Franz Mehring

 

Ein neues Werk des Marxismus

(Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals.
Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung
des Imperialismus)

(Januar 1913)


Leipziger Volkszeitung, 16., 17. und 18. Januar 1913.
Transkription: Daniel Gaido.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


I.

Während die bürgerlichen Parteien und ihre Wortführer schon lange auf jede Häretische Erkenntnis ihrer eignen Gesellschaftsordnung verzichtet haben und im blöden Empirismus von Tag zu Tag leben, ist es die Sozialdemokratie, die allein die kapitalistische Erwerbsgesellschaft wissenschaftlich zu erforschen sich bemüht und in der marxistischen Theorie den Ariadnefaden durch das schier unentwirrbare Labyrinth der heutigen Gesellschaftsordnung in der Hand hat. Nicht etwa, daß es aus bürgerlicher Seite an sozialen Studien von teilweise unbestrittenem Werte fehlte. Im Gegenteil! Der Bücher sind Legion, die sich mit der Durchforschung einzelner Erscheinungen unsres Gesellschaftslebens befassen, und daß auf diesem Gebiete eher zu viel als zu wenig geleistet wird, das haben bürgerliche Gelehrte, wie beispielsweise Karl Lamprecht in seinem vielbändigen Werke über deutsche Geschichte, mit vernehmlichem Stöhnen selber eingestanden. Gerade wenn es galt, Ordnung in das Chaos der Einzeltatsachen zu bringen, erwies sich dieser Berg sozialwissenschaftlicher Literatur als ein fast unüberschreitbares Gebirge, das jede Aussicht und damit jede Orientierung unmöglich machte. Was dieses schier unabsehbare Büchermeer, trotz wertvoller Einzelleistungen, im ganzen genommen so unfruchtbar macht, das ist die Unfähigkeit der bürgerlichen Gelehrten zum Generalisieren, das heißt aus der Fülle der Tatsachen die Gesetze der sozialen Bewegung abzuletten und erst so das Wesen der bestehenden Gesellschaft zu erkennen und es in jener Einzeltatsache von neuem nachzuweisen. Sie halten die Fäden in der Hand, es fehlt ihnen nur das geistige Band.

Dieser Mangel an Erkenntnis liegt nun nicht etwa an der geistigen Beschränktheit der bürgerlichen Gelehrten. Das wäre eine sehr kurzsichtige Auffassung. Er liegt vielmehr an ihrer sozialen Beschränktheit. Sie sind Vertreter der herrschenden Klassen, stehen auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft, über die hinaus es nichts für sie gibt, und an deren unerschütterlicher Dauer zu zweifeln ihnen nicht in den Sinn kommt. Sie erblicken in der kapitalistischen Gesellschaft nicht eine historisch gewordene und gerade deshalb auch notwendig wieder vorübergehende Erscheinung, sondern die Grundlage ihrer Klassenherrschaft, an der zu rütteln Frevel und Verbrechen ist. So verhalten sie sich ihr gegenüber nicht kritisch, sondern lediglich apologetisch. Bei jeder ernsthaften Kritik an der bestehenden Ordnung kommen ihre Klasseninteressen ins Spiel, und deshalb konnte schon Friedrich Engels vor nunmehr fast 30 Jahren schreiben: Soziale Theoretiker gibt es nur noch auf seiten der Revolution.

In der Tat ist der wissenschaftliche Sozialismus nur deshalb imstande gewesen, die sozialen Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Gesellschaft zu entdecken, weil er eben „die Revolution“ war, das heißt, weil er als Vertreter des Proletariats am Bestände der bestehenden Gesellschaft kein Interesse hatte. Erst dadurch gewann er die wissenschaftliche Objektivität und den großen historischen Blick, der nötig ist, um die uns umgebende Erscheinungswelt des Kapitalismus mit seinen ungeahnten Wunderwerken und seinen gigantischen Lebenskräften, die allem Trotz zu bieten scheinen, als eine bloße Episode zu betrachten, noch dazu als eine in weltgeschichtlichem Sinne außerordentlich kurze, wenn auch sehr wichtige Episode, die schon bei der Geburt den Todeskeim in sich trug und nur Bedeutung hat als Vorbote zu etwas Größerem und Höherem: zum Sozialismus.

