Georgi Plechanow


N.G. Tschernischewsky



IV

Wir kennen bereits das Verhalten Tschernischewsky’s zu „unseren gemeinsamen großen europäischen Meistern“, bei denen noch heutzutage die Russen fleißig in die Lehre gehen müssen. Wir wissen, daß die deutsche Philosophie einen ungeheuren Einfluß auf die Ausbildung der Tschernischewsky’schen Anschauungen hatte. Wir wissen ferner, in welcher Periode ihrer Entwicklung er sie kennen lernte: in der Uebergangsperiode vom Idealismus zum Materialismus. Die materialistische Anschauung erreichte in dieser Uebergangsperiode noch lange nicht die Stufe der Vollkommenheit, Klarheit und Folgerichtigkeit, auf welche sie später durch die Arbeiten von Marx und Engels erhoben wurde. Dieser Umstand machte sich nun in Tschernischewsky’s Anschauungen stark bemerkbar. Wenn wir dieselben mit der Lehre der Schule vergleichen, die sich später aus der Marx’schen Theorie entwickelte, so finden wir in ihnen viele Lücken, viele Unklarheiten und viele Inkonsequenzen. Vom Standpunkte der modernen europäischen Wissenschaft können seine historischen und sozialistischen Anschauungen in keinem Falle als ausreichend betrachtet werden. Wer sich jetzt noch an sie halten wollte, der wäre ein wissenschaftlicher zurückgebliebener Mensch. Aber wir wollen, indem wir dies aussprechen, keineswegs den großen russischen Schriftsteller tadeln. Seiner Entwicklung war in hohem Grade der Umstand hinderlich, daß er in einem Lande lebte, welches in jeder Hinsicht zurückgeblieben war, und wohin oft die neuesten Entdeckungen und Strömungen der sozialen Wissenschaft gar nicht gelangten; und dabei bot auch das ihn umgebende Leben gar keinen Stoff zu selbständigen Entdeckungen in dieser Richtung. Außerdem muß man bedenken, daß die von Marx und Engels in der Gesellschaftswissenschaft herbeigeführte Umwälzung selbst von den begabtesten Köpfen in Westeuropa nicht sogleich ihrem Werthe gemäß geschätzt wurde. Lassalle lebte unter Bedingungen, die seiner sozialen und politischen Ausbildung sehr günstig waren, auch stand er zu den Begründern des modernen Sozialismus in nahen Beziehungen; er brauchte also, scheint es, nur die von Anderen ausgearbeiteten und ihm dank seinen Lebensverhältnissen durchaus zugänglichen Ideen sich anzueignen, – und dennoch stoßen wir in seinen Werken auf eine Menge schreiender Widersprüche. In seinen größeren Schriften (Die Philosophie Herakleitos des Dunkeln, Das System der erworbenen Rechte) erscheint er als Idealist vom reinsten Wasser und spricht von einer Selbstentwickelung der Begriffe. In seinen agitatorischen Schriften steht er dem modernen Materialismus schon weit näher, er erkennt bereits fast vollständig sämmtliche Lehrsätze desselben an; dennoch aber findet man auch hier noch viel Unklarheit und Inkonsequenz. Wie viel Verbesserungen erheischt jetzt nicht seine hervorragendste polemische Schrift Bastiat-Schultze! Wie Tschernischewsky, so muß auch Lassalle als ein Repräsentant der Uebergangsepoche in der Entwicklung des philosophischen sozialistischen Gedankens betrachtet werden. Doch die Lücken und Widersprüche in Lassalle’s Anschauungen haben ihn nicht verhindert, sich wesentlich um die Entwicklung seines Vaterlandes verdient zu machen. Ebensowenig verhinderten es Tschernischewsky’s unvollkommen ausgearbeitete Anschauungen, daß er sich in gleicher Weise bethätigte. Wohl läßt sich jetzt, von Marx’ Standpunkt aus, gar Manches an Tschernischewsky’s theoretischen Erörterungen und praktischen Vorschlägen aussetzen. Allein für seine Zeit und für sein Land waren auch jene Ansichten, die wir heutzutage als irrige betrachten müssen, in höchstem Grade wichtig und fruchtbringend, weil