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Aus der Bremer Bürger-Zeitung, 8. und 9. September 1911, ungezeichnet.
Nach ders., In den Reihen der deutschen Revolution 1909–1919, S. 37–47.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Der diesjährige Parteitag versammelt sich in Jena, einem Orte, der einen Markstein in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie bedeutet. Hier wurde vor sechs Jahren die Resolution angenommen, die den Massenstreik in die Reihe der sozialdemokratischen Kampfesmittel einreiht. Sechs Jahre sind nach diesem historischen Moment verstrichen, die Partei kam noch nicht in die Lage, das in Jena akzeptierte Machtmittel anzuwenden und so wendet sich der Blick bei der Begrüßung des Jenaer Parteitages von selbst zum Jahre 1905, und von selbst wirft sich die Frage auf nach dem Wege, den wir seitdem zurückgelegt haben.
Der Jenaer Beschluss bedeutete, dass die Sozialdemokratie sich bewusst wurde, dass Zeiten beginnen, in denen es aufs Ganze gehen wird. Immer frecher erhob die Reaktion ihr Haupt, offener als zuvor sprach sie aus, dass sie eines Tages dem demokratischen Reichstagswahlrecht an den Kragen wolle. Die Arbeiterklasse, der erst der große Wahlsieg vorn Jahre 1903 ihre wachsende Macht vordemonstriert hatte, erklärte in dem erwähnten Beschluss des Jenaer Parteitages den immer frecher werdenden Kräften der Reaktion: Probiert es nur, ich spiel euch auf! Die Bedeutung des Jenaer Beschlusses bestand darin, dass die Sozialdemokratie, die seit vierzig Jahren den historischen Umständen entsprechend ihren Kampf in erster Linie auf dem parlamentarischen Boden geführt hatte, sich jetzt bereit erklärte, wenn nötig, die Arbeitersache in die Hände der Arbeitermasse selbst zurückzulegen und den Kampf als direkten Massenkampf ausfechten zu wollen.
Der Jenaer Beschluss entstand als Produkt der Zuspitzung der Klassengegensätze in Deutschland; die Crimmitschauer Aussperrung von 1903, der große Bergarbeiterstreik von 1905 haben nicht minder zum Zustandekommen dieses Beschlusses beigetragen, als das Gefühl des Machtzuwachses, wie ihn der Wahlsieg von 1903 erzeugte, und das Bewusstsein, dass das Kapital dem Anschwellen der roten Welle nicht ruhig zusehen wird. Darum ist es eine Legende, wenn die Revisionisten den Jenaer Beschluss als bloße Rückwirkung der russischen Revolution darzustellen suchen, um ihn zu jener, die einstweilen begraben, ins Grab legen zu können. Mit Freuden gedenken wir jener frischen Brise, die von der Ostgrenze kam und die Wellen der deutschen Arbeiterbewegung zum Branden brachte. Aber es ist falsch, in dem russischen Einfluss die Ursache der stärkeren Belebung der deutschen Arbeiterbewegung zu sehen, wie sie im Jahre 1905 bemerkbar war. Sie entsprang, wie gesagt, der Entwicklung der inneren deutschen Verhältnisse, und der Einfluss der russischen Revolution äußerte sich nur darin, dass dank dem Beispiel der glorreichen Kämpfe der russischen Arbeiterschaft die Zuspitzung der Klassengegensätze in Deutschland schneller einen scharfen Ausdruck fand, als es sonst der Fall gewesen wäre. Dass aber die Jenaer Resolution dem Stande der deutschen Entwicklung entsprach, beweist schon die Tatsache, dass sie in der Form, in der sie die Massenstreikidee akzeptierte, weit vom russischen Beispiel entfernt bleibt, dass sie sich strikte an die von dem Stande der deutschen Klassenkämpfe geschaffenen geistigen Voraussetzungen hält. Die russischen Massenstreiks zeigten, wie eine geknechtete Klasse, fast noch gar nicht aufgeklärt und organisiert, sich dennoch zu heroischen Massenkämpfen aufschwingt, sobald die sie niederdrückenden Mächte abgewirtschaftet haben und sie selbst von ernsten Ereignissen aufgepeitscht wird. Die deutsche Resolution hält den möglichst hohen Stand gewerkschaftlicher und politischer Organisation für die Vorbedingung eines Massenstreiks und sieht in ihm ein Abwehrmittel für den Fall des Angriffs der Reaktion auf die wichtigsten Rechte des Proletariats. Darin äußert sich die Tatsache, dass, obwohl der Jenaer Beschluss unter Einwirkung der russischen Revolution entstanden ist, er in den deutschen Verhältnissen wurzelt, dass er den erreichten Grad der Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung spiegelt. Nach vierzig Jahren ruhiger, allmählicher Entwicklung konnte sich die Idee von der Offensive der an Macht gewinnenden Arbeiterklasse nur in der Form der Defensive, der Abwehr von Anschlägen, den Weg bahnen, und vierzig Jahre des unermüdlichen Ausbaus der proletarischen Organisationen mussten zu der starken Betonung der großen Bedeutung der Organisation in revolutionären Massenkämpfen führen.
