Arbeiterzeitung kennzeichnete bei der „diplomatischen Reserve“, bei der „Neutralität“, bei der „altbeliebten Methode, wohl ein Amt, aber keine Meinung zu haben.“

Man hat die wunderbarsten Theorien aufgestellt, um zu beweisen, dass das Ausscheiden des Vorwärts aus der prinzipiellen Parteidiskussion das eigentliche Prinzip eines Zentralorgans sei. Man hat gesagt, in einem Zentralorgan müsse jede Schattierung der Partei repräsentiert sein und da könne es nicht ausbleiben, dass ein Redakteur dem andren den weg vertrete. Oder man hat auch gesagt, ein Zentralorgan habe solche Wucht an sich, dass es, wenn es nachdrücklich in tief greifende Meinungsverschiedenheiten eingreife, die Partei sprengen könne. Über all das brauchen wir kein Wort zu verlieren, denn bei objektiver Beurteilung der Sachlage dürfte es keine Meinungsverschiedenheit in der Partei geben, sowohl darüber, dass, wenn ein Zentralorgan sein soll, der Hallesche Parteitag die Aufgaben eines solchen Blattes ganz richtig bestimmt, als auch darüber, dass der Vorwärts seit mindestens zehn Jahren diese Aufgaben vollkommen vernachlässigt hat.

Das wäre nun an sich noch nicht das schlimmste. Wäre der heutige Vorwärts in der Weise geschaffen worden, wie sein früherer Namensbruder, er hätte längst das Schicksal erlitten, vor dem dieser durch das Sozialistengesetz bewahrt wurde, das ihm mit einem brutalen Schlage tötete, während er sonst an chronischer Abonnentenschwindsucht gestorben wäre. Davor war der jetzige Vorwärts gesichert, da man ihn als Zentralorgan mit der größten und stärksten Tageszeitung der Partei verbunden hatte. Allein sein gänzliches Fehlschlagen als Zentralorgan wirkte nun auch verhängnisvoll eben auf dieses größte und stärkste Presseorgan der Partei zurück. Wie ähnliche Ursachen immer ähnliche Wirkungen erzeugen, so rief die prinzipielle Entwurzelung des Vorwärts bei ihm Tendenzen wach, die eine verzweifelte Ähnlichkeit mit den Tendenzen der bürgerlich radikalen Presse zur Zeit des preußischen Verfassungskonfliktes [1862–63] hatten. Wir wollen sie hier nur kurz nach zwei Richtungen skizzieren: nach der Überschätzung des Parlamentarismus und nach der rein moralischen und eben deshalb politisch wirkungslosen Kritik der Gegner.
 

VII.

Es sind schon neun Jahre her, seit Genosse Parvus in seiner ausgezeichneten Schrift über Gewerkschaften und Sozialdemokratie schrieb:

„Was wir am meisten [...] am Vorwärts auszusetzen haben, ist, dass er allmählich zu einer rein parlamentarischen Zeitung wird. Die große geschichtliche Bewegung des Sozialismus besteht nicht ausschließlich aus politischer Betätigung und politische Tätigkeit nicht ausschließlich aus dem Parlamentarismus. Die Presse vor allem hat sich davon freizuhalten, was Marx den „parlamentarischen Kretinismus“ nennt, „ein Leiden, das seine unglücklichen Opfer mit der erhabenen Überzeugung erfüllt, dass die ganze Welt, ihre Geschichte und ihre Zukunft durch eine Majorität von Stimmen in dem besonderen Vertretungskörper gelenkt und bestimmt werde, der die Ehre hat, sie zu seinen Mitgliedern zu zählen, und dass alles und jedes, was außerhalb der Mauern des Hauses vor sich geht – Kriege, Revolutionen, Eisenbahnbauten, die Kolonisierung ganzer neuer Kontinente, kalifornische Goldfunde, zentralamerikanische Kanäle, russische Heere und was sonst noch einigen Anspruch erheben kann, die Geschicke der Menschheit zu beeinflussen – dass alles das nichts ist im Vergleich zu den unermesslichen Ereignissen, die im Schoß der wichtigen Fragen ruhen, der, was immer sie sein mag, der gerade in dem Moment die Aufmerksamkeit des hohen Hauses gehört“. Der Vorwärts aber gelangt immer mehr dazu, seinen gesamten Inhalt nur auf den deutschen Reichstag zuzuschneiden. Diesem resp. [bei Mehring: oder] den einzelnen Gesetzen und Vorlagen, den parlamentarischen Parteien und dem Vielerlei, das sich auf diese bezieht, ist der weitaus größte Teil seiner Leitartikel und seiner politischen Übersicht gewidmet. Statt dem Flugsand des parlamentarischen Kleinkrams, an dem diese Jahre so reich waren, durch Hervorhebung der großen Gesichtspunkte, durch Erörterung der außerparlamentarischen Erscheinungen der Weltpolitik entgegenzuwirken, spaltet der Vorwärts jedes parlamentarische Haar womöglich wieder einmal und kommt aus dieser zeitraubenden Beschäftigung fast gar nicht heraus. Er wird dabei schon deshalb langweilig, weil er stets in Hintertreffen gelangt, da unsere Parlamentarier an Ort und stelle die Arbeit sofort und gründlich besorgen. Würde man aus Versehen eine sozialdemokratische Rede aus den Reichstagsverhandlungen als Leitartikel drucken, man würde meistens den Fehler gar nicht merken. Das bewirkt unter anderem auch, dass die Artikel dem Inhalt wie der Form nach auf eine Auseinandersetzung mit bürgerlichen Parlamentariern und Zeitungen weit mehr berechnet sind, als darauf, die Grundsätze des Sozialismus unter den Arbeitermassen zu verbreiten. Die rein sozialistische Propaganda wird vom Vorwärts am wenigsten betrieben, darum auch die Klagen, dass er so wenig „aufklärende Artikel“ bringe.“ [Parvus, als Artikelserie in der Sächsischen Arbeiterzeitung unter dem Titel Die Gewerkschaften und die deutsche Arbeiterbewegung vom 13. Mai bis 21. Juni 1896 erschienen, Nachdruck als Broschüre unter dem Titel Die Gewerkschaften und die deutsche Sozialdemokratie, das Zitat ist im 19. Artikel vom 19. Juni 1896 bzw. Kapitel 17 der Broschüre, S. 76 f.]