sie den russischen Gedanken aufrüttelten und ihn auf die Bahn drängten, die zu betreten ihm in der vorhergehenden Periode nicht gelungen war, – auf die Bahn des Studiums der sozialen und ökonomischen Fragen. In der politischen Oekonomie, in der Geschichte, sogar in der Aesthetik und in der literarischen Kritik hat Tschernischewsky eine Fülle von Ideen ausgestreut, die bis jetzt noch nicht in ihrem ganzen Umfange von der russischen Literatur verstanden und hinlänglich ausgearbeitet worden sind. Um mit wenigen Worten Tschernischewsky’s Bedeutung für Rußlands geistige Entwicklung zu kennzeichnen, genügt es, auf folgende Thatsache hinzuweisen, die von keinem Kenner der russischen Literatur während der letzten dreißig Jahre bestritten werden kann. Weder die russischen Sozialisten mit ihrer Unzahl von Fraktionen und Richtungen, noch die legale russische Kritik und Publizistik haben einen einzigen Schritt vorwärts gethan, seitdem Tschernischewsky’s literarische Thätigkeit aufgehört hatte. In seinen Schriften findet man alle die Ideen und Anschauungen, deren Verbreitung den Ruhm der vorgeschrittenen Schriftsteller der nachfolgenden Periode ausmachte. Diese Schriftsteller haben Tschernischewsky’s Ideen keineswegs verbessert, noch auch konnten sie dies thun, weil all die Mängel, welche Tschernischewsky’s Weltanschauung kennzeichneten, der ihrigen in noch weit höherem Grade anhafteten. Die schwache Seite der Tschernischewsky’schen Anschauungen war bedingt durch seine Unkenntniß der neuesten Richtung des philosophischen Gedankens in Europa, der Lehre von Marx und Engels. Haben aber etwa die literarischen Häupter in der nachfolgenden Periode diese Lehre gut begriffen? Sie begannen von der Unanwendbarkeit der westeuropäischen Theorien in Rußland, von der „subjektiven Methode“ in der Soziologie, von den Eigenthümlichkeiten der russischen ökonomischen Verhältnisse, von den Irrthümern des Westens zu sprechen, – kurz, sie wurden mehr oder weniger bewußte, mehr oder weniger eifrige Fürsprecher jener „volksthümlerischen“ Lehre, die Tschernischewsky sicherlich als ganz unverdauliche Mystik bezeichnet hätte. Nachdem sie aber einmal den Irrweg der „Volksthümelei“ betreten, konnte bei ihnen der Gedanke an eine ernstliche Kritik Tschernischewsky’s nicht einmal aufkommen. Im Gegentheil. Mit einem, einer besseren Sache würdigen Eifer vertheidigen sie oft gerade diejenigen seiner Ansichten, die fehlerhaft waren und seine Rückständigkeit gegenüber der europäischen Wissenschaft bekundeten. Ein merkwürdiges Schicksal haben geniale oder auch begabte Männer, welche einen fühlbaren Einfluß auf die geistige Entwicklung ihres Landes ausüben! Ihre Anhänger und Verehrer machen sich oft gerade ihre Fehler und Irrthümer zu eigen, die sie dann mit dem ganzen Enthusiasmus, den ein großer Name hervorruft, vertheidigen. An Beispielen einer derartigen, auf den ersten Blick sehr seltsamen Vorliebe der Schüler für die Irrthümer ihrer Meister ist die Geschichte der geistigen Entwicklung der Menschheit geradezu überreicht. Wonach griff z.B. der rechte Flügel der Hegel’schen Schule? Nach den Irrthümern und Inkonsequenzen des genialen Philosophen. Was kauten die sogenannten Positivisten mit besonderer Beharrlichkeit immer und immer wieder? Gerade die scholastische Seite von August Comte’s Lehre. (Mögen uns die Leser die wahrhaft ketzerische Zusammenstellung von Comte und Hegel verzeihen!) Wahrlich, die Obskuranten haben den menschlichen Geist verkannt, als sie ihm die Tendenz des ewigen Fortschritts und der ewigen Unzufriedenheit mit dem Bestehenden zuschrieben! In Wirklichkeit ist er der trägste unter allen Konservativen.