Der Jenaer Beschluss bedeutete einen mächtigen Schritt nach vorwärts. Indem er der Reaktion zurief: bis hierher und nicht weiter, sagte er der Arbeiterklasse: in deinen eigenen Händen ruhen deine Geschicke, bereite dich vor, denn es naht die Zeit, in der über sie zu entscheiden sein wird!
Indem die Sozialdemokratie in einem konkreten Falle an die Massen appellierte und ihnen sagte, was für eine wuchtige Waffe sie in Ihren Händen haben, räumte sie für die weitere selbständige Arbeit des Gedankens den nötigen Platz. Warum sollte der Massenstreik nur anwendbar bei Verteidigung des Reichstagswahlrechts sein, warum nicht auch bei Eroberung des preußischen Wahlrechts, gilt doch diese Eroberung derselben Sache, wie jene Verteidigung. Und soll das Proletariat ruhig zusehen, wenn es auf die Schlachtbank geführt wird, soll es sich gegebenenfalls nicht zur Wehr setzen?
So wird der Massenstreik in den Augen immer breiterer Arbeitermassen zum schärfsten Kampfesmittel in allen ernstesten Situationen, dessen Anwendbarkeit diskutiert, durchdacht werden muss, weil seine Anwendung gewollt wird. Wer die Entwicklung der Partei in den letzten sechs Jahren aufmerksam verfolgt hat, und wem nicht die opportunistischen Scheuklappen den Ausblick einengen, der muss zugestehen, dass die in Jena vor sechs Jahren proklamierte Massenstreikidee in den Arbeitermassen mächtig Fuß gefasst hat.
Dass dem so ist, hat seine Ursachen in erster Linie in der Entwicklung der deutschen Politik in den letzten sechs Jahren. Die Wahlniederlage im Jahre 1907 zeigte den Massen, dass es ein Wahn wäre, zu glauben, die Bourgeoisie würde dem Wachstum der parlamentarischen Macht der Sozialdemokraten in Ruhe zusehen. Sie zeigte ferner, dass auch ohne Wahlrechtsraub die Einigung der Bourgeoisie zu einem reaktionären Block den Weg zu Reformen verrammeln kann. Und der Kampf um das preußische Wahlrecht, der aus dem Gefühl geboren worden ist, es sei nötig, zur Offensive gegen die Reaktion überzugehen, zeigte er nicht, dass ohne den stärksten Druck von unten der preußische Olymp nicht nachgeben wird? Je mehr aber eine bürgerliche Schicht nach der anderen politisch abwirtschaftet, sich als Garde der Reaktion entpuppt – und was konnte in dieser Hinsicht lehrreicher sein als die Geschichte des konservativ-liberalen Blockes im Jahre 1907–08 und der imperialistische Koller aller bürgerlichen Parteien im laufenden Jahre – desto mehr gehen die Hoffnungen auf die Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse durch allmählichen friedlichen Aufstieg zugrunde, desto mehr greift der Gedanke an eine Generalabrechnung um sich. Und arbeitet die Teuerung nicht in derselben Richtung: gibt es eine Hoffnung auf den Kampf gegen sie durch eine geänderte Wirtschaftspolitik vermittels parlamentarischer Schiebungen?
Aufs Ganze geht der Kurs der deutschen Politik, und darum können
wir auf die sechs Jahre, die wir seit dem Jenaer Parteitag hinter uns
haben, mit Zufriedenheit zurückschauen. Die Kräfte, deren
Entwicklung den Anstoß zum Jenaer historisch so bedeutsamen
Beschluss gegeben hat, sind an der Arbeit und verrichten ungestört
ihr Werk weiter, obwohl gute Leute, aber schlechte Musikanten diesen
Beschluss als nutzlos verpufftes Feuerwerk ansehen. –
Einer Austragung des großen Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit, einem Kampfe, in dem nur ein Hüben oder Drüben gilt, geht die Entwicklung der deutschen Verhältnisse entgegen. Die Arbeiterklasse fühlt es, und ihre Stimmung zeigt auf Sturm. Nichts entflammt ihre Begeisterung so sehr, als der Hinweis auf die großen kommenden Kämpfe, in welchen es sich nicht um kleinere Schiebereien, sondern um einen gewaltigen Ruck nach vorwärts handeln wird. Äußert sich die Tatsache nun im Leben der Gesamtpartei in genügender Weise?
