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Aus der Bremer Bürger-Zeitung, Nr. 190, 16. August 1911, gezeichnet K. R.
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Trotz aller Schattierungen, die in der Behandlung der Marokkofrage durch die Parteipresse bemerkbar sind, herrscht in der Partei eine ungefähre Einigkeit über die Losungen, unter welchen die Marokkoaktion der deutschen Sozialdemokratie geführt werden soll. Gegen die Kriegsgefahr, gegen die kolonialen Entschädigungen, gegen den Absolutismus in der auswärtigen Politik, diese drei Losungen, die auch der Aufruf des Parteivorstandes erhebt, geben die Line an, in welcher sich unsere Protestaktion bewegen soll. Jetzt veröffentlicht Genosse Bernstein an leitender Stelle des Vorwärts zwei Leitartikel Über die auswärtige Politik des deutschen Reiches und die Sozialdemokratie, in denn er sich für diese Losungen ausspricht, aber sie als ergänzungsbedürftig „in einem wichtigen Punkte“ erklärt. „Es ist recht und gut zu sagen: wir wollen keinen Krieg: die Sozialdemokratie ist aber ein viel zu bedeutender Faktor im politischen Leben der fortgeschrittenen Nationen, als dass sie sich in diesen Dingen auf die bloße Negation beschränken dürfte. Sie muss der Politik, die sie verwirft, das Programm einer Politik entgegensetzen, wie sie nach ihren Begriffen und Bedürfnissen der beteiligten Völker am meisten gerecht wird. Den Frieden schlechthin wird unter Umständen der erste beste Strauchdieb gutheißen der einen Raub vollzogen hat und sich ungestört dem Genuss seiner Beute hinzugeben wünscht. Es gibt verschiedene Arten von Frieden und wenn die Sozialdemokratie Frieden sagt, so muss sie auch hinzufügen, wie nach ihren Grundsätzen der postulierte (!) Friede beschaffen sein soll.“ Also sprach Bernstein.
Das Lied von dem schlechten Hang zur Verneinung hören wir so oft unter der Adresse der Sozialdemokratie von der liberalen Presse angestimmt, dass wir sehr darauf erpicht sind, zu erfahren, welche positive Lösung der Marokkofrage, als zu erhebende Losung der Sozialdemokratie, Gen[osse] Bernstein finden wird. Und siehe da, wie leicht Erfindungen gemacht werden! Es genügt, sich nur zu bücken, und man findet sie auf der Straße. Sie ist zwar arg zugerichtet, von Reiterstiefeln zerrissen, mit dem Kot der kolonialen Barbarei beschmutzt, aber sie ist da. Die Leser werden wohl nicht erraten können, worin sie besteht, nun denn: „mit gutem Gewissen kann die deutsche Arbeiterschaft in den Protestversammlungen, zu denen der Parteivorstand der Sozialdemokratie sie aufruft, Festhalten an den Grundbestimmungen der Algeciras-Akte verlangen“, das ist die Bernsteinsche Ergänzung.
Bisher kursierte in den Kreisen der Vulgärsozialdemokratie die Auffassung, unser Minimalprogramm enthalte größtenteils Forderungen, die die bürgerliche Demokratie fallen gelassen hat. Wie oberflächlich diese Auffassung auch war, weil sie über die formelle Identität unserer Forderungen und der der alten bürgerlichen Demokratie die Grundverschiedenheit übersah, die sich aus der Begründung dieser Forderungen in den Interessen der Arbeiterklasse und ihren sozialen Anschauungen ergab, sie reklamierte schließlich für die Sozialdemokratie das Erbe der ehrlichen Demokraten. Das es aber einem Sozialdemokraten – sei er auch Revisionist – einfallen könnte, eine zerrissene diplomatische Akte zur Kampfesparole der Sozialdemokratie zu erheben, eine Akte, die bei ihrem Entstehen schon ein Produkt der Verlegenheit war, die ihrem Inhalte nach nicht gehalten werden konnte, die aufgefrischt die Marokkokrise nur verschleppen kann, das ist mehr als merkwürdig.
