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Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Erster Band, S. 889–892.
Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 428–431.
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Vor einigen Tagen lief eine Nachricht durch die Zeitungen, die in ihrer dürftigen Kürze dennoch ein lehrreiches Kapitel zu den zarten Beziehungen zwischen Kapital und Presse liefert: Karl Frenzel, ein Greis von mehr als achtzig Jahren, ist von den Besitzern der National-Zeitung – nach nahezu fünfzigjähriger Tätigkeit an diesem Blatte – ohne alles Federlesen auf die Straße gesetzt worden, weil er sich der Zumutung geweigert hat, dass seine Beiträge auch in die Spalten der Post übergehen sollten, mit der sich die National-Zeitung in ähnlicher Weise verschmolzen hat, wie seit mehreren Jahren die Volks-Zeitung mit dem Berliner Tageblatt verschmolzen worden ist.
Nichts beleuchtet die Geschichte des preußischen Parteiwesens in so drastischer Weise wie die Entwicklung der drei Blätter, mit denen die politische Presse in Berlin begonnen hat. Was bis zum Jahre 1848 an Berliner Zeitungen bestand, konnte nur in uneigentlichem Sinne politisch genannt werden; es waren Organe von Philistern, geschrieben für Philister, und wenn sich je einmal ein Talent fand, das ihnen ein wenig auf die Beine helfen wollte, wie der märkische Dichter Willibald Alexis der Vossischen Zeitung, so wurde es durch die Zensur oder gar durch ungnädige Kabinettsordern Sr. Majestät untergeduckt. Eine solche Kundgebung, die Willibald Alexis wegen seiner „unüberlegten Verdächtigungen“ rüffelte, hat dann noch fünfzig Jahre später einem getreuen Fridolin des Hauses Hohenzollern das Genick gebrochen; weil Treitschke in seiner Deutschen Geschichte die Kabinettsorder Friedrich Wilhelms IV. an Willibald Alexis auf die „Undankbarkeit der Hohenzollern, den unschönen Erbfehler des Herrscherhauses“, zurückzuführen wagte, fehlte seinem Sarge der kaiserliche Kranz, was nun freilich das am wenigsten geeignete Mittel war, Treitschke einer „unüberlegten Verdächtigung“ zu überführen.
Doch dies nebenbei. Als die Märzrevolution die Möglichkeit einer politischen Presse bereitet hatte, schuf sich jede der drei Klassen, die damals um die Herrschaft miteinander rangen, ein hauptstädtisches Organ: zunächst die Bourgeoisie die National-Zeitung, dann das Junkertum die Kreuz-Zeitung und endlich das Kleinbürgertum die Volks-Zeitung. Zuerst war die Bourgeoisie auf dem Plane; unter dem frischen Eindruck der Märztage schiffte sie mit tausend Masten in den Ozean. Sie taufte ihr neues Blatt nach dem Pariser National, dessen Redakteur auf dem Präsidentensessel der französischen Nationalversammlung saß, und sie zeigte nicht übel Lust, gleich ehrgeizige Bahnen zu beschreiten.
Bereits am 22. August 1848 wurde die National-Zeitung angekündigt als ein Kind „der wahren und wirklichen Pressfreiheit“, die in der „Märtyrernacht der Freiheit vom 18. auf den 19. März geboren“ worden sei. „Unser ganzes Unternehmen hat hinsichtlich der Improvisation viel Ähnlichkeit mit unserer Revolution am 18. März und befindet sich deshalb noch einige Tage in einer Art von unschuldiger Anarchie.“ Was uns heute eigenartig anmutet, war die Bescheidenheit der Mittel, womit das Bestehen der Zeitung auf die Dauer gesichert werden sollte und in der Tat auch gesichert wurde; ein Betriebskapital von 10.000 Talern, aufgebracht in 400 Aktien zu 25 Talern, genügte für diesen Zweck.
An tönenden Redensarten ließ es das junge Blatt der Bourgeoisie natürlich nicht fehlen. „Alles für das Volk und alles durch das Volk“, „politische und soziale Reform erklären wir für untrennbar“, und was sonst mehr zu diesen kleinen Gaunereien des kapitalistischen Betriebs gehört. Jedoch hinderte der bourgeoise Charakter des Blattes, der sehr bald in unverhüllter Schönheit hervortrat, keineswegs seinen Einfluss, der vielmehr in dem Maße wuchs, wie die politische Bewegung der Massen abflaute. In den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts galt die National-Zeitung immerhin als ein respektables Organ, wozu namentlich die Artikel und Korrespondenzen beitrugen, die ihr Lothar Bucher aus London sandte. Besonders auch ihr Feuilleton hob er durch seine Beiträge auf eine hohe Stufe, und diese Erbschaft trat dann etwa um das Jahr 1860 Karl Frenzel an.
Er ist ein geborener Berliner, aufgewachsen als vertrauter Schüler desselben Koppen, der zu den intimsten Freunden des jungen Karl Marx gehörte. Dem philosophischen Hauche, der seine Jugend umwitterte, verdankt es Frenzel wohl in erster Reihe, dass er sich immer über dem landläufigen Literatentum des Kapitalismus gehalten hat, über den Lindau, Blumenthal und Konsorten; in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war er so etwas wie das kritische Orakel von Berlin, sicherlich kein zweiter Lessing, als welcher er wohl von seinen Bewunderern angesprochen worden ist, aber doch ein Vertreter derjenigen bürgerlichen Bildung, die diesen Namen noch mit einigem Rechte beanspruchen konnte. Wenn es ihm arg verdacht worden ist, dass er der naturalistischen Bewegung der achtziger Jahre sehr kritisch gegenüberstand, so waren es doch bessere Eigenschaften als die ihm vorgeworfene philisterhafte Kurzsichtigkeit, die ihn veranlassten, der ganzen Erscheinung keine lange Dauer zu versprechen. In jedem Falle hat er am längsten und am stärksten das Ansehen der National-Zeitung aufrechterhalten.