Das ist heute noch alles so zutreffend, wie es vor neun Jahren war, nur, dass auch her die Dinge immer noch schlimmer geworden sind. In den ersten Jahren nach dem Fall des Sozialistengesetzes war eine gewisse Überschätzung des Parlamentarismus begreiflich und verzeihlich; die Reichstagstribüne hatte unter dem ausnahmegesetzlichen Drucke der Arbeiterklasse große Dienste geleistet. Aber mindestens seit dem Dezember 1902, seitdem die Bande der Brotwucherer mit einem brutalen Stoße alle Schranken parlamentarischer Gesetzlichkeit über den Haufen geworfen und damit gezeigt hatte, dass der deutsche Parlamentarismus höchstens erst im Flugsande wurzele, war es die Pflicht der Arbeiterpresse, nicht zwar auf die Unbrauchbarkeit, aber auf die Unzulänglichkeit der parlamentarischen Waffen hinzuweisen. Als der Vorwärts ein halbes Jahr nach jenen Gewalttaten der Brotwucherer den Dreimillionensieg vom 16. Juni 1903 als Weltwende feierte, erlaubten wir uns das „Literatenmätzchen“, zu bemerken, dass mit dem Stimmzettel die kapitalistische Welt nicht erobert werden könne. Nicht als ob wir deshalb den Dreimillionensieg unterschätzt hätten; gerade dadurch, dass wir seinen Verkleinerern entgegentraten, gaben wir den nächsten Anstoß zu der Explosion des Hardenklüngels in Dresden. [1] Aber allerdings halten wir es nicht für die Aufgabe der Parteipresse, mit tönenden Reden die Arbeiterklasse über die nackte Wirklichkeit hinwegzuzaubern.

Die neueste Entdeckung des Vorwärts, dass die „anarchosozialistische“ Versammlung auf die „prinzipielle“ Herabsetzung des Parlamentarismus durch einige Parteischriftsteller zurückzuführen sei, bereichert seine Kampfmethoden dadurch, dass er die Warner vor einer Gefahr als ihre Urheber anzuklagen versucht. Neu ist diese Methode gewiss nicht, denn sie war bisher auf reaktionäre Parteien beschränkt. Wir warnen die Arbeiter, den bürgerlichen Parlamentarismus zu überschätzen und suchen ihnen seine richtige Schätzung klarzulegen; verekelt wird er ihnen durch die, die ihm Wirkungen zuschreiben, die er nie gehabt hat und auch nie haben kann.

Übrigens habe die „prinzipiellen Parteischriftsteller“ gar kein anderes Verdienst als das sehr bescheidene, zu studieren, was die Arbeiterklasse selbst will. Sie hat den politischen Massenstreik geschaffen als eine notwendige Ergänzung der parlamentarischen Waffen. Sie geben zu, dass wir gegenüber einer proletarischen Massenerscheinung, die in der russischen Revolution schon weltgeschichtliche Formen angenommen hat, nicht den Kopf in den Sand gesteckt haben. Der Vorwärts aber ist völlig im Kreise herumgegangen, wenn er das Buch der Genossin Roland-Holst, das für diese eine Frage in meisterhafter Weise erledigt, was zu erledigen gerade die Aufgabe eines Zentralorgans wäre, den deutschen Genossen mit einer entstellten Inhaltsangabe und einem Dutzend trivialer Gemeinplätze zu verleiden gesucht hat.

