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Der deutsche Imperialismus und die Arbeiterklasse |
Der Imperialismus und die Lage der Arbeiterklasse1. Das Wettrüsten und seine wirtschaftlichen Folgen |
Der Imperialismus bedeutet die Politik der Gewalt gegen schwache Völker, darum ist er ohne Gewaltmittel, Flotte und Landheer unmöglich. Der Imperialismus erzeugt den Kampf aller Staaten gegen alle, darum ist er ohne Wettrüsten undenkbar. Bereit sein ist alles, heißt es für jeden imperialistischen Staat, darum spannt jeder alle Kräfte an, um seine Machtmittel technisch und zahlengemäß an der Spitze zu erhalten, und zwar in der Stärke, die seinen strategischen und diplomatischen Notwendigkeiten entspricht. Welchen Umfang finanziell das Wettrüsten angenommen hat, zeigt die umstehende Tabelle, die wir nach den eingehenden Angaben des Nauticus für 1911 zusammengestellt haben.
Jahr |
Deutschland |
England |
Frankreich |
Russland |
Österreich |
Italien |
Verein. Staaten |
Japan |
||||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
A |
B |
A |
B |
A |
B |
A |
B |
A |
B |
A |
B |
A |
B |
A |
B |
|
1902 |
874.536 |
15,08 |
1.218.300 |
29,07 |
827.202 |
21,18 |
958.015 |
6,94 |
401.604 |
8,69 |
282.573 |
8,64 |
860.164 |
10,87 |
180.113 |
3,92 |
1903 |
872.598 |
14,84 |
1.370.808 |
32,48 |
808.730 |
20,68 |
1.004.091 |
7,19 |
410.215 |
8,81 |
327.290 |
9,95 |
928.413 |
11,54 |
174.305 |
3,73 |
1904 |
853.633 |
14,30 |
1.340.069 |
31,45 |
770.682 |
19,68 |
1.048.360 |
7,41 |
420.598 |
8,95 |
344.287 |
10,40 |
1.019.759 |
12,47 |
686.73 |
1,46 |
1905 |
928.609 |
15,32 |
1.257.263 |
29,24 |
857.290 |
21,87 |
1.068.705 |
7,37 |
515.773 |
10,88 |
342.920 |
10,30 |
972.740 |
11,69 |
724.84 |
0,52 |
1906 |
998.113 |
16,23 |
1.208.437 |
27,84 |
940.254 |
23,93 |
1.034.501 |
7,16 |
441.073 |
9,23 |
370.726 |
11,03 |
964.862 |
11,41 |
272.477 |
5,60 |
1907 |
1.097.714 |
17,59 |
1.178.308 |
27,00 |
910.127 |
23,21 |
1.065.631 |
7,30 |
442.737 |
9,18 |
371.298 |
9,87 |
1.085.572 |
12,61 |
416.464 |
8,46 |
1908 |
1.165.167 |
18,70 |
1.204.429 |
27,25 |
932.844 |
23,68 |
1.106.013 |
7,49 |
427.564 |
8,77 |
359.918 |
10,59 |
1.174.551 |
13,57 |
448.106 |
9,00 |
1909 |
1.279.329 |
19,70 |
1.284.588 |
28,80 |
975.056 |
24,70 |
1.245.607 |
8,31 |
459.081 |
9,00 |
376.900 |
10,99 |
1.375.614 |
15,07 |
335.860 |
6,65 |
1910 |
1.241.268 |
19,13 |
1.394.619 |
30,99 |
998.180 |
25,27 |
1.227.989 |
8,10 |
463.895 |
9,01 |
434.725 |
12,60 |
1.214.522 |
13,16 |
337.826 |
6,61 |
1911 |
1.259.029 |
19,16 |
1.452.483 |
32,14 |
1.052.111 |
29,56 |
1.285.328 |
8,37 |
548.800 |
10,55 |
472.583 |
13,58 |
1.094.020 |
11,18 |
387.245 |
7,49 |
A = Insgesamt für Heer und Marine in 1.000 M |
In neun Jahren ist die militärische Belastung Deutschlands auf den Kopf der Bevölkerung um mehr als 4 Mark, und für die fünfköpfige Familie um 20 Mark gestiegen, ähnlich geht es in allen anderen Staaten. Dieses Rüsten ohne Ende zerrüttet die Finanzen eines Staates nach dem andern und nötigt sie zu immer neuen „Finanzreformen“, d.h. zu einer immer stärkeren Anziehung der Steuerschraube. Selbst in Ländern, in denen nicht alle Lasten durch indirekte Steuern aufgebracht werden, stärkt das Wettrüsten den Widerstand der besitzenden Schichten gegen eine Erhöhung der direkten Steuern und nimmt der Arbeiterklasse die Aussicht auf Erfolg im Kampf für die Herabsetzung der indirekten ihren Lebenshalt belastenden Steuern. In Ländern, wo auf den indirekten Steuern der ganze Haushalt des Staates aufgebaut ist, verewigt der Imperialismus durch seine wachsenden Ausgaben das System der Schutzzölle, ohne die er nicht auskommen kann. Die wachsende indirekte Steuerlast bedeutet aber eine wachsende Teuerung aller Lebensmittel, Ihr Preis wird nicht nur um den vom Staate eingezogenen Zoll erhöht.