Doch kehren wir zu unserem Autor zurück. Da wir bereits den allgemeinen Charakter seiner Anschauungen kennen, wie auch die Vorzüge und Mängel der ihm eigenthümlichen Auffassung von „den erhabenen Ideen der Wahrheit, der Kunst, der Wissenschaft“, so können wir uns leicht von seiner literarischen Thätigkeit Rechenschaft geben.

Die erste praktische Frage, mit der Tschernischewsky sich zu befassen hatte, war die Frage der Bauern-Emanzipation. Anfänglich, als diese Frage von der Regierung Alexanders II. auf die Tagesordnung gesetzt wurde, glaubten die Fortschrittsfreunde in Rußland, es werde nicht schwer fallen, dieser Regierung zu zeigen, wie sehr ihre eigenen Interessen mit denen der zu befreienden Bauernschaft zusammenfielen. Manche glaubten sogar, die Regierung sei sich darüber selbst von vornherein klar. „Du hast gesiegt, Nazarener!“ schrieb Herzen an den jungen Zaren. Um dieselbe Zeit brachte er öffentlich einen Toast auf den Zaren-Befreier aus ... Eine Zeit lang scheint auch Tschernischewsky sich denselben Illusionen hingegeben zu haben. Wenigstens gab er sich viel Mühe, der Regierung klar zu machen, worin ihre wohlverstandenen Interessen lagen. Wie viel er über die Bauernfrage schrieb, sieht man daraus, daß die Aufsätze darüber einen sehr dicken Band der ausländischen Ausgabe seiner Werke ausfüllen. Selbstverständlich trat er für die Befreiung der Bauern mit Land ein und er behauptete, daß für die Regierung die Ablösung der den Bauern zuzuweisenden Grundstücke keine Schwierigkeiten darbieten könne. Diesen Gedanken suchte er sowohl durch theoretische Erwägungen, wie auch durch die eingehendsten Berechnungen zu beweisen. „Wie so kann die Ablösung des Grund und Bodens wirklich schwer fallen? Wie kann sie die Kräfte des Volkes überstiegen? Das ist unwahrscheinlich – schrieb er in seiner Abhandlung: „Ist die Ablösung des Grund und Bodens schwierig?“ – Das widerspricht den Grundbegriffen der Volkswirthschaft. Die politische Oekonomie sagt geradeaus, daß alle materiellen Kapitalien, die eine bestimmte Generation von den vorhergehenden geerbt hat, im Vergleich zur Werthmasse, welche durch die Arbeit dieser Generation erzeugt wird, keinen sehr bedeutenden Werth darstellen. Zum Beispiel, das ganze dem französischen Volk gehörende Land mit allen Bauten, sammt dem, was sich darin befindet, mit allen Schiffen und deren Ladungen, mit allem Vieh, allem Gelde und allen anderen Reichthümern, die diesem Lande gehören, machen kaum einen Werth von hundert Milliarden Franken aus; die Arbeit aber des französischen Volkes erzeugt jährlich einen Werth von fünfzehn oder mehr Milliarden Franken, d.h. das französische Volk erzeugt in nicht mehr als sieben Jahren eine Werthmasse, die dem Werth von ganz Frankreich – vom Kanal La Manche bis zu den Pyrenäen – gleichkommt. Hätten also die Franzosen von irgend jemand ganz Frankreich abzulösen, so könnten sie dies in einer Generation thun, wenn sie dafür blos den fünften Theil ihrer Einnahmen verwendeten. Und worum handelt es sich bei uns? Haben wir denn ganz Rußland mit allen seinen Reichthümern abzulösen? Nein, nur den Grund und Boden allein. Und etwa den ganzen Grund und Boden? Nein, nur die Grundstücke in denjenigen Gouvernements des europäischen Rußland, wo die Leibeigenschaft sich eingewurzelt hat“ u.s.f. [1] Nachdem er sodann gezeigt, daß die abzulösenden Grundstücke nicht mehr als den sechsten Theil der Fläche des europäischen Rußland ausmachen, bringt er nicht weniger als acht verschiedene Pläne von Grundablösungsoperationen in Vorschlag. [2] Er meint, die Regierung wäre im Stande, auf Grund eines dieser Pläne, die bäuerlichen Landantheile nicht nur ohne Belastung der Bauern, sondern auch mit großem