Eine andere Tendenz, die durch die prinzipielle Entwurzelung des Vorwärts in ihm hervorgerufen wird, ist die moralische Kritik der Skandale, die in der kapitalistischen Gesellschaft vorfallen. Bekämpft man diese Gesellschaft nicht am vernichtendsten, wenn man die sittliche Entrüstung aller edel denkenden Menschen gegen sie wachruft? Und wer wollte, leugnen, dass auf diese Weise ein großes Publikum zusammenzubringen ist? Der edle Philister reagiert am Stammtische auf nichts so leicht als auf Skandale, die ihm die Überzeugung einflößen, dass er im Grunde doch ein besserer Mensch sei als die „Großen“ und „Vornehmen“ vor denen er auf der Straße gehorsam den Hut zieht und Hurra brüllt. Aber eben hierdurch ist auch schon die politische Wert- und Wirkungslosigkeit dieser moralischen Kritik erwiesen, die, wenn sie die Arbeiter aufklären und nicht zu einer öden Sensationsjagd ausarten soll, auch prinzipiell fundiert sein muss. [A]

Wir wollen hier nicht alte Geschichten aufrühren und zeigen nur an einem neueren Falle, wie bei diesen ewigen Sensationen die letzte Spur des Prinzips verloren geht. Als vor zwei Monaten einige Scharfmacher in den Reichskanzler drangen, die Rede des Genossen Jaurès in Berlin zu verbieten, schrieb der Vorwärts:

„Es erscheint zunächst undenkbar, dass der Reichskanzler gerade denjenigen französischen Politiker an einer Aussprache für den Frieden hindern könnte, dem er im Wesentlichen den diplomatischen Erfolg zu danken hat, dessen e sich nach der Auseinandersetzung mit dem beseitigten französischen Minister des Auswärtigen, Delcassé, rühmt. Es wäre eine Schändlichkeit wider das Deutsche Reich und die von seinen maßgeblichen Leitern stets betonte Friedensliebe, wenn derselbe Mann m Deutschen Reiche des Wortes beraubt werden sollte, der mehr als irgend ein anderer gegen den französischen Chauvinismus gestritten und mehr als irgend ein anderer für die deutsch-französische Freundschaft wirkt.“

ätte der Reichskanzler nach den Motiven gehandelt, die ihm der Vorwärts in solcher Weise unter den Fuß schob, so wäre aus der geplanten revolutionären, gegen alle diplomatischen Machenschaften gerichteten Kundgebung eine alltägliche Sensation von Gnaden eines ostelbischen Junkers geworden. Dafür hat der Vorwärts schon jede Empfindung verloren.

Wir bemerken beiläufig, dass wir auch diesen prinzipwidrigen Verstoß des Vorwärts in durchaus sachlicher und Formel zurückhaltender Weise kritisiert haben; wir nannten ihn einen Fehler, der für die Partei leicht üble Folgen hätte haben können, hätten wir dies Kind beim richtigen Namen nennen wollen, so wäre der „schlechteste Ton“ gerade gut genug gewesen.
 

VIII.

Je mehr sich im Vorwärts die falschen Tendenzen bemerklich machten, die durch prinzipielle Entwurzelung hervorgerufen wurden, um so eifriger wurden die Bemühungen, ihn wieder ins richtige Gleis zu bringen. Aber da man das falsche Grundprinzip nicht antastete, so führten diese Bemühungen, so richtig gedacht sie an und für sich waren, immer nur dazu, das Übel zu steigern, das sie beseitigen wollten.

Mit gutem Fug hatte der Hallesche Parteitag, wenn er ein Zentralorgan schaffen wollte, ihm auch einen Chefredakteur gegeben. Es ist eine vollkommen falsche Auffassung dieser Einrichtung, wenn man ihren Schwerpunkt gewissermaßen darin sucht, dass der Chefredakteur gewissermaßen als überlegener Genius über den Fachredakteuren stehen und ihnen in ihre spezielle Tätigkeit, die sie gemeiniglich viel besser verstehen als er, von oben herab hineinpfuschen soll. Ein Chefredakteur, der seine Aufgabe so auffasste, verdiente lieber heute als morgen zum Teufel gejagt zu werden. Seine wirkliche Aufgabe besteht darin, den einheitlichen konsequenten Gang der Zeitung zu sichern und dafür der Parteiorganisation, der die Zeitung gehört, sozusagen mit Kopf und Kragen zu haften. Um die Frage an einem Beispiel zu erläutern, so gilt es in der Kriegsgeschichte – und die Parteiorgane sind zum Kriegführen da – keinen unbestreitbareren und keinen unbestritteneren Satz, als dass auch ein mittelmäßiger General, der nach seiner Weise handelt und die moralische Verantwortung für seine Handlungen trägt, die Sache viel besser macht als ein Kriegsrat der vorzüglichsten Strategen und Taktiker, von denen einer den anderen den Weg vertritt, gerade je klüger sie sind, und schließlich keiner die Verantwortlichkeit trägt, die alle tragen sollen. Für ein Zentralorgan ist aber die einheitliche konsequente Haltung die erste und unbedingte Notwendigkeit, und deshalb war es ganz selbstverständlich, dass der Hallesche Parteitag dem Vorwärts einen Chefredakteur gab.