Unter dem Schutze der Zollmauer schließt sich das Kapital zusammen, um den von der auswärtigen Konkurrenz gesäuberten Markt gehörig auszubeuten. Es schraubt den Preis der Waren fast um den ganzen Zollbetrag in die Höhe. Nach den Berechnungen Gradnauers betrug diese Preiserhöhung der wichtigsten und industriellen Produkte in Deutschland im Jahre 1908 46 Mark auf den Kopf der Bevölkerung, d.h. pro Familie 230 Mark. [44]
Der Imperialismus verursacht das Wachstum der Steuerlast der Arbeiterklasse und die wachsende Teuerung der notwendigsten Lebensmittel. Diese Tatsache zu leugnen, fällt selbst den rabiatesten Vertretern des Imperialismus schwer. Sie versuchen deshalb ihre Bedeutung durch die Behauptung abzuschwächen, die imperialistische Ausdehnung gebe der Arbeiterschaft erhöhte Arbeitsgelegenheit und hebe infolgedessen die Arbeitslöhne. Diese Behauptung ist völlig aus der Luft gegriffen. Erstens ist eine Produktionserweiterung und ein größerer Warenverkehr keinesfalls gleichbedeutend mit erhöhter Arbeitsgelegenheit, Geht die Produktionserweiterung Hand in Hand mit der Einführung arbeitssparender Maschinen, so kann sogar eine Verringerung der Arbeitsgelegenheit folgen. Dasselbe Resultat ergibt sich, wenn das Kapital Massen von kulturell niedrig stehenden Arbeitern aus den Ländern herbeizieht, die durch seine Ausdehnung proletarisiert worden sind. Das englische Kapital, das Südafrika unterjochte, um seine Goldminen besser ausbeuten zu können, wendet dabei chinesische Kulis an, die fast wie Sklaven behandelt werden.
Und die deutschen Reeder, die Chinesen als Matrosen beschäftigen, zeigen, dass auch das deutsche Kapital es nicht verschmäht, die durch seine Ausbreitung von der Scholle vertriebenen und proletarisierten chinesischen Kulis auszubeuten. Aus dem Dargelegten folgt, dass sich aus dem vergrößerten Warenabsatz noch keineswegs eine Hebung der Lage der Arbeiterklasse ergeben muss. Wir wissen aber, dass der Warenabsatz der deutschen Industrie nur zu einem geringen Teil in die Länder der imperialistischen Ausdehnung des deutschen Kapitals geht, und dass diese Länder mit ihrer unentwickelten Bauernbevölkerung auch in der Zukunft keine großen Absatzmärkte versprechen. Würde es aber dem Kapital gelingen, eine Industrie mit ihnen großzuziehen, so würden sie auch selbst die von ihnen benötigten Industrieerzeugnisse schaffen. Zwar wird das nicht mit einem Schlage geschehen, und der Prozess der Industrialisierung Chinas wird der europäischen Industrie eine Zeitlang große Märkte eröffnen, da er einen großen Bedarf für Maschinen und Textilerzeugnisse schaffen wird; es wird sich hier aber dennoch nur um eine vorübergehende Belebung der europäischen Industrie handeln. Denn wenn die industrielle Entwicklung der rückständigen Länder früher ihren Warenverkehr mit den älteren kapitalistischen Ländern erhöht hat, so findet dieser Prozess seine Grenzen in der nur allmählich steigenden Kaufkraft der Länder, in denen das Proletariat mit jedem Jahre einen größeren Teil der Bevölkerung ausmacht.