Vortheil für die Staatskasse abzulösen. Die Grundidee aller seiner Pläne war „die Nothwendigkeit, bei der Festsetzung der Ablösungssumme diese möglichst niedrig zu bestimmen“. Jetzt kann man diese Aufsätze Tschernischewsky’s nicht ohne ein bitteres Lächeln lesen. Die Wirklichkeit hat den naiven Glauben der damaligen Fortschrittsfreunde in Rußland allzu grausam zu Schanden gemacht. Die Regierung ließ keinen Augenblick die Interessen des Fiskus außer Acht, an die Interessen der Bauern aber dachte sie gar nicht. Das wurde von Tschernischewsky bald erkannt. Schon im Jahre 1858 erschien seine Abhandlung Zur Kritik der philosophischen Vorurtheile gegen den ländlichen Gemeindebesitz mit dem vielsagenden Motto: „Wie weh, wie weh, wie weh!“ Gewöhnlich betrachtet man diese vorzügliche Abhandlung als die energischste und gelungenste Vertheidigung des ländlichen Gemeindebesitzes; wir wollen sie jedoch vom Standpunkte des Prinzips der Befreiung der Bauern mit Land selbst untersuchen. Sie beweist, daß Tschernischewsky schon 1858 alle Hoffnung auf eine günstige Lösung der Bauernfrage durch die Regierung verloren hatte. „Ich schäme mich vor mir selber,“ – heißt es im Anfang dieser Abhandlung – „ich schäme mich über meine unzeitige Zuversicht, mit der ich die Frage des Gemeineigenthums der Bauerngemeinden an Grund und Boden aufgeworfen habe. Dadurch wurde ich in meinen eigenen Augen thöricht, ja geradezu dumm ... Es ist schwer, den Grund meiner Beschämung zu erklären, aber ich will es versuchen, so gut es geht. So wichtig auch mir die Frage der Erhaltung des ländlichen Gemeindebesitzes erscheint, so bildet sie doch nur eine Seite des Ganzen, zu dem sie gehört. Dieses Prinzip, als die höhere Garantie des Wohlstandes der betreffenden Menschen, bekommt einen Sinn erst dann, wenn bereits andere, untergeordnetere Garantien gegeben sind, die jenem Prinzip erst Raum schaffen sollen. Als solche Garantien müssen zwei Bedingungen gelten. Erstens muß die Grundrente den Mitgliedern der Landgemeinde gehören. Das ist aber noch nicht genug. Man muß noch bedenken, daß die Grundrente nur dann wirklich ihren Namen verdient, wenn die Person, welche sie bezieht, durch keine Kreditverpflichtungen belastet ist, die aus dem Bezug der Rente selbst entspringen ... Wenn Jemand auch nicht so glücklich ist, eine, mit keinen Verpflichtungen belastete Rente zu beziehen, so wird wenigstens angenommen, daß der Betrag dieser Verpflichtungen im Verhältniß zur Höhe der Rente nicht sehr groß ist ... Nur unter der Voraussetzung dieser zweiten Bedingung kann man Jemandem, an dessen Wohlsein man Antheil nimmt, eine Rente wünschen.“ Diese Bedingung konnte aber bei der Bauernemanzipation nicht erfüllt werden , und daher hielt es auch Tschernischewsky für unnütz, nicht nur für den ländlichen Gemeindebesitz, sondern auch für die Vertheilung von Land an die Bauern einzutreten. [3] Im Roman Prolog zum Prolog behauptet Wolgin (Tschernischewsky) vollends, es wäre besser, die Bauern ohne Land zu befreien: das „würde weniger Verzögerungen, wahrscheinlich auch eine geringere Belastung der Bauern mit sich bringen. Wer von den Bauern Geld hat, der wird sich Land kaufen. Wer es nicht hat, der soll auch nicht verpflichtet sein, es zu kaufen. Dies würde sie ja nur ruiniren. Die Grundablösung ist ja doch auch nur ein Kauf. Die Wahrheit zu sagen, wäre es besser, die Bauern ohne Land zu befreien ... Die Frage ist so gestellt, daß ich keinen Grund sehe, mich auch nur darüber zu ereifern, ob die Bauern überhaupt befreit werden oder nicht; und um so weniger darüber, wer sie befreien wird, die Liberalen oder die Gutsherrn. Meines Erachtens ist dies ganz gleich. Oder die Gutsherrn sind sogar besser“. [4]