Denn sehen wir zu, wie die Lösung der Marokkofrage durch die Algeciras-Akte aussieht, die nach Bernsteins Auffassung „prinzipiell“ den Interessen aller Nationen gerecht zu werden sucht. Erstens tritt sie die Interessen der Marokkovölker mit Füßen, indem sie diese der Ausbeutung des ausländischen Kapitals ausliefert, die Einmischung der Kolonialstaaten in die marokkanische Angelegenheit von „Rechts wegen“ ermöglicht. Zweitens liefert sie das französische und spanische Volk seinen Kolonialpatrioten aus, indem sie durch die Verleihung von Polizeirechten an Frankreich und Spanien in Marokko dese Länder immer mehr in die marokkanischen Wirren hineinzieht. Aber ungeachtet dessen. Diese gerechte Akte war nichts anderes als der Anfang derselben marokkanischen Politik Frankreichs und Spaniens, die Bernstein mit der ihn charakterisierenden Energie der Entrüstung brandmarkt. Kein einziger Teilnehmer der Algeciras-Konferenz täuschte sich darüber, dass, wenn Frankreich als marokkopolitisch interessierter Staat anerkannt wird – und das ist der Inhalt des breiten Geredes eines Teils der Akte – dann wird es auch Schritt für Schritt sich in Marokko festsetzen. Was das aber handelspolitisch bedeutet, das war klar auf Grund der ganzen Geschichte der französischen Kolonialpolitik und konnte noch vor der Algeciras-Konferenz von Max Schippel in den Sozialistischen Monatsheften (September 1905) in einem Artikel über die französische Handelspolitik in den Kolonien vorausgesehen werden: Frankreich, das bei dem Stand seiner Industrie nicht besonders konkurrenzfähig ist, erstrebt die Abschließung seiner Kolonien; wo es aber noch nicht festen Fuß gefasst hat, versucht es das selbe auf Umwegen zu erreichen. [A] In Marokko, wo der Sultan mit jedem Tag mehr eine Puppe der Franzosen wird, hat Frankreich durch Beeinflussung seiner Beamten, durch Missbrauch seiner Polizeigewalt versucht – und das mit Erfolg – seinen wirtschaftlichen Konkurrenten ein Schnippchen zu schlagen. Alle Bestimmungen der Algeciras-Akte, die den Kapitalisten aller Länder freien Raum für wirtschaftliche Betätigung verbürgen, konnten diese Tendenz der französischen Politik nur mildern; sie unwirksam zu machen, waren sie nicht im Stande. Und wie würde es in der Zukunft sein? Frankreich wird ganz gewiss alle geforderten Versprechungen machen, wird es aber danach handeln? Wo existiert die Möglichkeit, die wirtschaftliche Freiheit aller Staaten bei politischer Überlegenheit eines von ihnen zu erreichen? Wenn die deutsche Diplomatie angab, sie habe dies in ihrem Abkommen vom 9. Februar 1909 erreicht, so tat sie das, um den Kapitalisten, die der Regierung früher zur Betätigung in Marokko anlockte, Sand in die Augen zu streuen. Wen sie jetzt wieder die Forderung nach Garantien der Freiheit wirtschaftlicher Betätigung erhebt, so tut sie das in derselben Absicht. Aber Bernstein geht es nicht nur um die formelle Anerkennung der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit. Ihm geht es um die Wiederherstellung der ganzen Algeciras-Akte, mit ihrer Anerkennung der Unabhängigkeit Marokkos, der Souveränität des Sultans. Und diese Lösung proklamiert er nicht als Demonstrationslosung des Proletariats – denn das hätte keinen Sinn – sondern als Aktionslosung der deutschen Diplomatie, die auf dem Wege des Schiedsgerichtsverfahrens erreicht werden soll Das ist eben das politische Programm Bernsteins, seine Ergänzung.
