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Der Fall Bernstein ist ungemein lehrreich für jedermann, der darüber nachdenken will, – und nur in diesem Sinne will ich mit Ihnen sagen, hochverehrter und lieber Genosse, daß Bernstein unseren Dank verdient. Die Geschichte seiner Umwandlung aus einem Sozialdemokraten in einen „Sozialpolitiker“ wird stets die ganze Aufmerksamkeit aller denkenden Köpfe in unserer Partei in Anspruch nehmen dürfen. Genosse Liebknecht erklärte diesen Übergang durch den Einfluß der englischen Zustände. „Ein Geist wie Marx“, sagte er, „mußte ... England sein, um dort ... sein Kapital zu schreiben; Bernstein aber läßt sich imponieren von der kolossalen... Entwickelung der englischen Bourgeoisie.“ [1] Aber ist es denn wirklich nötig, ein Marx zu sein, um in England zu leben, ohne dem Einfluß der englischen Bourgeoisie zu verfallen? In der deutschen Sozialdemokratie kann man, glaube ich, nicht wenige Genossen finden, die, trotzdem sie in England lebten, dem Sozialismus („im Sinne von Marx und Engels“) doch treu geblieben sind. Nein, die Ursache liegt nicht darin, daß Bernstein in England lebt, sondern in dem Umstande, daß er mit demselben wissenschaftlichen Sozialismus schlecht vertraut ist, den er wissenschaftlich zu betätigen“ unternommen hat. Ich weiß, vielen wird das unglaublich erscheinen, und doch ist dem so.
In meinem Artikel Bernstein und der Materialismus in der Neuen Zeit habe ich gezeigt, wie erstaunlich gering die philosophischen Kenntnisse dieses Mannes und wie verkehrt seine Vorstellungen von dem Materialismus im allgemeinen sind. In einem Artikel, den ich jetzt für die Neue Zeit schreibe, werde ich zeigen, wie schlecht er sich die materialistische Geschichtsauffassung angeeignet hat. [2] Und jetzt bitte ich Sie, zu beachten, wie erstaunlich wenig er selbst von der Zusammenbruchstheorie, gegen die er kritisch“ zu Felde zog, verstanden hat.
Folgendermaßen schildert er uns „die zur Zeit in der Sozialdemokratie vorherrschende Auffassung vom Entwicklungsgang der modernen Gesellschaft“.
„Nach dieser Auffassung wird früher oder später eine Geschäftskrisis von gewaltiger Stärke und Ausdehnung, durch das Elend, das sie erzeugt, die Gemüter so leidenschaftlich gegen das kapitalistische Wirtschaftssystem entflammen, die Volksmassen so eindringlich von der Unmöglichkeit überzeugen, unter der Herrschaft dieses Systems die gegebenen Produktivkräfte zum Wohle der Gesamtheit zu leiten, daß die gegen dieses System gerichtete Bewegung unwiderstehliche Kraft annimmt, und unter ihrem Andrängen dieses selbst rettungslos zusammenbricht. Mit anderen Worten, die unvermeidliche große wirtschaftliche Krisis wird sich zu einer allumfassenden gesellschaftlichen Krisis ausweiten, deren Ergebnis die politische Herrschaft des Proletariats als der dann einzig zielbewußt revolutionären Klasse und eine unter der Herrschaft dieser Klasse sich vollziehende völlige Umgestaltung der Gesellschaft im sozialistischen Sinne sein wird.“ [3]
Sagen Sie, hochverehrter und lieber Genosse, ist das die Art und Weise, in der Sie sich die soziale „Katastrophe“ denken, die früher oder später als unvermeidliches Ergebnis des Klassenkampfes sich einstellen muß? Sind auch Sie der Meinung, daß eine solche „Katastrophe“ nur das Resultat einer gewaltigen und dabei allgemeinen Geschäftskrisis sein könne? Ich glaube kaum. Ich glaube, daß für Sie der kommende Sieg des Proletariats nicht notwendig an eine akute und allgemeine Geschäftskrisis gebunden ist. Sie haben die Sache nie so schematisch dargestellt. Und, soweit ich mich erinnere, hat auch kein anderer sie in dieser Weise aufgefaßt. Zwar ist der revolutionären Bewegung von 1848 die Krisis von 1847 vorausgegangen. Daraus folgt aber durchaus nicht, daß ohne eine Krisis die „Katastrophe“ undenkbar sei.