An einer anderen Stelle des Romans beleuchtet Tschernischewsky sein Ver-hältniß zu dem damaligen Stadium der Bauernfrage von einer anderen Seite: „Da spricht man: die Bauern muß man befreien. Wo sind die Kräfte, um solches auszuführen? Sie sind noch nicht vorhanden. Es ist Unsinn, etwas anzufangen, ohne dazu die nöthigen Kräfte zu besitzen. Sie sehen aber, alles führt dazu: man wird sie befreien. Was daraus folgen wird, werden sie wohl selbst begreifen: was kann überhaupt Gutes aus einer Sache werden, die man anfängt, ohne sie durchführen zu können? ... Die Sache wird nur verdorben, das Resultat ist ein abscheuliches. O, über unsere Herren Befreier, alle Eure Rjasanzew und Genossen! Das sind Aufschneider, Großmäuler, Dummköpfe!“ [5]

Diese Betrachtungen über die Vorzeitigkeit der Bauernbefreiung sind allerdings irrig. Die Leibeigenschaft war ein ungeheures Uebel, sie hemmte so sehr die Entwicklung sämmtlicher Seiten des sozialen Lebens im damaligen Rußland, daß ihre Aufhebung in keinem Falle und unter keinen Umständen verfrüht sein konnte. Um jedoch Tschernischewsky’s Auffassung von dieser Sache richtig zu verstehen, muß man bedenken, daß ihm die damaligen Ereignisse nicht in derselben Perspektive erscheinen konnten, in welcher sie uns jetzt erscheinen. Er scheint nämlich einige Hoffnungen auf die Bauernaufstände gesetzt und zugleich ein schnelles Wachsthum der vollständig auf Seiten der Bauern stehenden extremen Partei für möglich gehalten zu haben. Die Bauernbefreiung konnte ihm also nur in dem Sinne verfrüht erscheinen, daß sie die Bauernunruhen beschwichtigte, so daß der gordische Knoten der Herrengewalt nicht mehr durch das Beil der Bauern durchhauen werden konnte; und daß anderseits die extreme demokratische Partei noch nicht stark genug war, um auf die Regierung einen ernsten Druck ausüben zu können. Es mochte ihm nun scheinen, daß es nur einiger Jahre bedürfe, damit die Partei die dafür nöthige Stärke erreiche; und daher konnte er auch einen kurzen Aufschub der Emanzipation für nützlich halten, mit Rücksicht nämlich auf die Wichtigkeit der davon zu erwartenden Resultate. Daß er aber eine revolutionäre Bewegung im damaligen Rußland für durchaus möglich hielt, – darauf weisen ganz deutliche Anspielungen in seinen Artikeln hin.