Nicht minder selbstverständlich war, dass [Wilhelm] Liebknecht diese Stellung erhielt. Nicht nur, weil er der Redakteur des früheren Zentralorgans gewesen war, sondern weil er unter den noch Lebenden – abgesehen von Engels, der nicht in Frage kommen konnte – die größten Verdienste um die prinzipielle und theoretische Aufklärung der Partei hatte. Allein alsbald zeigte es sich, dass er der Aufgabe nicht gewachsen war, weil ihr kein Einzelner bei der damaligen geistigen Entwicklung der Partei mehr genügen könnte. Die richtige Erkenntnis wurde nur wieder dadurch verdunkelt, dass Liebknechts Kraft durch tausend andre Ansprüche der Partei zersplittert wurde, und er sich in einem Lebensalter befand, wo man sich das bisschen technischer Handgriffe, das zur Leitung eines großen Tageblattes gehört, nicht mehr lernt. Immerhin wirkte instinktiv die Empfindung, dass die eigentliche Schwierigkeit mehr in der Sache als in der Person liege, so weit mit, dass man nach Liebknechts Tod die Chefredaktion preisgab und dafür die Mehrheitsredaktion einführte.

Indessen war es eine äußerliche Logik, mit der man argumentierte: geht es auf diese Weise nicht, so muss es auf die andere Weise gehen. Um überhaupt davon zu reden, so ist eine Mehrheitsredaktion der Widerspruch in sich, und es beruht auf einem Trugschluss, sie eine „demokratische“ Institution zu nennen. Man verwechselt dabei das Gesetz der Demokratie mit dem Gesetze der Arbeitsteilung. Soll es nach dem Grundsatze der Demokratie, nach dem Grundsatze: gleiches Recht für jedermann gehen, so müssten die Redakteurstelen an einem Parteiorgan reihum unter den Mitgliedern der Organisation gehen, der es gehört. Das ist natürlich ein Unsinn, den niemand will oder jemals gewollt hat. Tatsächlich werden die Redakteure nach dem Gesetze der Arbeitsteilung ausgewählt; die örtlichen Organisationen besetzen die stellen an ihren Zeitungen nach dem Maße der Fähigkeiten und Kenntnisse, das für einen politischen Redakteur, einen Feuilletonredakteur, einen Gewerkschaftsredakteur, einen Lokalredakteur etc. erforderlich ist. Diese Fähigkeiten und Kenntnisse schließen sich nun aber wiederum nach dem Gesetze der Arbeitsteilung gegenseitig aus; niemand – es sei denn irgend ein Ausnahmemensch – kann ein gleich guter Redakteur für Politik und Feuilleton, im Gewerkschaftlichen und Lokalen etc. sein; vielmehr pflegt jeder, je besser er sein Fach versteht, sich um so weniger auf die anderen Fächer zu verstehen. Wählen nun die Genossen nach diesem Gesetze der Arbeitsteilung die Redakteure ihrer Blätter, und richten dann eine Mehrheitsredaktion ein, so heißt das im Grunde nichts anderes, als dass derjenige Redakteur, der sein Fach am besten versteht und eben deshalb an diese Stelle gesetzt ist, sich von seinen Kollegen majorisieren lassen soll, die sein Fach weniger gut oder auch gar nicht verstehen und eben deshalb an andere Stellen gesetzt worden sind.

Im Grunde, sagen wir, denn die Praxis korrigiert natürlich da an sich unhaltbare Prinzip durch gemeinsames Parteiinteresse, kameradschaftliche Gesinnung, Zwang der Verhältnisse etc. Gemeiniglich macht sich die Sache wohl so, dass jeder Fachredakteur wie Cherub mit flammendem Schwert vor seinem Ressort steht, sie alle aber für ihr unveräußerliches Parteirecht halten, dem politischen Redakteure dreinzureden, was ein schönes Zeichen für den politischen Eifer ist, der alle Genossen beseelt, aber die einheitliche Haltung des Blattes nicht immer fördert. Gleichwohl liegt der Vorliebe vieler Parteikreise für eine Mehrheitsredaktion eine ganz richtige Empfindung zugrunde: ist sie nämlich aus gleichartigen Elementen zusammengesetzt, das heißt aus Genossen, die von denselben Grundanschauungen ausgehen und in allen wesentlichen Fragen der Theorie und Taktik übereinstimmen, dann mögen alle Nachteile verschwinden, die sich aus ihrem Prinzip ergeben.

Damit wollen wir keineswegs sagen, dass die inneren Gegensätze, die in der Partei bestehen, ein gemeinschaftliches Wirken in der Parteipresse ausschließen. Obgleich die Leipziger Volkszeitung eine Gegnerin des Revisionismus ist, hat sie stets revisionistische Mitarbeiter gehabt und hat deren noch. Aber innerhalb der Redaktion selbst und ganz besonders innerhalb der politischen Redaktion, falls sie mehrere Mitglieder umfasst, ist eine einheitliche Gesamtauffassung – in Einzelheiten werden sich ja immer Unterschiede ergeben, da glücklicherweise nicht alle Menschen über einen Kamm geschoren sind – eine unbedingte Notwendigkeit. Wenn die Genossen eines Ortes beschließen, ihrem Blatte eine revisionistische Richtung zu geben, so haben sie nach unserer Auffassung das unbedingte Recht, einen Bewerber um eine Redakteurstelle abzuweisen, weil er eine radikale Gesinnung hat. Auf der anderen Seite können wir uns darauf berufen, dass ein revisionistisches Organ, das Dessauer Parteiblatt, kürzlich in anerkennendem Sinne schrieb: die Leipziger haben immer auf eine homogene Redaktion gehalten. Jede andere Auffassung führt dazu, die Redakteurstellen an den Parteiblättern als Versorgungsstellen für diejenigen Parteigenossen anzusehen, die zufällig Schriftsteller sind, womit das ganze Wesen der Arbeiterpresse von Grund auf umgewälzt wäre.