Die imperialistische Ausdehnung Deutschlands hat bisher der deutschen Arbeiterklasse nicht einmal eine größere Arbeitsgelegenheit geschaffen, wenn wir von einem winzigen Teil absehen, der direkt für die Flottenlieferanten arbeitet. Würde also die erhöhte Arbeitsgelegenheit für einzelne Arbeitergruppen sogar gleichbedeutend sein mit der Möglichkeit, eine besser entlohnte Arbeit zu finden, so hätte die Arbeiterklasse als Ganzes dennoch keinen Nutzen davon. Wie sich die Verfechter des Imperialismus auch anstrengen, sie sind nicht imstande, irgend welche Tatsachen vorzubringen, die beweisen würden, dass die zwölf Jahre der Imperialistischen Politik, neben der wachsenden Teuerung und der Steuerlast, irgend welche Wirkungen herbeigeführt haben, die der Arbeiterklasse günstig waren. In dem bereits zitierten Artikel Zehn Jahre Flottengesetz, den der offiziöse Nauticus [45] im Jahre 1910 zur Verherrlichung des Flottengesetzes und seiner Wirkungen veröffentlicht hat, konnte nur aufgeführt werden, dass der Konsum pro Kopf der Bevölkerung gestiegen ist:
an |
Roggen |
von |
137,7 |
kg im Jahre 1901/2 auf |
142,4 |
im Jahre 1907/8 |
Weizen |
85,0 |
90,7 |
||||
Gerste |
72,1 |
86,3 |
||||
Zucker |
11,6 |
17,1 |
||||
Südfrüchte |
2,57 |
3,07 |
Wir lassen die Frage offen, wie viel von diesem steigendem Konsum wirklich auf die Arbeiterklasse, und wie viel auf die besitzenden Schichten entfällt. Wir lassen auch die Frage unberücksichtigt, wie die Lage der deutschen Arbeiterklasse ausgesehen hätte, wenn nicht die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie, die sich des größten Hasses der Imperialisten und der Regierung erfreuen, ihren ständigen Kampf im Interesse der Arbeiterklasse geführt hätten. Es genügt, dass die Regierung zur Illustrierung der segensreichen Wirkung des Imperialismus auf die Lage der Arbeiterklasse nichts weiter auszuführen hat, als 5 kg Roggen und Weizen, 5½ kg Zucker und 14 kg Gerste.
Dass auch dieses Mehr an Lebensmitteln, welches die Arbeiterklasse angeblich verbraucht hat, nur in der Phantasie des offiziellen Skribenten auf das Konto des Imperialismus gestellt werden kann, ist eine besondere Tatsache. Denn wenn sie nicht dem opfervollen Kampfe unserer Gewerkschaften und der Sozialdemokratie zu verdanken wären, so würde sie lediglich der Arbeitsgelegenheit zuzuschreiben sein, die der Handelsverkehr mit den kapitalistischen Ländern Europas bietet, nicht aber dem nur langsam zunehmenden Handelsverkehr mit den unentwickelten Ländern, auf den das Bestehen der Kriegsflotte einen Einfluss haben kann.
Ähnlichen Einwendungen, wie die soeben gemachten, begegnen die Imperialisten gewöhnlich mit dem Hinweis auf die angebliche Hebung der Lage der arbeitenden Klassen in England durch die Kolonien. Diesen Einwand hat schon Parvus [46] widerlegt, indem er nachwies, dass die Zeit der Lohnsteigerungen in England zugleich die Zeit der relativen Verminderung des kolonialen Exports war, dass also die Aufbesserung der Lage der Arbeiterklasse in England ganz anderen Faktoren zuzuschreiben ist, als der englischen Kolonialpolitik. Was Parvus für die Vergangenheit theoretisch nachgewiesen hat, beweisen die kolossalen Arbeitsaufstände, die in diesem Jahrein ganz England getobt haben, noch nachdrücklicher. Welchen Ursachen dieses Sichaufraffen der englischen Arbeiter als Musterknaben zuzuschreiben ist, die ein halbes Jahrhundert lang von den bürgerlichen Sozialpolitikern gefeiert wurden, geht aus einem lehrreichen Artikel des holländischen Schriftstellers F. M. Wibaut [47]: Ein Menschenalter des Kapitalismus hervor, in dem auf Grund englischer offizieller Materialien der Beweis geführt wird, dass die Lage der Arbeiterklasse in England sich in den letzten dreißig Jahren (1875–1907) verschlechtert hat. „Nur in der ersten Hälfte des betrachteten Zeitabschnittes“ – so fasst er seine Untersuchungen zusammen – „fand eine bedeutende Zunahme des Reallohnes statt, aber sie war hauptsächlich eine Folge der Senkung der Lebensmittelpreise.“ In der zweiten Hälfte dagegen, seit 1895, sinkt der Reallohn; die Verringerung der Kaufkraft des Lohnes war größer als die Steigerung der Geldlöhne. Auch wird die Sicherheit der Existenz nicht größer; die Schwankungen in der Arbeitsgelegenheit werden nicht geringer; der Teil der Lebenszeit, in dem die Arbeitskraft Käufer findet, wurde von 1891 bis 1901 kleiner. Diese Worte des Forschers seien noch durch folgende Ziffern ergänzt: In der Zeit von 1875 bis 1905 weisen die Löhne eine durchschnittliche Steigerung von 13 Prozent auf. Aber in der Zeit von 1905 bis 1908, verglichen mit der Zeit 1895 bis 1899, steigen die Preise der Lebensmittel schneller als die Geldlöhne, nämlich um 18 Prozent. Die Lage der englischen Arbeiterklasse hat sich also absolut verschlechtert. Und dies geschah in der Zeit, wo die Produktionskraft der englischen Arbeiterklasse und der Wohlstand der Kapitalisten mächtig gewachsen ist. Die englische Einfuhr ist in den letzten 28 Jahren um 92, die Ausfuhr um 808 gewachsen, während die Bevölkerung nur um 29 Prozent gestiegen ist. Gleichzeitig ist das aus Handel und Industrie stammende Kapitalisteneinkommen um 92 Prozent gestiegen. Es ergibt sich also: Der Arbeiter lieferte der Gesellschaft viel mehr als früher, die Kapitalisten erhöhten ihr Einkommen um 92 Prozent. Würde sich die Lage der Arbeiter gehoben haben, ständen sie absolut jetzt besser als vor dreißig Jahren, sie würden relativ trotzdem heute schlechter stehen.