Aus allem Tun und Denken der Partei tönt seit zwei Jahren ein Leitmotiv heraus: die Reichstagswahlen! Es tönt wie eine Verheißung auf Kampf und Sieg, aber es wird begleitet von einem zweiten Ton: nur vorsichtig, sonst verderbt ihr die schöne Situation! Als in Moabit die Polizeisoldateska vandalisch hauste, galt der erste Gedanke unserer leitenden Kreise nicht der Offensive, nicht dem Ruf: Proletarier, auf gegen die Herrschaft des Säbels! sondern vorsichtig: dass uns daraus kein Strick gedreht wird. Als die Regierung sich ins Marokkoabenteuer stürzte, waren Wochen nötig, bis die ganz unbegründete Furcht, der Marokkorummel könne unsere Wahlchancen stören, dem Druck des sozialrevolutionären Flügels der Partei gewichen ist und die Partei zum Angriff gegen den Imperialismus überging. (Wie sehr das den reformistischen Kreisen wider den Strich ging, wird dadurch bewiesen, dass ein bedeutendes süddeutsches Parteiblatt den Aufruf des Parteivorstandes nicht einmal unverkürzt abdruckte. Es ließ den Passus, dass wir keine Kolonien wollen, einfach aus, was selbst dem isegrimmig reformerischen und ehemaligen „Jungen“ Max Schippel [1]über die Hutschnur zu geben scheint.)
In den führenden Kreisen der Partei scheint die günstige Wahlsituation als ein Produkt des Streites zwischen den Liberalen und Konservativen, nicht aber als ein Resultat der Versippung aller besitzenden Klassen in Deutschland zu gelten. Denn handelt es sich darum, dass eine stark gewachsene Proletariermasse durch die Taten aller bürgerlichen Parteien von dem volksfeindlichen, erzreaktionären Kurs der deutschen Politik in das Lager der Sozialdemokratie gedrängt, von prinzipieller sozialdemokratischer Agitation um die rote Fahne geschart wird, dann kann es für die Sozialdemokratie nach der Arbeit des letzten Reichstages keine schlechte Wahlsituation geben. Je mehr sich das Bürgertum zusammenschweißt, desto klarer ist die Lage, desto aussichtsvoller unsere Agitationsarbeit. Anders wenn unser Sieg darin bestehen soll, dass verärgerte Philister, durch keine große prinzipielle, bevorstehende Schlacht in das Lager der Reaktion, dem sie angehören, gestoßen, heute für uns stimmen, um morgen mit der patriotischen Hurrakanaille zugehen! Dann gilt es fein sachte auf den Socken schleichen, damit kein frischer Ton des realen Lebens das lustige Gespenst des junkerlich-bürgerlichen Gegensatzes verscheuche.
Die Grundlage der ersten Auffassung, die immer voll Angst vor der Versumpfung der günstigen Wahlsituation war, bildet eine Unterschätzung der Stufe, die die Entwicklung der Dinge in Deutschland erreicht hat. Wie den Verfechtern dieser Ansicht die günstige Wahlsituation nicht darin besteht, dass alle bürgerlichen Parteien in immer grellerer Weise ihre Volksfeindschaft zur Schau tragen und fragen müssen, so sehen sie noch merkliche Unterschiede in dem Grad der Volksfeindlichkeit verschiedener bürgerlicher Schichten, trotz des Schandwerks des Steuerraubes, an dem alle bürgerlichen Parteien schuldig sind, trotz des Knechtungswerks des Versicherungsgesetzes, für das selbst Naumann stimmte, und trotz der von ihnen allen genährten Kriegshetze. In dem Moment, da die Bourgeoisie in allen ihren Schattierungen immer stärker zusammenhält, trotz aller Scheingefechte, wird von den Führern der Partei, als des Marxismus erste politische Regel die Pflicht proklamiert, die Volksfeinde nicht über einen Kamm zu scheren. Da sie sich aber nur durch die Art der Demagogie unterscheiden, so folgt aus diesem Willen zur Unterscheidung die Notwendigkeit, sich Illusionen zu machen. So lasen wir in der Neuen Zeit, es gelte angesichts der Teuerung zwischen den Gegnern zu unterscheiden, wodurch nur die Meinung erweckt werden konnte, als seien die Nationalliberalen und Freisinnigen nicht mitschuldig an den Hungertarif von 1912 [gemeint: 1902], der so eminent zur Entstehung der Teuerung beigetragen bat. So lasen wir wieder in unserem wissenschaftlichen Organ zwei Monate vor dem Einsetzen des imperialistischen Fiebers, das jetzt das Bürgertum schüttelt, von der Friedensströmung in einem Teil des Bürgertums, die wir unterstützen müssen.