Diese Leistung positiv vollbracht zu haben, ist bekanntlich das Werk von Karl Marx. Nun gibt es freilich einzelne, die da sagen, das Wert von Marx müsse schon deswegen veraltet sein, weil es schon vor fünfzig Jahren geleistet worden sei. Inzwischen sei der Kapitalismus so außerordentlich entwickelt, habe derartig neue Erscheinungen gezeitigt, daß diesen Neuerscheinungen unmöglich eine Theorie gerecht werden könne, bei deren Aufstellung diese noch völlig unbekannt gewesen seien. Und es sei ein Beweis für die Unfruchtbarkeit des gesamten Marxismus, das er über Marx hinaus nichte geleistet habe, obwohl inzwischen das Wirtschaftsleben von neuen Erscheinungen strotze, die nach neuen Erklärungen dringend verlangten.

Von dieser Argumentation ist nur so viel wahr, daß die kapitalistische Welt in den sechziger Jahren, als Marx seine Theorie schriftlich niederlegte, noch nicht so entwickelt war, wie heute, fünfzig Jahre später. Daß aber diese fünfzig Jahre irgendwelche Erscheinungen gezeitigt hätten, die im Widerspruch mit dem Marxismus stünden, hat zwar seinerzeit der theoretische Revisionismus behauptet, aber niemals bewiesen. Er ist im Gegenteil an dem Versuche, diesen Nachweis zu führen, vor zehn Jahren wissenschaftlich zugrunde gegangen und ruht heute in den Katakomben der Vergangenheit. Soweit die Neuerscheinungen des Wirtschaftslebens wirklich neue Probleme darstellten, sind sie gelöst worden auf Grundlage der marxistischen Theorie. Wir erinnern hier nur an das durch das Erwachen der geschichtslosen Nationen in Oesterreich und im Orient seit 1848 total veränderte Problem, das die Nationalitätenfrage der Sozialdemokratie stellt, und auf das in dem trefflichen Werke unsres österreichischen Genossen Otto Bauer auf Grundlage des Marxismus eine Fülle neuen Lichtes geworfen worden ist. Aber auch die neueste Phase der kapitalistischen Entwicklung, der Imperialismus, hat Erscheinungen geschaffen, deren theoretisch-wissenschaftliche Bewältigung nur vom Boden der marxistischen Theorie aus möglich war. Rudolf Hilferdings Finanzkapital, das ebenfalls wie das Buch Bauers seinerzeit in der Leipziger Volkszeitung ausführlich gewürdigt worden ist, stellt die erste Leistung aus diesem Gebiete dar, das auch insofern bemerkenswert bleibt, als es zur Erklärung der imperialistischen Erscheinungen zum erstenmal in deutscher Sprache auf den 2. Band des Kapital zurückgreift.

Dies tut auch, freilich in viel tieferer Weise, das soeben erschienene Buch von Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals. In ihrem Vorwort bemerkt die Verfasserin:

„Als ich im Januar dieses Jahres, nach der Reichstagswahl, wieder einmal daran ging, jene Popularisation der Marxschen ökonomischen Lehre wenigstens im Grundriß zum Abschluß zu bringen, bin ich auf eine unerwartete Schwierigkeit gestoßen. Es wollte mir nicht gelingen, den Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion in ihren konkreten Beziehungen sowie ihre objektive geschichtliche Schranke mit genügender Klarheit darzustellen. Bei näherem Zusehen kam ich zu der Ansicht, daß hier nicht bloß eine Frage der Darstellung, sondern auch ein Problem vorliegt, das theoretisch mit dem Inhalt des zweiten Bandes des Marxschen Kapitals im Zusammenhang steht und zugleich in die Praxis der heutigen imperialistischen Politik wie deren ökonomische Wurzeln eingreift.”

Es handelt sich hier also um den Versuch, den notwendigen Zusammenbruch des Kapitalismus und die Unvermeidbarkeit des Sozialismus theoretisch-wissenschaftlich nachzuweisen. In weiteren Artikeln wollen wir sehen, wie die Verfasserin ihre Aufgabe bewältigt.
 

II.