Er bemerkt dabei nur eine Kleinigkeit nicht, nämlich dass dies eventuell den deutsch-französischen Krieg und mindestens eine sehr starke Verschärfung der deutsch-französischen Beziehungen bewirken würde. Ich unterschreibe das Urteil das Paul Rohrbach vor drei Monaten in der „Hilfe“ (Nr. 20) in folgenden Worten ausgesprochen hat:
“Bestehen wir auf dem Schein von Algeciras und lassen die Franzosen wissen, dass sie zu wählen haben zwischen Verzicht auf Marokko und Krieg mit Deutschland, so kann es als wahrscheinlich gelten, dass sie auch jetzt wieder nachgeben. Aber welche Rückwirkung wird dieser Zwang auf sie haben? Als Delcassé von der Algeciras-Konferenz den Konflikt mit Deutschland auf sich nehmen wollte, da erschrak ganz Frankreich und war froh, als die Kriegsgefahr vorbeiging. Damals hatten aber die Franzosen in Marokko kaum noch Fuß gefasst; die marokkanische Politik wurde erst von eine engeren Kreise vorwärts drängender Interessenten gemacht. Jetzt fängt sie an, französische Nationalsache zu werden. Französische Truppen haben große Teile von Marokko besetzt; französisches Blut ist dort geflossen, und jedermann in Frankreich verfolgt mit Eifer die Vorgänge. Vielleicht tun es die Massen noch nicht ganz, aber diejenigen Kreise, die Frankreichs öffentliche Meinung machen, haben das Ziel, um das es sich handelt, begriffen. Wenn Deutschland gegen Frankreich jetzt so handelt, wie England bei Faschoda tat, und sich mit gepanzerter Faust vor das Ziel der Franzosen stellt, so wird die Wirkung in Frankreich eine noch viel tiefere sein, als damals gegenüber England. Was wusste die Mehrheit der Franzosen am 11. Dezember 1898 von Faschoda, von der Geographie von Innerafrika und von der Verbindung zwischen dem Tschadsee und dem Roten Meer? [1] Marokko aber ist die unmittelbare Fortsetzung von Algier und liegt vor den Toren Frankreichs.“
Bernstein bemerkt nicht, dass er, der Friedensfreund, auf diese Weise unsere sozialistische Friedensaktion in eine Kriegsaktion verwandelt; er glaubt sie nur zu ergänzen. Das Missgeschick, das ihm passiert, ist schon bei anderen Friedensaposteln vorgekommen, nur dass sie sich davon Rechnung gaben: so z. B. äußerste mehrmals Herr Stead, der englische Peacemaker, den Wunsch, das kriegerische Deutschland sollte doch genötigt werden, friedlich zu werden. Wie wir sehen, so ist die letzte „Ergänzung“ Bernsteins von demselben Kaliber, wie seine anderen, sie verwandelt den Standpunkt der Sozialdemokratie in sein Gegenteil. Und das ist die natürliche Konsequenz der Anschauung, die Bernstein von der Rolle der sozialdemokratischen Aktion zu Fragen der auswärtigen Politik hat. Er will nicht mehr eine Mobilisation des Proletariats gegen die Kriegsgefahr, nicht eine Aufrüttelungsaktion mit dem Ziele der geistigen Vorbereitung des Proletariats zur Erfüllung seiner historischen Rolle während oder nach dem Kriege im Sinne der Stuttgarter Resolution [2]; denn obwohl er diese Ziele auch die seinigen nennt, verfälscht er die Aktion, indem er ihr noch ein ganz fremdes Ziel aufzuoktroyieren sucht: die Gewinnung der Regierung für einen von ihm ausgeheckten diplomatischen Plan. Dass eine solche Auffassung zu Resultaten führen muss, die nichts mit den Aufgaben der Sozialdemokratie zu tun haben, ist klar.
Genosse Bernstein kann einwenden: „Aber was geschieht mit der deutschen Ausfuhr nach Marokko, an der die deutschen Arbeiter interessiert sind,“ die „keine Spezialangelegenheit der Unternehmerschaft als Klasse“ ist, wenn das gerechte Papier von Algeciras ohne unsere Verteidigung bleibt? Darauf die Antwort: will er um die deutsche Ausfuhr nach Marokko einen Krieg führen, oder ihretwegen einen Konflikt schaffen, dessen erstes Resultat neue Rüstungen wären, die in einem Jahre den Ertrag der ganzen deutschen Marokkoausfuhr zehnfach überstiegen würden? Hier gelangen wir eben zur Frage von den grundsätzlichen Ausgangspunkten der sozialdemokratischen auswärtigen Politik, über die eine Parteidiskussion immer mehr nötig wird. Dann wenn sie auch wahrscheinlich die Mehrheit der Parteigenossen ablehnend zu der Bernsteinischen Parole stellen wird, die Voraussetzungen dieser Parole sind Gemeingut eines großen Teiles der Partei, wie dies die Diskussion über die Abrüstungsfrage gezeigt hat. Zu dieser Frage werden wir noch zurückkehren.