Wird nun aber eine Mehrheitsredaktion durch die Gleichartigkeit ihrer Mitglieder durchaus lebensfähig, so werden alle ihre Nachteile auf die Spitze getrieben, wenn sie aus grundverschiedenen Elementen besteht, aus so grundverschiedenen Elementen, wie es innerhalb des allgemeinen Parteirahmens nur immer geben kann. Dies eben wurde das Schicksal des Vorwärts, und wiederum aus durchaus achtenswerten Beweggründen. Wir sehen ganz davon ab, ob die Tatsache, dass den Berliner Genossen endlich ein Teil ihres berechtigten Anspruchs eingeräumt und neben dem Parteivorstand [ihnen] das Aufsichtsrecht über den Vorwärts zugestanden wurde, dabei mitgespielt hat. Öffentlich ist darüber nichts bekannt geworden. An sich freilich liegt es auf der Hand, dass es die Aktionsfähigkeit eines Kampfblattes nicht erhöhen kann, wenn es unter zwei Instanzen steht, die sich nach ihren Aufgaben so unterscheiden, wie sich – um nochmals einen militärischen Vergleich anzuziehen – die Vorhut eines Heeres, die seine Sturmfahne tragen soll, und das Kriegsministerium unterscheiden, dem die Verwaltung des ganzen Parteiheerwesens obliegt.

Hiervon also abgesehen, so entstand die verschiedene Richtung der Elemente in der Redaktion des Vorwärts zunächst daraus, dass man von dem in seinen ersten Jahren stets beobachteten Grundsatz abging, bei der Wahl ihrer Redakteure zunächst auf ihre politisch-ökonomische Durchbildung zu sehen. Dies ist unzweifelhaft auch das richtige Prinzip, obgleich nicht bestritten werden kann, dass ökonomisch-politische Durchbildung sich verhältnismäßig sehr selten mit hervorragenden journalistischer Befähigung im fachmännischen Sinne des Wortes verbindet. Wir wüssten aus unserer ganzen Parteigeschichte eigentlich nur Schoenlank als einziges Beispiel zu nennen, bei dem beides in vollkommenem Gleichgewicht stand. Man schob jedoch das lange Zeit hindurch nur verhältnismäßig langsame Fortschreiten der Abonnentenzahl des Vorwärts, das tatsächlich aus den schon entwickelten Gründen in seiner Eigenschaft als Zentralorgan wurzelte, vielmehr auf den Mangel an journalistischer Gewandtheit, den der ökonomisch durchgebildete Redakteur des Blattes bewiesen hätte, und sah nunmehr bei neuen Anstellungen – neben der tüchtigen Parteigesinnung, die immer die selbstverständliche Voraussetzung blieb – in erster Rehe auf die hervorragende journalistische Befähigung. Dadurch errichte man auch den gewünschten Zweck bis zu einem gewissen Grade, jedoch nur um den Preis, dass die, durch die prinzipielle Entwurzelung des Zentralorgans in ihm von selbst aufwachenden Tendenzen bei der Redaktion auf einen viel geringeren Widerstand trafen als früher.

Die unerfreulichen Folgen zeigten sich denn auch bald, und so kehrte man zu dem früheren richtigen Prinzip zurück. In den letzten Jahren sind neue Kräfte in den Vorwärts eingestellt worden, von denen wir am letzen bestreiten würden, dass sie in jedem Betracht an die größte Tageszeitung der Partei gehören. Aber die Redaktion ist nun innerlich völlig zerrissen – wir meinen natürlich: prinzipiell-theoretisch zerrissen, denn die persönlichen Beziehungen ihrer Mitglieder, die dessen ungeachtet die besten von der Welt sein können, gehen die Öffentlichkeit nichts an. Allein die prizipiell-theoretische Zerrissenheit ist öffentlich durch hinlänglich bekannte Vorgänge hervorgetreten, und so darf sie auch öffentlich festgestellt werden.

Diese zustände sind an dem Zentralorgan der Partei aber völlig unhaltbar, wenn nicht die ärgsten Schädigungen der Partei daraus entstehen sollen.
 

IX.

Nach unseren bisherigen Ausführungen wird man verstehen, in welchem Sinne unser erster Artikel sagte, K[urt] E[isner] sei mehr als Opfer denn als Schuldige zu betrachten, er sei mehr zu entschuldigen als zu verurteilen. In ihm wirken sich die falschen Tendenzen, die im Vorwärts durch dessen schiefe und unmögliche Stellung als Zentralorgan von selbst aufgewuchert sind, am stärksten aus, weil sie auf gar keinen ökonomisch-politischen Widerstand stoßen.