Der erste Band des Kapitals ist bekanntlich dem Produktionsprozeß des Kapitals gewidmet. In ihm kommt die Gewinnung und Aneignung des Mehrwerte durch den Kapitalisten zur Darstellung. Der treibende Zweck der kapitalistischen Produktion ist nicht die Herstellung von Gebrauchsgütern, sondern von Mehrwert. Aber der Produktionsprozess ist notwendigerweise zugleich Reproduktionsprozeß. Mit einer einmaligen Produktion ist nichts getan, die Produktion muß sich beständig wiederholen. Und nicht nur das: sie muß sich ebenso beständig erweitern. Gerade weil die kapitalistische Produktionsweise nicht das Ziel hat, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, sondern lediglich Mehrwert zu gewinnen, hat sie von vornherein in sich den Trieb zur schrankenlosen Ausdehnung. Sie produziert ohne jede Rücksicht aus die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen, und die wirtschaftlichen Krisen sind es, in denen die Dissonanz zwischen den gesteigerten Produktivkräften und den dahinter zurückgebliebenen Absatzmöglichkeiten offensichtlich zutage tritt. Diese Krisen bilden eine der kapitalistischen Produktionsweise eigentümliche Erscheinung, keine andre Gesellschaft hat sie gekannt, und demgemäß haben sie in der sozialistischen Theorie bekanntlich eine große Rolle gespielt. Und doch muß man, will man das Wesen der kapitalistischen Reproduktion sich klar machen, von diesen Krisen absehen, die ja nur das Auf und Ab des Reproduktionsprozesses darstellen, nicht aber diesen Prozeß selber. Genau so wie man bei der Darstellung des Wertes einer Ware von Angebot und Nachfrage absieht, die ebenfalls nur das Auf und Ab der Preise, nicht aber den Wert selber wiedergeben.

Die erweiterte Reproduktion unter kapitalistischen Verhältnissen führt also zu stets steigernder Mehrwertsproduktion. Der Mehrwert wird von der Kapitalistenklasse angeeignet. Was macht sie mit diesem Mehrwert? Sie verbraucht ihn teilweise zu persönlichem Luxus, teils zur Erweiterung der Produktion. Soweit das letztere geschieht, soweit also der Mehrwert kapitalisiert wird, reden wir von der Akkumulation des Kapitals. Allein es ist klar: je weiter der Akkumulationsprozeß des Kapitals zunimmt, desto gewaltiger steigt der von der Kapitalistenklasse ungeeignete Mehrwert, und die Frage erhebt sich von neuem: was macht sie mit diesem Mehrwert?

Sehen wir uns diesen Akkumulationsprozeß einmal genauer an. Die Kapitalistenklasse läßt nicht produzieren, um menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, sondern lediglich, um Mehrwert zu gewinnen. Dieser Mehrwert aber stellt sich in Waren dar, mit denen der einzelne Kapitalist zunächst nichts anfangen kann. Er muß sie verkaufen, sonst hat die Produktion keinen Sinn gehabt, und der Mehrwert ist für ihn verloren. Wer kauft ihm nun diese Waren, die den Mehrwert darstellen, ab? Die Arbeiterklasse kann es nicht sein. Sie erhält ihren Lohn, und der Lohn stellt ja nur einen Teil des vor Beginn des Produktionsprozesses vom Kapitalisten vorgeschossenen Kapitals dar, den er nach dem Produktionsprozeß vom Produkt abzieht. Vom Mehrwert erhält die Arbeiterklasse kein Atom. Aber auch die Kapitalistenklasse kann es nicht sein. Einen Teil des Mehrwerts freilich, konsumiert sie durch persönlichen Luxus. Aber dieser Luxus kann niemals den ganzen Mehrwert verzehren, weil wir sonst keine Akkumulation des Kapitals hätten. Der persönliche Luxus der Kapitalistenklasse mag wachsen, und er wächst tatsächlich mit steigendem Mehrwert, immerhin ist Voraussetzung, für die Akkumulation, daß nicht der ganze Mehrwert verzehrt wird. Außerdem kommt ein beträchtlicher Teil des Mehrwerts in einer Gestalt zur Welt, die von vornherein den persönlichen Konsum ausschließt und direkt zur Erweiterung der Reproduktion bestimmt ist: nämlich in der Gestalt von Produktionsmitteln, das heißt Maschinen und Werkzeugen. Es sind also weder die Kapitalisten noch die Lohnarbeiter, die den akkumulierten Mehrwert realisieren.

Wer bleibt denn da noch übrig? Um die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise rein darstellen zu können, mußte Marx natürlich die Herrschaft des Kapitalismus theoretisch voraussetzen mit seinen beiden Klassen: Kapitalisten und Lohnarbeitern. Aber diese beiden Klassen allein erweisen sich als völlig unzureichend, um die Akkumulation des Kapitals zu ermöglichen, und damit überhaupt die Lebensbedingung der kapitalistischen Gesellschaft zu sichern.