A. Mit noch reichhaltigerem Material beweist das Dr. Robert Ermels in seinem jüngst erschienen Buche: Frankreichs koloniale Handelspolitik, Berlin, Verlag Frenkel 1910.
1. Frankreich versuchte, eine zusammenhängende Verbindung seiner Kolonien in Zentralafrika und am Roten Meer zu erreichen, England versuchte das gleiche mit Ägypten/Sudan und Ostafrika (Uganda, Kenia). In Faschoda im Südsudan trafen sie aufeinander. England setzte sich durch und machte die französischen Pläne dauerhaft undurchführbar.
2. gemeint ist die Resolution des Stuttgarter internationalen Sozialistenkongresses von 1907 zum Imperialismus, die von Bebel eingebracht wurde. Mit den von Rosa Luxemburg, Lenin und Martow eingebrachten Änderungen lautete sie:
„Der Kongress bestätigt von neuem die Resolutionen der früheren internationalen Kongresse gegen den Militarismus und Imperialismus. Krieg zwischen Staaten, die auf der kapitalistischen Wirtschaftsordnung beruhen, sind in der Regel Folgen ihres Konkurrenzkampfes auf dem Weltmarkt; denn jeder Staat ist bestrebt, seine Absatzgebiete sich nicht nur zu sichern, sondern auch neue zu erobern, wobei Unterjochung fremder Völker und Länderraub eine Hauptrolle spielen.
Diese Kriege ergeben sich mit Naturnotwendigkeit aus den unaufhörlichen Wettrüstungen des Militarismus, der ein Hauptwerkzeug der bürgerlichen Klassenherrschaft und der wirtschaftlichen und politischen Unterjochung der Arbeiterklasse ist.
Begünstigt werden die Kriege durch die bei den Kulturvölkern im Interesse der herrschenden Klassen systematisch genährten Vorurteile des einen Volkes gegen das andere, um dadurch die Massen des Proletariats von ihren eigentlichen Klassenaufgaben sowie von den Pflichten der internationalen Klassensolidarität abzulenken.
Kriege liegen also im Wesen des Kapitalismus: sie werden erst aufhören, wenn die kapitalistische Wirtschaftsordnung beseitigt ist oder wenn die Größe der durch die militärtechnische Entwicklung erforderlichen Opfer an Menschen und Geld und die durch die Rüstungen hervorgerufene Empörung der Völker zur Beseitigung dieses Systems treibt.
Insbesondere ist die Arbeiterklasse, die vorzugsweise die Kämpfer stellt und hauptsächlich die materiellen Opfer zu bringen hat, die natürliche Gegnerin der Kriege, weil diese im Widerspruch stehen zu ihrem Ziel Schaffung einer auf sozialistischer Grundlage beruhenden Wirtschaftsordnung, die die Solidarität der Völker verwirklicht.
Der Kongress betrachtet es deshalb als Pflicht aller Arbeiter und insbesondere ihrer Vertreter in den Parlamenten, unter Kennzeichnung des Klassencharakters der bürgerlichen Gesellschaft und der Triebfedern für die Aufrechterhaltung der nationalen Gegensätze mit allen Kräften die Rüstungen zu Wasser und zu Lande zu bekämpfen und die Mittel hierfür zu verweigern, sowie dahin zu wirken, dass die Jugend der Arbeiterklasse im Geiste der Völkerverbrüderung und des Sozialismus erzogen und systematisch mit Klassenbewusstsein erfüllt wird, so dass die herrschenden Klassen es nicht wagen, sie als Werkzeug für die Festigung ihrer Klassenherrschaft gegen das kämpfende Proletariat zu gebrauchen.
Der Kongress sieht in der demokratischen Organisation des Wehrwesens, das alle Waffenfähigen umfasst, eine wesentliche Garantie, dass Angriffskriege unmöglich werden und die Überwindung nationaler Gegensätze erleichtert wird.
Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind in den beteiligten Ländern die Arbeiter und ihre parlamentarischen Vertreter verpflichtet, alles aufzubieten, um den Ausbruch des Krieges durch Anwendung entsprechender Mittel zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung des Klassenkampfes und der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern und steigern. Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, sind sie verpflichtet, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, um die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur politischen Aufrüttelung der Volksschichten und zur Beschleunigung des Sturzes der kapitalistischen Klassenherrschaft auszunutzen.“
Zuletzt aktualiziert am 28. Januar 2025