Diese illusionäre Politik der führenden Parteikreise ist ein Produkt der Übergangszeit, die wir jetzt durchleben. Entscheidende Kämpfe bereiten sich vor, sie werfen ihre Schatten voraus. Aber sie sind noch nicht da. Das Auge des Organisators, der vierzig Jahre hindurch nur die steigende Zahl der Organisierten und der abgegebenen Wahlstimmen nachzählte und nur sie für reell hielt, sieht sie noch nicht. Das, was kommen wird, ist noch Vermutung, kann sich als Trugbild des Theoretikers zeigen. Und dieser fühlt jetzt eine große Verantwortung, größer als je: Jahrzehntelang lehrte er von dem Mechanismus der kapitalistischen Gesellschaft, von den Grundlinien ihrer Entwicklung. Seine Lehre sollte der Arbeiterbewegung klarmachen, was sie von der ganzen Situation getrieben, im großen Ganzen tun müsse. Wenn man die Geschichte der taktischen Wendungen der deutschen Arbeiterbewegung studiert, so findet man fast keine, die von der Theorie bestimmt worden wäre. Die marxistische Theorie erklärte mehr, behütete mehr vor Entgleisungen, als dass sie neue Wege zeigte. Das entsprach dem festen Bett der Bewegung, dass sie in gerader Linie vorwärts lief. Es gab keine jähen Wendungen, keine Wasserstürze. Nur breiter und tiefer wurde das Flussbett der deutschen Bewegung. Jetzt nähert sich die Zeit, da es fraglich ist, ob der Fluss angesichts der im Wege liegenden Hindernisse nur breiter wird, oder ob er die Hindernisse wegzuräumen imstande sein wird. Das Bild beiseite gelassen: Die deutsche Arbeiterbewegung und die Reaktion stehen sich gegenüber, beide fühlen mit jedem Tage mehr Kampfbereitschaft und Kampfeslust. Werden sie sich in nächster Zeit an die Gurgel springen, soll die Arbeiterklasse ihre jetzigen Kämpfe schon mit Rücksicht auf die kommenden großen Schlachten führen? Die leitenden Kreise der Partei fühlen in einer solchen Situation eine erdrückende Verantwortung für jeden Schritt, für jede Parole. Was reif ist – denken sie – wird vom Baume fallen, es fällt nicht zu spät; gefährlich ist nur, wenn die Frucht unreif vom Baume geschüttelt wird. Sie wollen die kommenden großen Schlachten der Initiative der Geschichte überlassen, und einstweilen die Tagesarbeit verrichten, als wäre sie von jenen unabhängig. Aber sie ist von ihnen sehr abhängig. Die entscheidenden Kämpfe kommen näher, weil die ganze Bourgeoisie abwirtschaftet, man kann also nicht einen Teil der Bourgeoisie gegen den andern ausspielen. Man kann nicht nur gegen den schwarz-blauen Block kämpfen, wo die Versicherungskampagne und der Marokkorummel uns einen reaktionären bürgerlichen Block gegenüber stellen. Darum müssen die Führer der Partei, nachdem sie gestern den Kampf gegen den schwarz-blauen Block proklamiert und im Bürgertum Friedensfreunde mit der Diogeneslaterne in der Hand gesucht haben, die Liberalen als Bundesgenossen der Junker brandmarken. Ihre Politik, die gestern opportunistisch war, wird also heute zaghaft, unstet.