Wir sehen: eine kapitalistische Gesellschaft, die lediglich aus Kapitalisten und Lohnarbeitern bestünde, ist in sich unmöglich, sie müßte zusammenbrechen.

Nun besteht in Wirklichkeit die kapitalistische Gesellschaft nicht bloß aus diesen beiden Klaffen. Wir haben da noch Grundbesitzer, Angestellte, Aerzte, Rechtsanwälte, Künstler, Wissenschaftler, es besteht die Kirche mit ihren Dienern, und auch noch der Staat mit seinen Beamten und Soldaten. Haben wir hier vielleicht die Abnehmer für den akkumulierten, das heißt den von der Kapitalistenklasse nicht verzehrten Teil des Mehrwerts gesunden? Mit nichten! Marx selber lehnte diese „dritten Personen“ als Abnehmer als eine Ausflucht ab. Und tatsächlich sind die genannten Berufe entweder – wie die Grundbesitzer – selber Teile der Kapitalistenklasse, oder aber, wie die liberalen Berufe, erhalten sie ihr Einkommen aus der Hand der Kapitalistenklasse, oder aber drittens, wie Kirche und Staat, werden sie aus Kosten des Arbeitslohnes und des von den Kapitalisten verzehrten Mehrwerts, durch Steuern und Abgaben unterhalten. Ebensowenig haben wir in dem Anwachsen der Bevölkerung einen Ausweg aus unsrer Schwierigkeit, oder in dem Hinweis auf den auswärtigen Handel, durch den man die akkumulierten Mehrwertmassen ins Ausland abschieden könnte. Die Untersuchung über den Akkumulationsprozeß des Kapitals erstreckt sich nicht auf ein einzelnes Land, sondern aus den ganzen Weltmarkt, für den es kein Ausland gibt. Schon sm I. Bände des Kapitals hebt dies Marx hervor:

„Um den Gegenstand der Untersuchung in seiner Reinheit, frei von störenden Nebenumständen aufzufassen, müssen wir hier die gesamte Handelswelt als eine Nation ansehn und voraussetzen, daß die kapitalistische Produktion sich überall festgesetzt und sich aller Industriezweige bemächtigt hat.“

Wie nun die Schwierigkeit lösen? Bei Marx selber ist die Lösung nicht zu finden. Er stellt zwar im II. Bande immer und immer wieder die Frage: Wo kommt das Geld her, um den akkumulierten Mehrwert zu bezahlen? Aber die Frage selber beantwortet er nicht. Die Analyse dieser Partien des II. Bandes bet Marx durch die Genossin Luxemburg gehört zu den theoretisch glänzendsten Leistungen ihres Buches, durch die zum erstenmal in der deutschen Literatur die wahre Bedeutung dieses schwierigen und apokryphen II. Bandes anschaulich gemacht wird. Engels selber gab bekanntlich den Rat, die hier in Betracht kommenden Teile des II. Bandes erst nach der Lektüre des III. Bandes zu lesen. In der Tat wird die Schwierigkeit des II. Bandes noch erhöht durch die nicht für den Druck berechnete Form des Manuskripts, wie Engels es in den hinterlassenen Papieren von Marx vorfand, und von dem Marx gerade die Partien über Reproduktion und Zirkulation des gesellschaftlichen Kapitals „einer Umarbeitung dringend bedürftig“ erklärt hatte. Darauf weist auch Luxemburg hin:

„Wenn man nun fragen wollte, weshalb die Lösung dieses wichtigen Problems der kapitalistischen Akkumulation in dem Marxschen Kapital nicht zu finden ist, so muß vor allem der Umstand in Betracht gezogen werden, daß der zweite Band des Kapitals kein abgeschlossenes Werk, sondern Manuskript war, das mitten im Wort abgebrochen wurde.“

Dazu kam noch ein andres Moment, worauf Luxemburg ebenfalls mit Nachdruck verweist. Die Analyse des Reproduktionsprozesses bei Marx ist beherrscht von der Auseinandersetzung mit Adam Smith über das Problem des Ersatzes des konstanten Kapitals aus dem Gesamtprodukt. Hierauf konzentrierte Marx seine ganze Aufmerksamkeit. So wurde das andre Problem, das der Akkumulation nämlich der Realisierung des Mehrwerts zu Zwecken der Kapitalisierung, in den Hintergrund gedrängt und ist schliesslich von Marx kaum angeschnitten worden. Das mindert aber nicht das Verdienst der Genossin Luxemburg, zum erstenmal diese Lücke deutlich nachgewiesen zu haben.