Gegen seine persönliche oder politische Ehre haben wir nicht ein Wort gesagt, wir bestreiten auch nicht entfernt, das er „eminenter“ sein mag als Kautsky und sämtliche Marxisten dazu – von alledem ist gar keine Rede. Wir sagen nur, dass ihm die ökonomisch-materialistische Denkweise vollkommen fremd ist, und dass er deshalb große Verwirrung stiftet, so gut seine Absichten sein mögen. Und auch das sagen wir nur, um dieser Verwirrung zu stemmen und nicht ihm zum persönlichen Vorwurfe, denn wir haben ihm immer in vollem Maße angerechnet, was Marx einmal von Schweitzer schrieb, dass jeder von uns mehr von den Umständen als von seinem Wollen abhänge. [fb]

Und nicht einmal das machen wir ihm zum persönlichen Vorwurfe, dass er jeden Versuch zu einer sachlichen Diskussion der vorhandenen Differenzen als „Literatenmätzchen“ abweist und sofort das Register vom „großen General in Steglitz“ [2] und so weiter zieht. Wir wissen, dass er dabei im besten Glauben das Interesse der Parte wahrnehmen will. Wir verstehen ihn vollkommen wohl, weil sein schöngeistiger Sozialismus eine lange überholte Phase der sozialistischen Bewegung vertritt, aber er versteht uns nicht, weil ihm die ökonomisch-materialistische Denkweise unfasslich ist. Wir sagen nicht, dass er unsachlich diskutieren will, sondern dass er nicht sachlich diskutieren kann. Was uns anderen die Frucht jahrzehntelanger theoretischer Arbeit und unseres Lebens bester Inhalt ist, das ist ihm eine Narretei, aus einer Überzeugung heraus, die wir als solche durchaus ehren. Deshalb ist uns die „Literateneitelkeit“ und der „unberufene Parteiretter“ und der „große General“ an sich auch ein Ärgernis. Wir denken in Sachen des guten Tons nun einmal wie Lessing, der auf den Einwurf, eine wir artige Sache der gute Ton sei, kurzweg antwortete: „Gewiss, aber es ist eine so kleine.“ wenn der Vorwärts uns persönlich anärgern will, statt sachlich mit uns zu diskutieren, so stimmen wir nicht lange Jeremiaden übe den „Mangel an gutem Ton“ an die doch zu nichts führen, sondern beseitigen die Störung des Parteifriedens viel gründlicher und schneller, indem wir uns eben nicht ärgern.

So willig wir uns nun auch dem Vorwärts – wir verstehen darunter jetzt und weiterhin den vorherrschenden Teil der Redaktion, der sich um K[urt] E[isner] gruppiert, und namentlich der Redakteur der Parteinachrichten ist ein Schüler, der den Meister fast übertrifft – so willig wir uns nun auch dem Vorwärts als Opfer seines anmutigen Witzes zur Verfügung stellen, so wirkt seine Methode, jeden Versuch zur sachlichen Diskussion der nun doch einmal vorhandenen Gegensätze sofort auf das Gebiet persönlichen Haders heranzuziehen, doch äußerst verhängnisvoll auf die theoretische Entwicklung der Partei ein. Der Vorwärts ist das Zentralorgan der Partei und hat als solches eine Autorität, die, wie immer es mit ihrer inneren Berechtigung beschaffen sein mag, äußerlich in hohem Grade wirkt. Er wird von jedem Vertrauensmann der Partei gelesen, liefert den Stoff für einen großen Teil der kleinen Parteipresse etc. Versichert er nun wieder und wieder – und diese Methode beobachtet er nicht nur gegen uns, sondern gegen jedes Parteiblatt und gegen jeden Parteigenossen, die ihm mit prinzipiellen Einwänden kommen – er werde nur aus niedrigen Motiven, aus Eitelkeit, aus Gehässigkeit, aus Neid behelligt, so wirkt das eben wie der Tropfen, der allmählich den Stein höhlt.

Jedoch sind wir unbefangen genug, auch hier die Grenze der persönlichen Schuld nicht weiter zu ziehen, als sachlich richtig ist. Die eben gekennzeichnete Methode des Vorwärts hätte sich nicht so auswachsen können und würde nicht so auf die Partei gewirkt haben, wenn ihr nicht die Zeitumstände günstig entgegen gekommen wären. Auf die Dauer hat sich eine prinzipielle Taktik immer am förderlichsten für die Partei erwiesen, auch für ihre äußere Ausdehnung; man wird es uns in diesem Zusammenhange nicht als ungebührliche Prahlerei auslegen, wenn wir daran erinnern, dass die Leipziger Volkszeitung, die ewig wegen „Parteizerrüttung“ angeklagt wird, den relativ günstigsten Abonnentenstand in der Parteipresse hat und namentlich einen relativ ungleich günstigeren als der Vorwärts. Aber für den Augenblick kann eine prinzipientreue Taktik der Partei allerdings ihre äußere Ausbreitung hindern, namentlich unter den Verhältnissen, wie sie gegenwärtig in Deutschland bestehen, wo die Brotwuchermehrheit das Heft in Händen hat, und eine bürgerliche Opposition, die den Namen verdient, überhaupt nicht existiert. Da werden die Prinzipien leicht als störender Ballast einer Massenagitation von den lockendsten Perspektiven empfunden, und in gewissem Sinne sind sie auch der Ballast der Partei. Wirft man sie hinaus, so läuft man die Gefahr, dass das Schiff im nächsten Sturme kentert.

