Georgi Plechanow


N.G. Tschernischewsky



XI

Wir wissen es, – die Verbreitung der erhabenen Ideen der Wahrheit, der Wissenschaft, der Kunst war das hauptsächlichste, man kann sogar sagen, das einzige Lebensziel unseres Verfassers. Diesem Ziele diente nun auch der Roman Was thun? Es wäre irrig, diesen Roman ausschließlich als eine Predigt vernünftiger Beziehungen zwischen Mann und Frau zu betrachten. Die Liebe Wjera Pawlowna’s zu Lopuchow und Kirsanow dient nur als Hintergrund für andere wichtigere Gedanken des Verfassers. Wir sprachen schon von den Genossenschaften, die Wjera Pawlowna einrichtete. Indem der Verfasser sie diese Thätigkeit ergreifen ließ, wollte er seinen Anhängern die praktischen Aufgaben der Sozialisten in Rußland andeuten. Und in Wjera Pawlowna’s „Traumgesichtern“ [1] malen sich seine sozialistischen Ideale mit hellen Farben aus. Das Bild eines sozialistischen Gemeinwesens wird von ihm ganz nach Fourier geschildert. Er bietet den Lesern nichts neues. Er macht sie nur mit den Resultaten bekannt, zu denen schon lange vor ihm der westeuropäische Gedanke gelangt war. Dabei muß wiederum bemerkt werden, daß Fourier’s Anschauungen schon in den vierziger Jahren in Rußland bekannt waren. Wegen Fourierismus wurden die „Petraschewsky“ vor Gericht gestellt und verurtheilt. Aber erst Tschernischewsky gab Fourier’s ideen eine in Rußland noch nie dagewesene Verbreitung. Er machte das große Publikum mit ihnen bekannt. Später zuckten selbst die Anhänger Tschernischewsky’s mit den Schultern, wenn auf Wjera Pawlowna’s Traumgesichter die Rede kam. Das Phalanstère, von welchem sie träumte, schien einigen später eine sehr naive Träumerei zu sein. Man meinte, der berühmte Schriftsteller hätte dem Leser etwas Naheliegenderes und Praktischeres bieten können. So raisonnirten selbst Leute, die sich Sozialisten nannten. Wir gestehen, daß wir die Sache ganz anders auffassen. In Wjera Pawlowna’s Traumgesichtern erblicken wir eine Seite der sozialistischen Ansichten Tschernischewsky’s, welche bis jetzt von den russischen Sozialisten leider noch nicht genügend beachtet worden ist. An diesen Träumen gefällt uns der von Tschernischewsky wohlerkannte Gedanke, daß die sozialistische Ordnung nur aufgebaut werden kann auf Grundlage der ausgedehntesten Anwendung der von der Bourgeoisperiode entwickelten technischen Kräfte in der Produktion. In diesen Träumen sind ungeheure Arbeiterarmeen zu genossenschaftlicher Produktion vereinigt und gehen von Mittelasien nach Rußland herüber, von Ländern mit heißem Klima in kalte Länder. Dies alles konnte man zwar auch aus Fourier erfahren, daß es aber das russische Publikum nicht wußte, ist sogar aus der weiteren Geschichte des sogenannten russischen Sozialismus ersichtlich. Die russischen Revolutionäre verstiegen sich nicht selten zu solchen Vorstellungen von der sozialistischen Gesellschaft, daß sie sich diese als eine Föderation von Bauernkommunen dachten, die ihre Felder noch immer mit dem vorsintfluthlichen Hakenpflug beackerten, mit dem sie im fünfzehnten Jahrhundert die Erde aufgestochert hatten.