Auch das ist richtig, daß zur Zeit eines starken industriellen Aufschwungs auf eine äußerste Zuspitzung des Klassenkampfes schwer zu rechnen ist. Wer bürgt uns aber für einen ununterbrochenen industriellen Aufschwung in der Zukunft? Bernstein glaubt, daß angesichts der modernen internationalen Verkehrsmittel akute und allgemeine Krisen unmöglich geworden seien. Zugegeben, es sei dem so, und die Geschäftsstockung würde, was schon 1865 der französische Ökonomist Batbie gesagt hatte, nur eine teilweise sein – „l’engorgement des produits ne sera que partiel“. Aber niemand stellt doch die Möglichkeit einer Wiederholung jener gewaltigen „trade depression“ – industriellen Depression – in Abrede, die wir soeben durchgemacht haben. Beweisen denn solche Depressionen nicht in anschaulicher und schlagendster Weise, daß die Produktivkräfte der modernen Gesellschaft ihren Produktionsverhältnissen über den Kopf gewachsen sind? Und ist es der Arbeiterklasse wirklich so schwer, den Sinn dieser Tatsache zu erfassen? Daß Perioden der industriellen Depression, indem sie Arbeitslosigkeit, Not und Entbehrungen erzeugen, geeignet sind, den Klassenkampf ungemein zu verschärfen, zeigt uns Amerika sehr deutlich.
Allen diesen Erwägungen geht Bernstein aus dem Wege. Alle unsere Erwartungen von der Zukunft macht er von einer akuten und allgemeinen Geschäftskrisis abhängig, und nachdem er gesagt hat, daß solche Krisen in der Zukunft kaum zu gewärtigen wären, bildet er sich ein, auch die ganze „Zusammenbruchstheorie“ vernichtet zu haben. Er oktroyiert uns seine Schablonen und beweist sodann, daß diese Schablonen vollständig schablonenhaft sind. Und dann freut er sich gewaltig über diese billigen Triumphe. Man sieht es an dem Tone, in dem er die „Dogmatiker“ belehrt.
Sie werden sich wohl erinnern, hochverehrter und lieber Genosse, wie viele auf dem Stuttgarter Parteitag den Ton getadelt haben, in dem Parvus gegen Bernstein polemisiert hatte. Ich glaube, wenn Parvus in einem anderen Tone Polemisiert hätte, so hätte Bernstein keinen Vorwand gehabt, sich in Schweigen zu hüllen. Dann hätte auch alle Welt die frappante Gedankenarmut Bernsteins klar sehen können. Deshalb bedauere auch ich, daß Parvus sich nicht gemäßigt hat. Aber ich begreife auch vollständig seinen Zorn. Nach meinem Dafürhalten wurde er auch durch die Umstände vollständig gerechtfertigt. Außerdem hat niemand von denen, die Parvus getadelt haben, den unangenehmen Ton Bernsteins selbst beachtet. Das war der Ton eines selbstsicheren, selbstgefälligen Pedantismus. Als ich die Belehrungen las, welche Bernstein an die „Dogmatiker“ der deutschen und zum Teil auch der englischen Sozialdemokratie richtete, da sagte ich mir: Wäre Sancho Pansa nicht zum Gouverneur, sondern zum Professor der Sozialwissenschaften ernannt, und wäre sein angeborener gesunder Verstand einer plötzlichen Anwandlung von Dünkel erlegen, so würde er keinen anderen als eben den Bernsteinschen Ton anschlagen. Ich weiß: de gustibus non est disputandum – die Geschmäcker sind verschieden –, aber ich glaube, daß vielen diese Tonart weit antipathischer ist, als der heftige leidenschaftliche Ton.
Sie geben selbst zu, hochverehrter und lieber Genosse, daß Sie von der Inhaltslosigkeit jener Artikelserie überrascht waren, der Bernstein den vielverheißenden Titel gab: Die Probleme des Sozialismus. Und doch sagen Sie, daß diese inhaltsleeren Artikel uns zum Nachdenken veranlaßt hätten. Sie sind für Bernstein voreingenommen, und deshalb sind Sie jetzt ungerecht.