Für diese Gefahr haben die Parteitage bisher ein offenes Auge gehabt und, wie Genosse Stadthagen dieser Tage richtig hervorhob, stets darauf gehalten, dass die Partei eine scharf prinzipielle Haltung einnehmen müsse. Der Jenaer Parteitag soll nun aber ein „Machtwort“ sprechen; er soll den „Zänkern“ den Mund stopfen usw. An dem Wunsche gewisser Kreise, ein zweites Dresden hervorzurufen, zweifeln wir durchaus nicht, aber sie sollen sich doch nicht einbilden, dass wir uns dadurch an der Erfüllung unserer Pflicht hindern lassen. Wir haben gewiss nichts, als eine gute Sache und ein gutes Gewissen, aber daran haben wir auch gerade genug. Also dem angeblichen „Machtwort“ des Parteitages sehen wir mit völliger Seelenruhe entgegen; selbst wenn der Parteitag die Machtbefugnis besäße, anderen Parteiblättern die prinzipielle Kritik des Zentralorgans zu verbieten, so ist es unmöglich, dass ein Parteitag der Sozialdemokratie im Jahre 1905 den theoretischen Standpunkt der Partei um 60 Jahre zurückwerfen wird.

Den so steht es mit der drohenden Berufung auf den Parteitag. Der schöngeistige Sozialismus, der heute im Vorwärts vorherrscht, der mit ästhetischen Sentiments und ethischen Räsonnements die Arbeiterklasse befreien will, ist ja durchaus keine neue Erscheinung; seine Blütezeit waren die vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, wo er namentlich in Frankreich und Deutschland üppig wucherte. Marx und Engels haben ihn damals als das reine Gift für die moderne Arbeiterbewegung bekämpft, wofür sie übrigens schon mit all den Titulaturen geschmückt wurden, die der Vorwärts heute mit freigebiger Hand verstreut, und ihn dann im Kommunistischen Manifest theoretisch abgetan. Gleich darauf wog ihn die Revolution, in Deutschland wie in Frankreich, auf ihrer praktischen Wage; sie befand ihn als ästhetisches Nichts und als ethische Null. Wollte der Parteitag sich für diesen Sozialismus engagieren, so würden die „Anarchosozialisten“ mit einem wahrhaft grausamen Rechte sagen, dass die Partei lange gewonnene Positionen aufgebe, und die Arbeiterkasse würde das Recht zum Widerspruche verlieren, wenn sich die Bourgeoisie für ihre Herrschaft auf den historisch legitimen Rechtstitel der geistigen Überlegenheit beriefe. Denn der schöngeistige Sozialismus steht tief unter der geistigen Höhe, die die kapitalistische Gesellschaft in all ihrem Verfall noch immer behauptet. Er rekrutiert sich beiläufig mit Vorliebe aus den unklaren Köpfen der Bourgeoisie, deren klare Köpfe ihn schon deshalb längst als eine harmlose Torheit zu belächeln gewöhnt sind, und von ihrem Standpunkte aus auch mit vollem Rechte.

Zu alledem kann und wird es natürlich niemals kommen. Worum es sich handelt, ist nur die Frage, ob man das Übel rechtzeitig mit sanfter Hand beseitigen oder ob man noch ein paar Jahre warten will, bis eine urgesunde und urkräftige Reaktion aus der großen Masse der Parteigenossen ausbricht, die dann ganz andere Schwierigkeiten für die Partei schaffen würde als ihr alles so genannte „Literatengezänk“ vom ersten bis zum heutigen Tage bereitet hat oder überhaupt jemals bereiten kann. Was uns betrifft, so sind wir für die sanfte Methode und deshalb befürworten wir den Antrag der Berliner Genossen nicht aus ihren Gründen, die sie natürlich selbst vertreten können und werden, sondern aus unseren Gründen, die sie nicht zu vertreten, wir aber in diesen Artikeln entwickelt haben. Es ist das mildeste und zugleich das radikalste Heilmittel: das mildeste, weil es keine Person verletzt, das radikalste, weil es die Zustände reformiert.

Allerdings glaubt der Vorwärts, dass die Berliner Genossen mit seiner jetzigen Art ganz zufrieden wären. Darüber streiten wir nicht erst, da es uns nicht darauf ankommt. Wir beurteilen solche Fragen nicht nach augenblicklichen Stimmungen oder Verstimmungen, sondern nach ihren bleibenden Gesichtspunkten. Wir der Vorwärts den Berliner Genossen zur freien Verfügung überlassen, so wird sich alsbald in seinen Spalten ihr Geist wieder finden, wie in den Spalten aller Parteiblätter der Geist der Genossen, denen sie gehören. Daran zweifeln, hieße an dem Prinzip zweifeln, aus dem die Arbeiterpresse ihre Kraft schöpft.

* * *

Anmerkungen

1. Auf dem Dresdener SPD-Parteitag 1903 griff die radikale Mehrheit die Mitarbeit von SPD-Mitgliedern an dem Bismarck verherrlichenden Sensationsblatt Zukunft von Maximilian Harden an. Diese konterten mit einer Hetzkampagne vor allem gegen Mehring.