Dabei ist die Frage, um die es sich hier handelt, von der größten Bedeutung für die politische Oekonomie. Und so war es denn kein Wunder, daß sie immer wieder, vor wie nach Marx, auftauchte und nach Lösung verlangte. Von diesen geschichtlichen Lösungsversuchen führt uns das Buch der Genossin Luxemburg die drei vor, die an die Namen: Sismondi-Ricardo, Kirchmann-Rodbertus und schließlich an die Namen der russischen Theoretiker: Struve, Bulgakow, Tugan-Baranowsky auf der einen, Woronzow-Nikolaj-on auf der andern Seite anknüpfen. Der Gang, den wir hier auf 150 Seiten durch die Geschichte der Theorie unternehmen, ist im Höchsten Maße belehrend und von klarster Anschaulichkeit, und hier feiert die Kunst der Verfasserin, schwierige Probleme sauber herauszuarbeiten und sie auch dem weniger geschulten Laien faßlich darzustellen, glückliche Triumphe. Diese theoretischen „Waffengange“ erscheinen uns hier nicht als blutleere Abstraktionen und Haarspaltereien, sondern als geschichtliche Aktionen der sozialen Selbstverständigung, deren Charakter im engsten Maße abhänig ist von dem historischen Reifegrad, den die bürgerliche Gesellschaft zur Zeit erreicht hatte. Der erste „Waffengang“ zwischen Sismondi und dem großen Ricardo spielt im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts, ihr Schauplatz ist England und Frankreich, wo die ersten starken Zweifel an der Gottähnlichkeit der kapitalistischen Ordnung auftauchten, wie sie so lebendig in den temperamentvollen Anklagen des kleinbürgerlichen Sismondi zum Durchbruch kommen. Der zweite Waffengang spielt um die Mitte des 19. Jahrhunderts und sein Schauplatz ist Deutschland, oder genauer genommen, Pommern, eine für die politische Oekonomie nicht gerade glückliche Gegend. Der dritte Waffengang schließlich hat seine Stätte in Rußland am Ende des 19. Jahrhunderts. In ihm treten zum erstenmal Marxisten auf, die auch den II. Band des Kapitals beherrschen. In allen drei Waffengangen wiederholt sich die Situation, daß auf der einen Seite kleinbürgerliche Skeptiker stehen – Sismondi, Kirchmann, Nikolaj-on –, die die kapitalistische Akkumulation für unmöglich erklären, auf der andern Seite robuste Optimisten – Ricardo, Rodbertus, Tugan-Baranowsky –, für die der Kapitalismus sich selbst schrankenlos, befruchten kann, im Grunde also von ewiger Dauer ist. Genau so nun, wie diese drei „Waffengänge“ in sich eine aufsteigende Linie bilden, deren stets erweiterte Gesichtspunkte bedingt sind durch den erhöhten Reifegrad der bürgerlichen Gesellschaft, genau so scheitern sie alle drei an den Grenzen dieses Reifegrades. Auch bei ihnen erhalten wir keine irgendwie befriedigende Antwort auf die uns bewegende Lebensfrage der kapitalistischen Wirtschaft: Wie ist die kapitalistische Akkumulation möglich?

Sehen wir nunmehr zu, wie die Genossin Luxemburg diese Frage beantwortet.
 

III.

Wenn wir im vorigen Artikel darauf hinwiesen, daß die drei historischen Versuche, die Frage nach der Möglichkeit der kapitalistischen Akkumulation zu beantworten, aufs engste verknüpft war mit dem jeweiligen Reifegrad der bürgerlichen Gesellschaft, so trifft das für die Antwort, die die Genossin Luxemburg gibt, selbstredend auch zu. Und bei ihr ist diese Verknüpfung sogar noch viel augenscheinlicher. Sie steht schon auf dem Titelblatt ihres Buches, allwo zu lesen steht: Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus. In der Tat hat der Imperialismus, das heißt die reifste und entwickeltste Form, die dem Kapitalismus beschicken ist, selber die Antwort auf die Frage gegeben: Wie ist kapitalistische Akkumulation möglich? Oder mit andern Worten: Wo bleibt der von den Kapitalisten nicht konsumierte Mehrwert?