Die russischen „Volksthümler“ idealisiren jetzt maßlos den russischen Bauer, und entdecken in ihm mit einer erstaunlichen Leichtigkeit alle die Eigenschaften und Bestrebungen, die sie in ihm sehen möchten. N.G. Tschernischewsky dagegen war von einer solchen falschen Idealisirung der Bauern sehr entfernt. Ueberhaupt erschien ihm das damalige Rußland in keinem besonders anziehenden Lichte. Mitunter versteigt er sich sogar zu den schärfsten absprechenden Urtheilen über seine Landsleute: „Elende Nation, elende Nation“ – ruft er aus – „eine Nation von Sklaven, von oben bis unten lauter Sklaven!“ – Selbst in seinen ruhigeren Momenten verließ ihn nie das Bewußtsein der ungeheuren Stumpfheit und Dumpfheit der russischen Bauernschaft. In dieser Hinsicht war er der direkte Erbe der Ansichten Bjelinsky’s, der kurz vor seinem Tode sich dahin äußerte, der Streit mit den Slavophilen habe ihm dazu verholfen, „den mystischen Glauben an das Volk von sich abzuschütteln.“ [6] Er spricht es kategorisch aus, daß die Bauern äußerst unentwickelt, oder (horribile dictu!) geradezu dumm sind. „Aber übereilt Euch nicht, daraus auf eine Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Erfüllung Eurer Hoffnungen schließen zu wollen, wenn Ihr die Verbesserung der Lage des Volkes herbeiwünscht“ – fügt er hinzu. – „Nehmt den alltäglichsten, ... den banalsten Menschen: so apatisch und kleinlich sein ganzes Leben auch sein mag, es weist doch Momente ganz anderer Art auf, Momente energischer Anstrengungen, kühner Entschlüsse. Dasselbe findet man auch in der Geschichte des Volkes.“

Auf einen solchen Moment kühner Entschlüsse, die zu einem allgemeinen Volksaufbruch führen konnten, setzte denn auch Tschernischewsky seine Hoffnungen. Dieser Augenblick schien ihm nicht mehr fern zu sein, und genau ebenso dachten fast alle die besten Männer jener Zeit. Auf dieser Zuversicht beruhten die am Anfang der sechziger Jahre entstandenen geheimen revolutionären Verbindungen. Diese Zuversicht wurde genährt theilweise durch die Bewegungen der befreiten Bauern, die auf eine „wahre Freiheit“ warteten, theilweise durch die Lage der Dinge im Westen. Die Ereignisse in Italien, der nordamerikanische Krieg, starke politische Gährungen in Oesterreich und in Preußen, – das alles konnte den Glauben erwecken, die seit 1849 herrschende Reaktion werde endlich durch eine neue Freiheitsbewegung besiegt werden. Und da durfte man hoffen, daß die Ereignisse in Europa auch Rußland fortreißen würden. Man glaubt doch so leicht an das, was man wünscht! Tschernischewsky und seine Gesinnungsgenossen sahen eben noch nicht ein, daß die politischen Bewegungen des Westens der inneren Entwicklung Rußlands nur dann einen heilsamen Anstoß geben können, wenn dessen innere, vor Allem dessen ökonomische Verhältnisse wenigstens bis zu einem gewissen Grade sich den Verhältnissen des Westens genähert haben. Heute besteht bereits diese Annäherung, und sie nimmt, man kann sagen, mit jeder Stunde zu. Aber am Anfang der sechziger Jahre war es noch bei weitem nicht so. Deshalb konnten die Freiheitsbewegungen des Westens damals eher den russischen Stillstand, als den russischen Fortschritt fördern.


Anmerkungen:

1. Siehe den zitirten Aufsatz im 5. Bande der ausländischen Ausgabe der Werke Tschernischewsky’s.

2. Er liebte es nicht weniger denn Owen, seine praktischen Vorschläge durch Ueberschläge und detaillirte Berechnungen zu stützen.

3. Vgl. Werke, 5. Band, S.472-478.

4. Prolog zum Prolog, S.199. – Dieser Roman wurde, wie es scheint, noch zur Zeit der Bauernreform geschrieben, erschien aber im Druck erst 1877 (in der Ausgabe der Redaktion des Wperjod zu London). In diesem Roman werden unter fingirten Namen die hervorragendsten politischen und literarischen Persönlichkeiten jener Zeit dargestellt.

5. A.a.O., S.110.

6. Siehe Pypin: Bjelinsky, sein Leben und sein Briefwechsel, 2. Band, S.321-325.


Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008