A. In derselben Weise, wie oben haben wir uns stets ausgesprochen, wenn wir die Sensationen des Vorwärts tadelten. So schrieben wir am 24. Juni: „Wir wiederholen noch einmal: es fällt uns nicht ein, das Kind mit dem Bade zu verschütten und etwa zu verlangen, dass die Arbeiterpartei überhaupt mit verbundenen Augen an den Skandalen vorbeigehen soll, die am Leibe des Kapitalismus wie Zeichen der Verwesung hervorbrechen. Was wir wünschen ist nur, dass unsere Politik gegenüber diesen Erscheinungen die vom prinzipiellen Standpunkte gebotene Kritik sei, dass wir ihnen keine übermäßige Bedeutung für den proletarischen Emanzipationskampf beimessen, dass wir sie als unvermeidliche Konsequenzen der kapitalistischen Produktionsweise hinzustellen wissen, selbst auf die Gefahr hin, darüber den bedingten und höchst trügerischen Beifall des gebildeten Philisters zu verlieren.“ Gleichwohl bekommt es der Mitarbeiter des Kasseler Parteiblattes fertig, den politischen Leiter unserer Zeitung [= Mehring] als einen schoflen Kerl hinzustellen, der anderen vorwerfe, was er selbst mit Vorliebe treibe, indem er eine ganze Leporelloliste von kapitalistischen Skandalen aufführt, die Mehring in der Neuen Zeit behandelt hat. Auf die Frage, wie Mehring sie behandelt hat, lässt er sich nicht weiter ein, und unverwöhnt, wie wir sind, beschweren wir uns nicht erst über die Vernachlässigung solcher unzeitigen Finessen. Eher könnte dem moralisch Gekreuzigten ein leiser Laut der Klage ausschlüpfen, weil sein Richter vergessen hat, mitzuteilen, dass sich die Leporelloliste auf – vierzehn Jahrgänge der Neuen Zeit verteilt, so dass, wenn man sie daraufhin abzählt, auf jeden Jahrgang der Neuen Zeit durchschnittlich gerade ein von Mehring behandelter Skandal fällt. Nachdem auf diese geniale Weise Mehring der Verachtung der Genossen preisgegeben worden ist, wird an derselben Stelle Kautsky wegen seiner Polemik gegen den Vorwärts lächerlich zu machen gesucht, indem im gesperrten Drucke verkündet wird, die Neue Zeit nehme am Aufschwunge der Parteipresse keinen Teil, während der Vorwärts dabei mit obenan stehe, „dank der eminenten publizistischen Begabung des Genossen Eisner“. Es ist bemerkenswert, dass der Vorwärts daraufhin diesen „alten Parteigenossen“ als eine Friedenstaube mit dem Ölzweig im Schnabel schildert, gleich nachdem K[urt] E[isner] seine Empörung über das angebliche Cliquen- und Reklamewesen der Leipziger Volkszeitung kundgetan hatte.

B. Die kurze Notiz in unserer Sonnabendnummer [Nr. 203, 2. September 1905], worin wir sagten, weshalb eine mehrtägige Unterbrechung dieser Artikel eingetreten sei, um den Verdacht abzuwehren, als beabsichtigten wir eine Verschleppung, die den Vorwärts vor dem Parteitage an einer Antwort hindern könne, hat einige Parteiblätter zu persönlichen Verdächtigungen veranlasst, die sich darin zusammenfassen lassen, als seien diese Artikel in besinnungsloser Wut gegen eine einzelne Persönlichkeit geschrieben. Wir glauben zwar, den Artikeln selbst ihre Rechtfertigung überlassen zu können, wollen aber für diejenigen Genossen, denen es um die Sache zu tun ist, beiläufig bemerken, dass die Ansichten, die wir entwickelt haben, von uns schon seit Jahren vertreten worden sind, wenn in engeren Parteikreisen die Übelstände im Vorwärts auf eine einzelne Persönlichkeit zurückgeführt wurden. Wir haben dann stets gesagt: „In der Sache habt Ihr recht, aber dem Mann tut ihr Unrecht. Er kann so wenig aus seiner Haut heraus wie wir, und den Einfluss, den er im vorwärts ausübt, verdankt er seiner Gewandtheit und Rührigkeit im journalistischen Betriebe, also ganz legitimen Mitteln. Die Schuld an dem Unheil tragen die Zustände, die den Mann an einen falschen Platz geschoben haben.“ Als nun K[urt] E[isner] mit seinen ebenso ehrenrührigen wie unwahren Behauptungen gegen die Leipziger Volkszeitung losbrach und wir anfangs schwankten, ob wir antworten sollten, ersuchten uns Parteifreunde, zu denen wir uns wiederholt in dem angedeuteten Sinne ausgelassen hatten, unsere Ansicht einmal öffentlich im Zusammenhange zu entwickeln. Sie waren dabei von dem Wunsche geleitet, de Frage auf den Boden einer sachlichen Diskussion zu stellen, und nur um diesem Wunsche nachzukommen, haben wir die Artikel geschrieben.

2. Franz Mehring wohnte in Berlin-Steglitz.


Zuletzt aktualisiert am 11. Juni 2024