In der Wirtschaftlichen Wochenschau der Leipziger Volkszeitung vom 11. Januar 1913 erhielten unsre Leser einen Ueberblick über den riesigen englischen Kapitalexport. Von den 4¼ Milliarden Mark englischen Kapitals, die allein im letzten Jahre nachweisbar neu angelegt wurden, wanderten 1430 Millionen in die englischen Kolonien, 1200 Millionen nach Rußland, Südamerika, Asien und andre exotische Länder, 470 Millionen nach den Vereinigten Staaten, die in gewissem Sinne immer noch kapitalistisches Neuland sind. Mit ändern Worten: 3210 Millionen, das sind 3¼ Milliarden von den 4¼ neu angelegten englischen Kapitals, wanderten in noch nicht kapitalistisch erschlossene Länder, in England blieb nur eine Milliarde, und in die Länder Westeuropas wanderten nur 100 Millionen. Die kapitalistische Wirklichkeit beantwortet uns also die Frage: wo bleibt der von den Kapitalisten nicht konsumierte, das heißt der akkumulierte Mehrwert? dahin: dieser Mehrwert wandert in die dem Kapitalismus noch nicht erschlossenen Gebiete und Klassen. Und das ist auch die Antwort der Genossin Luxemburg.

Die Lösung des Problems, um das sich die Kontroverse in der Nationalökonomie fast über ein ganzes Jahrhundert zieht, liegt also zwischen den beiden Extremen: zwischen der kleinbürgerlichen Skepsis der Sismondi, Kirchmann, Woronzow, Nikolaj-on, die die Akkumulation für unmöglich erklärten, und dem rohen Optimismus Ricardo – Say – Tugan Baranowskys, für die der Kapitalismus sich selbst schrankenlos befruchten kann, ergo – was nur eine logische Konsequenz – von ewiger Dauer ist. Die Lösung liegt, im Sinne der Marxschen Lehre, in dem dialektischen Widerspruch, daß die kapitalistische Akkumulation zu ihrer Bewegung nichtkapitalistischer sozialer Formationen als ihrer Umgebung bedarf, in ständigem Stoffwechsel mit ihnen vorwärts schreitet und nur so lange existieren kann, als sie dieses Milieu vorfindet.

Dem theoretischen und historischen Beweise dieses Satzes ist das letzte Drittel des Luxemburgischen Buches gewidmet. Mit besonderem Nachdruck weist die Verfasserin darauf hin, daß hiermit nicht etwa ein „Hinausgehen über Marx“, eine „Erweiterung des Marxismus“ oder wie sonst die konfusen Redensarten lauten mögen, vorliegt, sondern daß diese Lösung streng innerhalb der marxistischen Theorie bleibt, ja, daß sie sich von selbst ergibt, wenn man sich in die Auffassung hineindenkt, die Marx speziell im III. Bande seines Werks von dem allgemeinen Gange der kapitalistischen Akkumulation niedergelegt hat. Aber auch hier wird das Verdienst der Genossin Luxemburg durch diese Sachlage nicht gemindert. Nachdem sie zum erstenmal den exakten Nachweis der Lücke bei Marx geliefert hat, füllt sie nunmehr diese Lücke ebenso exakt aus. Daß sie hierzu Bausteine zu verwenden in der Lage ist, die sie bei Marx selber vorfindet, ist ebenso ehrenvoll für sie, wie für Marx.

Wir hatten gesehen, daß eine kapitalistische Gesellschaft, in der lediglich Kapitalisten und Lohnarbeiter, nebst den zugehörigen „dritten Personen“, existieren, in sich unmöglich ist. In ihr kann sich die Akkumulation des Kapitals nicht vollziehen. Und doch ist diese Akkumulation, das heißt die Realisierung des Mehrwerts, eine absolute Notwendigkeit für sie. Diese Akkumulation ist nur möglich, wenn Gesellschaftsschichten und Länder vorhanden sind, die noch nicht kapitalistisch produzieren und für die die kapitalistischen Staaten Produktions- und Konsummittel liefern. Die englische Baumwollindustrie beispielsweise lieferte während der ersten zwei Drittel des 19. Jahrhundert und teilweise heute noch Baumwollstoffe an das Bauerntum und städtische Kleinbürgertum auf dem europäischen Kontinent, ferner an das Bauerntum in Indien, Amerika, Afrika. Hier war es die Konsumtion nichtkapitalistischer Schichten und Länder, die für die enorme Erweiterung der englischen Baumwollindustrie die Grundlage bildeten. Für diese Baumwollindustrie aber entwickelte sich in England selbst eine ausgedehnte Maschinenindustrie, die Spindeln und Webstühle lieferte, ferner im Anschluß daran die Metall- und Kohlenindustrie. Oder umgekehrt, die kapitalistischen Staaten liefern Produktionsmittel über den eignen Bedarf hinaus, zum Beispiel die deutsche chemische Industrie liefert Farbstoffe, die massenhaft Absatz in Asien, Afrika und so weiter finden. Für die wachsende Arbeiterarmee dieser Industrie müssen nun in den kapitalistischen Staaten mehr Konsumtionsmittel geschaffen werken.