Anderseits steht es aber fest, daß die von Tschernischewsky in seinem berühmten Roman dargelegte Ansicht über den praktischen Weg zur Verwirklichung der sozialistischen Ideen als eine selbst für jene Zeit rückständige bezeichnet werden muß. Es ist eine sehr merkwürdige historische Thatsache, daß die Propaganda von Produktivgenossenschaften gleichzeitig in Rußland und Deutschland betrieben wurde. Im Jahre 1863 erschien Tschernischewsky’s Roman. In demselben Jahre empfahl Lassalle den deutschen Arbeitern die Produktivgenossenschaften als das einzige Mittel, ihre Lage wenigstens einigermaßen zu heben. Aber welch’ ein Unterschied in der Stellung dieser Frage in Rußland und in Deutschland! In Tschernischewsky’s Roman befassen sich einzelne humane und gebildete Personen mit der Einrichtung von Genossenschaften: Wjera Pawlowna und ihre Freunde. Zu dieser Sache wird sogar ein „aufgeklärter“ Priester, Merzalow, hinzugezogen, der, wie er selbst von sich sagt, dabei die Rolle eines „Schildes“ (natürlich den argwöhnischen Behörden gegenüber!) zu spielen hat. Von der politischen Selbstthätigkeit der Arbeiterklasse wird im Roman mit keinem Worte gesprochen. Davon sprachen auch jene „Menschen der sechziger Jahre“ kein Wort, welche das von Tschernischewsky vorgeschlagene Programm zu verwirklichen suchten. Dagegen war das erste Wort der Lassalle’schen Agitation eben der Hinweis auf die Nothwendigkeit einer politischen Aktion von Seiten der Arbeiter. In Lassalle’s Vorschlag trägt die Gründung von Produktivgenossenschaften einen umfassenden allgemein-staatlichen Charakter, – während dies bei Tschernischewsky Sache von Privatpersonen bleibt. Lassalle würde Tschernischewsky für einen Anhänger von Schulze-Delitzsch gehalten haben. Der Unterschied in den praktischen Plänen beider Männer zeigt so recht, wie groß der Unterschied zwischen den inneren Verhältnissen Deutschlands und Rußlands war. – Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß Lassalle’s Pläne, wie auch noch älteren Pläne von Louis Blanc keine Utopie waren.

Im Roman Was thun? wird, gegen Tschernischewsky’s Gewohnheit, sehr viel von der Liebe gesprochen, welche die Menschheit erlösen soll. Darin macht sich deutlich Feuerbach’s Einfluß geltend.

Tschernischewsky erlebte das Aufkommen eines neuen Typus „neuer Menschen“ in Rußland – eines Revolutionärs. Er begrüßte mit Freuden das Auftreten eines solchen Typus und konnte sich nicht das Vergnügen versagen, dessen wenn auch unklares Profil zu zeichnen. Dabei sah er mit Wehmuth voraus, wie viel Mühsale und Leiden ein russischer Revolutionär zu erleben haben wird, wie sein Leben ein Leben voll rauher Kämpfe und schwerer Selbstaufopferung wird sein müssen. Und nun führt Tschernischewsky in demselben Roman Was thun?„ einen wahren Asketen vor, den Rachmetow. Dieser kasteit sich buchstäblich. Er ist vollkommen „ohne Erbarmen für sich“, wie sich seine Zimmerwirthin ausdrückt.

Er entschließt sich sogar, zu versuchen, ob er die Tortur würde ertragen können, und liegt zu diesem Zweck die ganze Nacht auf einer mit Nägeln bespickten Decke. Viele sahen darin nichts als eine Sonderlichkeit. Wir geben nun zwar zu, daß einige Einzelheiten in Rachmetow’s Charakter anders geschildert werden konnten. Aber der Charakter als Ganzes ist doch der Wirklichkeit vollkommen getreu. In jedem hervorragenden russischen Revolutionär steckte ein großes Stück „Rachmetowschtschina“ („Rachmetowismus“).

Jetzt hat der Revolutionär aus der „Intelligenz“ seine Rolle so gut wie ausgespielt. Er ist nicht mehr originell, nicht mehr neu, er hat sich verflacht. Ihn werden und müssen Revolutionäre aus der Arbeiterklasse ablösen, diese wahren „Kinder des Volkes“. Doch hatte jener Revolutionär seine eigene ruhmvolle Ge-schichte, und daher kann man sich nicht genug über Tschernischewsky’s Feingefühl wundern, der es verstanden hat, wenigstens die Hauptzüge des damals erst entstehenden Typus so gut zu erfassen und so richtig zu schildern.


Anmerkung

1. Er wird diese Form wohl mit Rücksicht auf die Zensur gewählt haben. Daher werden denn auch der Wjera Pawlowna gar viele Traumgesichter zu Theil.


Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008