Georgi Plechanow


Über materialistische Geschichtsauffassung



I

 

(Essais sur la conception matérialiste de l’histoire par Antonio Labriola, professeur à l’université de Rome, avec une préface de G. Sorel. Paris 1897.)

Wir gestehen, daß wir dieses Buch des römischen Professors mit nicht geringem Vorurteil in die Hand genommen haben: wir waren durch gewisse Werke seiner Landsleute, so z.B. durch A. Loria (siehe besonders seine Schrift La teoria economica della costituzione politica) abgeschreckt worden. Aber gleich die ersten Seiten des Buches überzeugten unsdavon, daß wir im Unrecht waren, und daß Antonio Labriola etwas ganz anderes ist als Achile Loria. Am Schluß der Lektüre angelangt, verspürten wir Lust, uns über das Buch mit dem russischen Leser zu unterhalten. Hoffentlich nimmt er uns das nicht übel. Sind ja

So selten Bücher mit Gehalt!

Labriolas Werk erschien zuerst italienisch. Die französische Übersetzung ist steif, stellenweise geradezu mißlungen. Wir sagen das mit aller Bestimmtheit, obwohl wir das italienische Original nicht bei der Hand haben. Der italienische Verfasser darf jedoch für den französischen Übersetzer nicht verantwortlich gemacht werden. Jedenfalls sind Labriolas Gedankengänge auch in der schwerfälligen französischen Übersetzung verständlich. Wir wollen nun sehen, welcher Art diese Gedanken sind.

Herr Karejew, der bekanntlich ein recht eifriger Leser ist und sehr treffend jedes „Werk“ zu entstellen weiß, das auch nur irgendwie auf die materialistische Auffassung der Geschichte Bezug hat, wird sicherlich unseren Verfasser in das Ressort des „ökonomischen Materialismus“ eintragen. Das wäre falsch. Labriola vertritt fest und ziemlich konsequent die materialistische Geschichtsauffassung; für einen „ökonomischen Materialisten“ hält er sich jedoch nicht. Er ist der Meinung, daß diese Bezeichnung eher auf Autoren wie den bekannten T. Rodgers paßt als auf ihn und seine Gesinnungsgenossen. Und das trifft auch im höchsten Grade zu, obwohl es auf den ersten Blick nicht ganz einleuchtet.

Man frage einen beliebigen Volkstümler oder Subjektivisten, was denn ein ökonomischer Materialist sei. Er wird antworten: das ist ein Mensch, der dem ökonomischen Faktor eine dominierende Bedeutung im gesellschaftlichen Leben beimißt. So fassen den ökonomischen Materialismus unsere Volkstümler und Subjektivisten auf. Und es muß zugegeben werden, daß es zweifellos Leute gibt, die dem ökonomischen „Faktor“ eine dominierende Rolle im Leben der menschlichen Gesellschaften einräumen. Herr Michailowski wies mehr als einmal auf Louis Blanc hin, der von der Herrschaft. des oben erwähnten Faktors viel früher sprach als der bekannte Lehrmeister [1*] der bekannten russischen Schüler. Wir verstehen das eine nicht: warum hat sich unser prominenter subjektiver Sozologe denn Louis Blanc ausgesucht? Er hätte doch wissen sollen, daß Louis Blanc in der uns interessierenden Frage viele Vorläufer hatte. Sowohl Guizot als Mignet, Augustin Thierry und Tocqueville haben die überwiegende Rolle des „ökonomischen“ Faktors wenigstens für die Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit anerkannt. Demnach wären also alle diese Historiker ökonomische Materialisten. In unseren Tagen hat sich der erwähnte T. Rodgers in seinem Buch The economic interpretation of history ebenfalls als überzeugter ökonomischer Materialist gezeigt; er hat ebenfalls die vorwiegende Bedeutung des ökonomischen „Faktors“ anerkannt. Daraus folgt natürlich noch nicht, daß die sozialpolitischen Auffassungen T. Rodgers mit denen z.B. Louis Blancs identisch sind. Rodgers vertrat den Standpunkt der bürgerlichen Ökonomie, Louis Blanc aber war einst einer der Vertreter des utopischen Sozialismus. Hätte man Rodgers gefragt, welche Auffassung er von der bürgerlichen Wirtschaftsordnung habe, so hätte er zur Antwort gegeben, daß dieser Ordnung die Grundeigenschaften der menschlichen Natur zugrundeliegen und daß die Entstehungsgeschichte dieser Ordnung darum die allmähliche Beseitigung. der Hindernisse sei, die einstmals die Äußerung der genannten Eigenschaften erschwert oder gar unmöglich gemacht haben. Louis Blanc hätte hingegen erklärt, daß der Kapitalismus selbst eines der durch Unwissenheit und Gewalt aufgerichteten Hindernisse auf dem. Wege zur Schaffung derjenigen ökonomischen Ordnung sei, die endlich der menschlichen Natur tatsächlich entsprechen wird. Das ist, wie man sieht, eine sehr wesentliche Meinungsverschiedenheit. Wer ist der Wahrheit näher gekommen? Wir sind, offen gesagt. der Meinung, daß diese beiden Verfasser von der Wahrheit fast gleich weit entfernt sind, doch wollen und können wir hier: bei dieser Frage nicht verweilen. Für uns ist jetzt etwas anderes von Belang. Wir bitten den Leser, davon Notiz zu nehmen, daß sowohl für Louis Blanc als auch für Rodgers der im gesellschaftlichen Leben vorherrschende ökonomische Faktor selbst eine, um mit der Mathematik zu sprechen, Funktion der menschlichen Natur, und hauptsächlich des menschlichen Verstandes und der menschlichen Kenntnisse war. Dasselbe müßte auch von den von uns oben erwähnten französischen Geschichtsschreibern aus der Zeit der Restauration gesagt werden. Nun, wie soll man dann die historischen Auffassungen der Leute bezeichnen, die zwar behaupten, daß der ökonomische Faktor im gesellschaftlichen Leben dominiere, die aber zu gleicher Zeit davon überzeugt sind, daß dieser Faktor – d. h. die Ökonomie der Gesellschaftseinerseits eine Frucht der menschlichen Kenntnisse und Begriffe sei? Derartige Anschauungen kann man nicht anders als idealistisch bezeichnen. Der ökonomische Materialismus schließt demnach den historischen Idealismus noch nicht aus. Aber auch das ist noch nicht ganz exakt. Wir sagen: er schließt den Idealismus noch nicht aus, man müßte aber sagen: er kann eine einfache Abart des historischen Idealismus sein und bisher war er es auch meistens. Nach alledem wird begreiflich, warum Leute wie Antonio Labriola sich nicht für ökonomische Materialisten halten: eben deshalb, weil sie konsequente Materialisten sind, und eben deshalb, weil, historisch gesehen, ihre Auffassungen den direkten Gegensatz zu dem historischen Idealismus darstellen.


Anmerkung des Übersetzers

1*. Unter dem „bekannten Lehrmeister“ ist Karl Marx, unter „Schüler“ sind Marxisten zu verstehen.


Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008