Aber nicht bloß zur Realisierung des geschaffenen Mehrwerts ist die kapitalistische Gesellschaft auf nichtkapitalistische Länder und Schichten angewiesen, sondern auch zur Schaffung des Mehrwerts selber. Je gewaltiger die Produktivkraft der Arbeit steigt, desto gewaltiger werden die Rohstoffe und sonstigen Produktionsmittel, die das Kapital braucht, und die es von überall her bezieht. Das konstante Kapital wächst nicht bloß absolut, sondern auch relativ, im Vergleich zum variablen, das heißt immer weniger menschliche Arbeitskraft ist nötig, um immer mehr Produktionsstoffe zu verarbeiten. So ist nicht bloß zur Realisierung des Mehrwerts, sondern auch zur Beschaffung der Rohmaterialien für die kapitalistischen Produktionsländer der Weltverkehr eine historische Existenzbedingung des Kapitalismus. Weltverkehr aber bedeutet unter heutigen Verhältnissen nichts andres, als Verkehr zwischen kapitalistischen und nichtkapitalistischen Produktionsformen. Das Kommando über den gesamten Erdball an sich zu reißen, um in seinen Produktionsmitteln unumschränkte Auswahl zu haben, ist ein absolutes Bedürfnis des Kapitalismus.

Bleibt uns noch die Frage: wo kommen die zuschüssigen Arbeitskräfte her, die nötig sind, um das so gewaltig sich steigernde konstante Kapital, das heißt die Rohstoffe, Maschinen braucht, und die es von überallher bezieht. Das konstante Kapital schneller steigt, als das variable, so ist doch auch das Wachstum des variablen Teils sehr beträchtlich. Zunächst liefert die Zersetzung der noch nicht kapitalistisch produzierenden Gesellschastsschichten Europas, des Bauerntums und Handwerks, die notwendigen Arbeitskräfte. Aber ebensowenig, wie die kapitalistische Produktion sich auf die Naturschätze und Produktivkräfte der gemäßigten Zone beschränken kann, vielmehr zu ihrer Entfaltung der Verfügungsmöglichkeit über alle Erdstriche und Klimate bedarf, ebensowenig kann sie mit den Arbeitskräften der weißen Rasse allein auskommen. Das Kapital braucht, zur Nutzbarmachung von Erdstrichen, in denen die weiße Rasse arbeitsunfähig ist, andre Rassen, es braucht überhaupt die unumschränkte Verfügungsmöglichkeit über alle Arbeitskräfte des Erdrunds, um mit ihnen alle Produktivkräfte der Erde, soweit dem die Mehrwertproduktion keine Schranken setzt, mobil zu machen.

Soweit Marx diese Dinge behandelt, geschieht es nur unter dem Gesichtspunkt der sogenannten ursprünglichen Akkumulation, das heißt der Geburtsstunde des Kapitals, sein Heraustreten aus dem Schoße der feudalen Gesellschaft. Sobald er jedoch an die theoretische Untersuchung des kapitalistischen Prozesses geht, kehrt er ständig zu seiner Voraussetzung: allgemeine und ausschließliche Herrschaft der kapitalistischen Produktion, zurück.

Die Genossin Luxemburg weist demgegenüber nach – und das ist das Kernstück ihres Buches –, daß der Kapitalismus nicht bloß bei seiner Entstehung, sondern auch in seiner vollen Reife, in jeder Stunde seines Lebens und in jeder Beziehung – in bezug auf das konstante Kapital, das variable Kapital, wie auf den Mehrwert – aus die gleichzeitige Existenz, nichtkapitalistischer Schichten und Gesellschaften angewiesen ist, daß er nur so lange existieren, kann, so lange jene existieren, und daß er gleichzeitig die Existenz solcher Schichten und Gesellschaften mit jedem Jahre immer mehr untergräbt und damit sein eignes Grad schaufelt.