Sie sagten in Stuttgart: „Man hat Bernstein vorgeworfen, daß seine Artikel unsere Siegeszuversicht verringern, dem kämpfenden Proletariat in die Arme fallen. Dieser Ansicht bin ich nicht ... Wenn die Artikel von Bernstein wirklich den einen oder den anderen in seiner ... Überzeugung wankend gemacht haben [sollten], dann wäre es nur ein Beweis, daß es um solche Leute nicht sehr schade ist, daß ihre Überzeugung nicht sehr tief gewurzelt hatte und daß sie die erste Gelegenheit benutzten, um uns den Rücken zu kehren, und dann können wir froh sein, daß es jetzt schon geschieht, statt bei der Katastrophe, wo wir jeden Mann brauchen.“ [4]
Wen konnten denn die Artikel von Bernstein entmutigen? Doch offenbar nur den, der sich, wenn auch nur zeitweise, auf den neuen Standpunkt Bernsteins gestellt hatte. Der Übergang zu diesem Standpunkt mußte jeden logisch denkenden Menschen notwendig zum völligen Bruch mit dem alten sozialdemokratischen Programm führen. Eine derartige Frontänderung kann aber von niemandem ungestraft gemacht werden, sie muß unvermeidlich, wenn auch nur vorübergehend, seine Energie schwächen, zudem hat die Energie derer, die Bernsteins Standpunkt eingenommen, sehr wenig mit derjenigen gemein, die der ihres Sieges sicheren sozialdemokratischen Partei eigen ist. Unumgänglich müssen jene den Kampf anders auffassen als wir, und folglich muß auch ihre Siegeszuversicht sich von der unserigen wesentlich unterscheiden. Deshalb kann man nicht umhin, zu sagen, daß die für unsere Partei notwendige Energie in direktem Verhältnis zu der Zahl derjenigen geschwächt wurde, die auch nur vorübergehend Bernstein zugestimmt haben. Gleich Ihnen glaube ich auch, daß die internationale Sozialdemokratie keinen Grund hat, auf die Gefolgschaft solcher Leute solchen Wert zu legen, daß sie vielmehr allen Grund hat, zu wünschen, daß sie ihre Reihen verlassen, bevor die Zeit der ernsten Prüfungen für sie herangebrochen ist. Nach meiner Meinung ist Ihre strenge Beurteilung solcher Leute vollständig berechtigt. Es, will mir aber scheinen, daß Sie nicht konsequent sind, daß, wenn Sie sich entschließen wollten, konsequent zu sein, Sie noch strenger den Mann, dessen Einflusse diese Leute verfallen sind – d.i. Eduard Bernstein selbst – beurteilen müßten.
Es liegt mir durchaus fern, mich in die inneren Angelegenheiten der deutschen Sozialdemokratie einzumischen und zu entscheiden, ob Sie die Artikel Bernsteins in der Neuen Zeit hätten aufnehmen sollen oder nicht. Nichts liegt mir ferner als eine derartige Anmaßung. Aber Sie wissen selbst, hochverehrter und lieber Genosse, daß in Stuttgart Fragen zur Debatte standen, die für die Sozialdemokratie der ganzen Welt von enormer Tragweite sind. Und nur deshalb entschloß ich mich, an Sie diesen Brief zu richten. Sie sagen, daß die Polemik mit Bernstein eigentlich jetzt erst beginne. Ich bin damit nicht ganz einverstanden, denn die Fragen, die von Bernstein aufgeworfen wurden, sind in bedeutendem Maße durch die Parvusschen Artikel ihrer Lösung näher gebracht worden, mit welchen Artikeln sich Parvus um das Proletariat aller Länder sehr verdient gemacht hat. Aber nicht darum handelt es sich jetzt. Die Hauptsache ist, daß, indem wir die Polemik mit Bernstein wieder aufnehmen, wir der von mir erwähnten Worte Liebknechts eingedenk sein müssen: hätte Bernstein Recht, dann könnten wir unser Programm und unsere ganze Vergangenheit begraben lassen. Wir müssen daran festhalten und unseren Lesern offen erklären, daß es sich nunmehr darum handelt: wer soll von wem: die Sozialdemokratie von Bernstein oder Bernstein von der Sozialdemokratie begraben werden? Ich persönlich zweifle und zweifelte nie über den Ausgang dieses Streites. Aber gestatten Sie mir, hochverehrter und lieber Genosse, zum Schlusse meines Briefes noch einmal die Frage an Sie zu richten: Sind wir wirklich einem Manne zu Dank verpflichtet, der der sozialistischen Theorie Faustschläge ins Gesicht versetzt und der – bewußt oder unbewußt, was gleichgültig ist – bestrebt ist, diese Theorie zum Gaudium der vereinigten „reaktionären Masse“ zu begraben? Nein, nein und tausendmal nein! Nicht unseren Dank verdient ein solcher Mann!
Ihr aufrichtig ergebener
1. Rede Wilhelm Liebknechts auf dem Stuttgarter Parteitag, in: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Stuttgart vom 3.-8. Oktober 1898, S.134.
2. Georg Plechanow meint seinen Artikel Cant wider Kant.
3. Eduard Bernstein: Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft, in: Die Neue Zeit, XVI. Jahrgang, 1897/1898, Bd. 1, Nr. 18, S.549.
4. Rede Karl Kautskys auf dem Stuttgarter Parteitag, in: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Stuttgart vom 3.-8. Oktober 1898, S.130. In einem der Artikelentwürfe spricht sich Georgi Plechanow noch bestimmter für den Ausschluß Eduard Bernsteins aus der Partei aus. „Die unbestechliche Logik müßte Sie zwingen, sich so auszudrücken Wir werden froh sein, wenn uns die Menschen, die dem Einfluß Bernsteins erlegen sind, vor der Katastrophe den Rücken kehren. Natürlich würden wir uns noch mehr freuen, wenn uns Bernstein selbst verließe.“
Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008