Denn ökonomisch und politisch war sie derweil sehr auf die schiefe Ebene geraten. Die Helfershelferdienste, die sie im Jahre 1860 dem biedern Vogt bei seinem Lügenfeldzuge gegen Marx leistete [1], schadeten ihr freilich noch nicht und ebenso wenig die schäbige Art, in der sie sich Lothar Bucher abhalfterte, als er ihr mit seinen ökonomischen und politischen Ketzereien unbequem geworden war. Aber mit dem großen Umfalle von 1866 begann sie ins Hintertreffen zu geraten; sie wurde die eifrigste Förderin der nationalliberalen Gehirnerweichung, und in den siebziger Jahren traf sie dann der stärkste Schlag, indem ihr der gleißende Tugendmantel von den Schultern gerissen wurde. Es ergab sich, dass gerade die National-Zeitung, die vor anderen den „Anstand“ und die „Vornehmheit“ gepachtet hatte, am tiefsten durch den Schmutz der Gründerjahre gewatet war, wenigstens in der Person ihres Handelsredakteurs Schweitzer. Als das Organ Bambergers und Laskers suchte sie denn auch einen Rest von politischer Haltung zu bewahren, aber bald war es auch damit vorbei, und sie ist nun denselben Weg gegangen wie einige Jahre vor ihr schon die Volks-Zeitung, während die Kreuz-Zeitung einflussreicher und mächtiger dasteht als je.
Aber wie die Parteien, denen sie dienten, nicht ehrenvoll gestorben, sondern elend verkommen sind, so auch diese Organe. Die ostelbischen Junker sind sicherlich habgierige Leute, aber soviel Verstand haben sie doch, um einzusehen, dass man mit politischen Waffen nicht schachert. Als seinerzeit Hammerstein, der Redakteur der Kreuz-Zeitung, die bekannten Eingriffe in ihre Kasse tat, konnte er sich darauf berufen, es habe sich gewissermaßen um herrenloses Gut gehandelt; in der gegen ihn geführten Verhandlung machte es ja auch einige Schwierigkeit, juristisch festzustellen, wem die Kreuz-Zeitung gehöre. Trotz ihres üppigen Gedeihens und trotz aller junkerlichen Habgier war niemals ein Mitglied ihrer Verwaltung auf den famosen Gedanken verfallen, sie als ein Vermögensobjekt zu betrachten, aus dem ein möglichst großer Profit herausgeschlagen werden müsse.
Dagegen ist noch die Leiche der National-Zeitung, ebenso wie früher die Leiche der Volks-Zeitung, verschachert worden, um aus ihren Knochen Mehl zu mahlen, wobei mit zynischem Hohne auf die Prinzipien gepfiffen wurde, die diese Blätter „ganz und voll“ vertreten haben. Die demokratische Volks-Zeitung wurde ein Anhängsel des liberalen Berliner Tageblatts, und die liberale National-Zeitung wurde ein Anhängsel der freikonservativen Post! Unbeschämter lässt sich der Schacher nun schon nicht treiben. Wir möchten gern noch die Zeit erleben, wo auch die Kreuz-Zeitung ihr seliges Ende findet, aber man kann tausend gegen eins wetten, dass sie nicht in gleich schäbiger Weise zu Grabe fahren wird. Und wer sich, wie Herr Frenzel, gegen den gräulichen Handel sträubt, fliegt unbarmherzig aufs Pflaster!
Auch in dieser Beziehung ahmt die National-Zeitung übrigens nur das Vorbild nach, das ihr die Volks-Zeitung gegeben. Dieses Organ beschloss ebenfalls sein unabhängiges Dasein, indem es einige Redakteure, die nicht nach kapitalistischer Pfeife tanzen wollten, mit Stockschlägen auf den Magen zu bändigen versuchte, was nun freilich misslang. Nicht einmal das kleine Extraprofitchen, das der Eigentümer der Volks-Zeitung durch den Bruch seiner kontraktlichen Verpflichtungen zu machen suchte, konnte eingeheimst werden, da die gemaßregelten Redakteure den Schutz der Gerichte anriefen. Darauf will es Herr Frenzel, wie gemeldet wird, nicht ankommen lassen, und man kann es dem alten Herrn auch nicht verdenken, dass er sich mit dem edlen Geschwister, mit dem er zu tun gehabt hat, nicht noch vor Gericht herumstreiten will.
Er selbst kann ja mit diesem Ende seiner publizistischen Laufbahn durchaus zufrieden sein. Gewiss hat er nur als anständiger Mensch gehandelt, aber bei dem moralischen Niveau, worauf die kapitalistische Presse angelangt ist, genügt schon die Erfüllung der einfachsten Ehrenpflicht, um den, der sie erfüllt, als Heros erscheinen zu lassen.
1. Die National-Zeitung brachte zwei lange Leitartikel aus Vogts verleumderischer Schrift gegen Marx Mein Prozess gegen die Allgemeine Zeitung, in der Marx als Haupt einer Erpresserbande geschildert wurde, die davon lebe, Leute im Vaterlande so zu kompromittieren, dass sie das Schweigen der Bande durch Geld erkaufen müssten. (Siehe auch Franz Mehring: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Dietz Verlag, Berlin 1960, S. 294 ff.)
Zuletzt aktualisiert am 12. Juni 2024