„Der Kapitalismus ist die erste Wirtschaftsform mit propagandistischer Kraft, eine Form, die die Tendenz hat, sich auf dem Erdrund auszubreiten und alle anderen Wirtschaftsformen zu verdrängen, die keine andere neben sich duldet. Er ist aber zugleich die erste, die allein, ohne andere Wirtschaftsformen als ihr Milieu und ihren Nährboden, nicht zu existieren vermag, die also gleichzeitig mit der Tendenz, zur Weltform zu werden, an der inneren Unfähigkeit zerschellt, eine Weltform der Produktion zu sein. Er ist ein lebendiger historischer Widerspruch in sich selbst, seine Akkumulationsbewegung ist der Ausdruck, die fortlaufende Lösung und zugleich Potenzierung des Widerspruchs. Auf einer gewissen Höhe der Entwicklung kann dieser Widerspruch nicht anders gelöst werden als durch die Anwendung der Grundlagen des Sozialismus – derjenigen Wirtschaftsform, die zugleich von Hause aus Weltform und in sich ein harmonisches System, weil sie nicht auf die Akkumulation, sondern auf die Befriedigung der Lebensbedürfnisse der arbeitenden Menschheit selbst durch die Entfaltung aller Produktivkräfte des Erdrundes gerichtet sein wird.“

Mit diesen Sätzen schließt das Buch.

Ein großer Teil seines letzten Drittels ist dem historischen Beweise für die Unentbehrlichkeit nichtkapitalistischer Länder für den Kapitalismus gewidmet. Die Schilderungen der englischen Herrschaft in Indien, der französischen in Algier, der englisch-französischen „Erschließung“ Chinas durch Kanonen, die Geschichte des amerikanischen Farmertums, der Buren in Südafrika, des Zusammenbruchs Aegyptens und der Türkei – sie alle sind von höchster Lebendigkeit und werfen eine Fülle von Licht auf die modernsten Probleme der Politik des Imperialismus. Besonders was die Verfasserin in den beiden letzten Kapiteln über „Schutzzoll und Akkumulation“ und über den „Militarismus als Gebiet der Kapitalakkumulation“ ausführt, ist in diesem Zusammenhänge äusserst anregend und wird uns noch weiter beschäftigen. Sie bilden, nebenbei gesagt, unter anderem auch eine glänzende Rechtfertigung, die der Verfasser dieser Zeilen in der Frage der Abrüstung eingenommen hat.

Die Verfasserin hat ihrem Buche den Untertitel gegeben: Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus, und in der Vorrede sagt sie:

„Sollte mir der Versuch gelungen sein, dieses Problem wissenschaftlich exakt zu fassen, dann dürfte die Arbeit außer einem rein theoretischen Interesse, wie mir scheint, auch einige Bedeutung für unseren praktischen Kampf mit dem Imperialismus haben.“

Diese Bedeutung hat das Buch im höchsten Masse. Es zeigt uns theoretisch-wissenschaftlich, dass der Imperialismus keine zufällige Laune ist, keine Erscheinung, die so, die aber ebensogut auch anders, zum Beispiel friedlich sein könnte, wie seinerzeit in der Neuen Zeit behauptet wurde. Es zeigt uns ferner, dass die gewaltige Erstarkung, die der Imperialismus zweifellos für die kapitalistische Gesellschaft darstellt, nicht etwa eine Sicherung für ihn bedeutet, sondern im Gegenteil das beschleunigte Herannahen seines Endes; denn in den auf Klassengegensätzen beruhenden Gesellschaften geht eine herrschende Klasse nie unter und eine andre tritt nicht an ihre Stelle, bevor die herrschende Klasse den höchsten Gipfel ihrer Macht erlangt hat. So bedeutet das Buch der Genossin Luxemburg eine sehr wesentliche Bereicherung unsrer theoretischen Erkenntnis des Imperialismus, dessen Schätze in geläufige Scheidemünze umzuprägen die Aufgabe der Parteipresse ist, um so mehr, als einige Partien des Werkes nicht ohne Schwierigkeiten zu bewältigen sind. An uns soll es dabei nicht fehlen.

Noch ein Wort an die Adresse des Verlags. Es ist das erste große theoretische Werk, das im Vorwärtsverlag erschienen ist, und wir freuen uns, dem Verlage für die wahrhaft mustergültige Ausstattung des Buches unsre Anerkennung aussprechen zu können. Er wird überall damit Ehre einlegen.


Zuletzt aktualisiert am 13. Juni 2024