Aber die deutsche Sozialdemokratie ist nicht im Kampfe gegen den Verrat der Bourgeoisie an der Demokratie aufgewachsen, um sich von solchen Phantomen bestimmen zu lassen. Nicht auf diplomatischen Schleichwegen, sondern auf offenem Schlachtfelde gegen die ganze bürgerliche Welt hat sie das Vertrauen der Masse gewonnen. Sie braucht sich nicht hinter die Stimmung der Philister zu verstecken, die die Faust in der Hosentasche die Junkerbastille – ihren eigenen Schutzwall! – zu erstürmen drohen. Gegen die Bourgeoisie als Ganzes geht der Kampf Jetzt mehr als jemals, darum konnte die Parole: stille, die Reichstagswahlen nahen und die zweite, nicht anmutigere, gegen den schwarz-blauen Block! nicht lange hochgehalten werden. Es genügten wieder einige kritische Attacken der Gegner dieser Halbheiten, dass sie – wenn auch formell weiter aufrechterhalten – in der Praxis doch nur noch wenig zur Geltung kamen.
Die Parole: gegen das kapitalistische System! ist als aktuelle
Kampflosung so sehr einschneidend, sie erfordert solche Konsequenzen
in der Stellungnahme zu allen aktuellen Fragen, dass sie bewusst, als
Resultat der ganzen Auffassung der Situation ausgegeben werden muss.
Es erzeugt nur ein Chaos, wenn die führenden Parteikreise erst
nach Auseinandersetzungen, von den Ereignissen gestoßen, diesen
taktischen Kurs einschlagen. Auf dem Parteitag muss das klipp und
klar ausgesprochen werden, aus den Polemiken über die Haltung
der Reichstagsfraktion in der Abrüstungsfrage, des
Parteivorstandes in der Marokkofrage, der Neuen Zeit zu der
Wahlkampfparole muss es herausgeschält und als zentrales Problem
aufgestellt werden.
Der Gegensatz zwischen der wachsenden revolutionären Stimmung in den Massen und der keinesfalls einheitlichen Leitung der Partei, die aus Vertretern der radikalen Parteimehrheit zusammengesetzt ist, kann natürlich nicht zur Erhöhung des Ansehens der radikalen Richtung der Partei beitragen. Der Teil der Radikalen, der in dieser Stimmung der Masse nur den Vorboten von Kämpfen sieht, die er auf Grund der Analyse der neuesten Entwicklungsphase der deutschen Politik für bevorstehend hält und der eine entsprechend klare Politik fordert, war genötigt, in einer Anzahl von Fragen gegen die leitenden Kreise der Partei vorzugehen: so in der Abrüstungsfrage, in der Frage der Elsass-Lothringischen Verfassung, in der Frage der zu geringen Aktivität der Parteileitung beim Beginn der Marokkokrise, wie auch gegen die Haltung der Redaktion der Neuen Zeit in der Frage der Wahlparole. Die Auseinandersetzungen, bei denen die Gegenseite einer prinzipiellen, ausführlichen Aussprache aus Rücksicht auf die nahenden Reichstagswahlen und aus anderen Rücksichten aus dem Wege ging, lösten immer große Freude bei den Revisionisten aus. Diese glaubten, sich an die Rockschöße solcher Gegner, wie Kautsky hängen zu können. Der Parteivorstand und die führenden radikalen Genossen müssen jetzt häufiger nach links als nach rechts polemisieren! jubelten die Revisionisten. Wir könnten mit Stillschweigen darüber hinweggehen, wenn es nicht im Interesse wäre, das in den vorigen Artikeln Gesagte zu unterstreichen und die politische Bedeutung der Auseinandersetzungen im radikalen Lager festzustellen. Dies ist umso nötiger, da sie von unseren radikalen Genossen, mit denen wir die Klinge kreuzen zu müssen geglaubt haben, falsch gedeutet werden. In einem offenen Brief an den Genossen Thalheimer, den Redakteur unseres Göppinger Parteiblattes, verwahrte sich Kautsky gegen die Unterstellung der revisionistischen Presse, als hätte er die Genossen, die sich um die Leipziger Volkszeitung und Bremer Bürger-Zeitung gruppieren – um mit der Schwäbischen Tagwacht zu reden, obwohl unsere Kritik die Unterstützung einer größeren Anzahl von Parteiblättern fand – syndikalistischer Neigungen geziehen. Er habe nur vor der Gefahr des Verfallens in den Syndikalismus gewarnt – erklärt Kautsky. Die Warnung aber war nötig, wie er im Maiheft der Neuen Zeit aussprach, weil wir aus Widerwillen gegen die revisionistische Politik die praktische Kleinarbeit zu unterschätzen scheinen! Wir wissen nicht, was den Genossen Kautsky zu dieser Meinung veranlasst haben könnte. Wir unterschätzen die Kleinarbeit auf allen Gebieten der Arbeiterbewegung keineswegs. Ohne sie ist die möglichst große geistige und organisatorische Vorbereitung der Arbeiterklassen zur Erfüllung ihrer Aufgabe unmöglich. Worum es sich bei unserem Gegensatz handelt, das ist die Durchdringung dieser Kleinarbeit mit dem Geist nicht nur der allgemeinen sozialdemokratischen Erkenntnis, die in jeder Situation nötig ist, sondern speziell mit dem Geiste der revolutionären Initiative, des energischen Zugreifens in den Momenten, in denen die Masse handeln muss, um die Erweiterung der Perspektiven der deutschen Arbeiterbewegung. Nicht uns droht die Gefahr der Hinneigung zu syndikalistischen Lehren, sondern die führenden Parteikreise haben, obwohl radikal, aus der Tatsache der ungeheuren Zuspitzung der Klassengegensätze in Deutschland nicht konsequent die Folgerungen gezogen. Nicht wir unterschätzen die Kleinarbeit, sondern die Mehrheit der radikalen Führerschaft der Partei unterschätzt die Möglichkeiten einer sozialrevolutionären Massenagitation und Massenaktion, wie sie sich der Partei eröffnen.
Aber diese zaghafte Politik ist nur ein Produkt der Übergangszeit. Wie sehr sie auch zu bekämpfen ist, wir sind sicher, dass es sich hier nicht um Gegensätze handelt, die tiefere Wurzel haben und länger andauern könnten. Zwar kennt die Geschichte der Internationale Fälle, wo eine theoretisch am Marxismus festhaltende Richtung in der Praxis der Revolution rein opportunistische Politik trieb: so die so genannte Menschewikische Richtung (in der russischen Sozialdemokratie) mit dem geistreichen marxistischen Theoretiker Plechanow an der Spitze. Aber diese Möglichkeit bestand nur dank den speziellen unentwickelten russischen Verhältnissen. In Deutschland erlaubt die scharfe Spaltung der Gesellschaft das Fehlen einer wichtigeren Schicht, deren Haltung die Illusion in der Arbeiterklasse wecken könnte, als habe sie Bundesgenossen, wenn Hart auf Hart stoßen würde, eine solche Schwenkung eines der Radikalen nicht, je näher der Moment zur Austragung der großen sich sammelnden Gegensätze heranrückt, desto einiger wird das radikale Lager werden, wenn auch der eine oder andere, der sich aus alter Routine zu ihm zählt, zu den „Staatsmännern“ übergehen wird. Wir möchten nur wünschen, dass dies bei den Auseinandersetzungen zwischen den beiden Teilen des radikalen Lagers, wie sie nicht noch einmal entstehen werden, in den Augen behalten wird. Aber noch mehr ist zu wünschen, dass diese Auseinandersetzungen ihrer sachlichen Wichtigkeit nach gewertet werden, dass man sich darüber Rechenschaft gibt, dass die Diskussion absolut notwendig ist, und dass man sie nicht in kleinliche persönliche Reibereien verwandelt. Noch nie stand eine so enorme Arbeiterarmee einem so mächtigen Gegner gegenüber, wie es jetzt in Deutschland der Fall ist, um vielleicht in naher Zeit mit ihm über Jahrzehnte der Ausbeutung und Knechtung abzurechnen. Kämpfe von einer Heftigkeit und Schärfe, wie die Geschichte nicht gesehen, stehen bevor, und da sollte nicht vieles sein, über das wir uns auseinandersetzen und verständigen müssen?
Auf dem Parteitag werden Teilprobleme dieses allgemeinen Problems: Wie erstürmen wir die deutsche Bastille? zur Diskussion kommen. Die Mehrheit der Parteitagsdelegierten würde vielleicht lieber Fanfaren als Diskussion anhören, aber es gilt Klarheit über alle die Fragen zu schaffen, die das Objekt unseres Kampfes bilden werden. Nie ist Klarheit so notwendig, als vor dem Kampfe, und Paraden überlassen wir gerne dem Zentrum, das nur von der Verschleierung seiner Natur lebt. Als Kriegsrat vor dem Kampfe begrüßen wir den Parteitag. Möge er in ernster Arbeit die Kampfparolen bestimmen, sie werden vom deutschen Proletariat auf die rote Standarte geschrieben werden.
1. Max Schippel gehörte um 1890 zu den ultralinken „Jungen“. Später wurde er Opportunist und verwendete teils das Pseudonym Isegrimm.
Zuletzt aktualiziert am 29. Januar 2025