Aber das nicht einmal ist der Fall. Während der Wohlstand der Kapitalistenklasse ungeheuer steigt, kann der englische Arbeiter nicht einmal sagen, dass sein „Wohlstand“, wenn auch nicht in demselben Maße, so doch wenigstens überhaupt, gestiegen wäre. Die Lage der englischen Arbeiterklasse hat sich positiv verschlechtert. Wer das nicht dem Marxisten Wibaut glauben will, der vielleicht von der legendären Verelendungstheorie verblendet ist, der lese den Aufsatz des englischen liberalen Statistikers Chiozza-Money in dem Londoner liberalen Wochenblatt The Nation (vom 30. April 1911) über Lohn und Profit in den letzten fünfzehn Jahren. Er findet dort eine Bestätigung der Ausführungen Wibauts. Dies alles zeigt, dass die Kolonialpolitik Englands – die erfolgreichste Kolonialpolitik, die jemals in der Geschichte getrieben worden ist –, die Arbeiterklasse nicht vor dem bittersten Elend hat schützen können. Angesichts dessen verlieren alle Hinweise darauf, dass sich die deutsche Kolonialpolitik erst in den Anfängen befinde, selbstverständlich allen Wert. Keine Kolonialpolitik kann die Lage der Arbeiterklasse heben, jede aber führt zu Ergebnissen, die niederdrückend auf sie wirken.
Der Imperialismus verschlechtert die Lage der Arbeiterklasse, indem er das Einkommen der Arbeiter mit immer wachsenden Steuern für den Staat, die Junker und die Schlotbarone belastet. Er schafft der Arbeiterklasse keine Gelegenheit für bessere, lohnendere Arbeit. Das allein würde schon genügen, um in dem Imperialismus eine Kraft zu sehen, die den Aufstieg der Arbeiterklasse hemmt und alle ihre Bemühungen nach Erringung einer höheren Lebenslage lahmzulegen sucht. Aber damit erschöpft sich keineswegs die niederdrückende Wirkung des Imperialismus auf die Lage der Arbeiterklasse. Er verstopft auch die Quellen der Sozialreform, des staatlichen Schutzes der Arbeitskraft vor der Raubwirtschaft des Kapitals. Am 4. Februar 1890 kündigte bekanntlich ein Kaiserlicher Erlass Reformen an, „die die Erhaltung der Gesundheit, die Gebote der Sittlichkeit, die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeiter und ihren Anspruch auf gesetzliche Gleichberechtigung wahren sollten“; am 5. Dezember 1894 erklärte die Thronrede als die vornehmste Aufgabe des Staates, die schwächeren Klassen zu schützen und ihnen zu einer höheren wirtschaftlichen Entwicklung zu verhelfen. Und als einige Jahre später der imperialistische Kurs in Deutschland begann, hofften die bürgerlichen Sozialreformer, dass er Hand in Hand mit einer Beschleunigung des sozialpolitischen Kurses gehen würde: „So treiben wirtschaftlicher Fortschritt und soziale Reform sich gegenseitig vorwärts, wie zwei ineinander greifende Zahnräder,“ schrieb damals der Redakteur der Sozialen Praxis, Professor Franke. „Und darum erheischt eine erfolgreiche Weltpolitik und Weltmachtpolitik als unerlässliches Korrelat (Ergänzung) auch eine kräftige Fortführung der Sozialpolitik in Deutschland ... Weltpolitik und Sozialpolitik sind die beiden Pole, an denen sich ein und dieselbe Kraft manifestiert. Dem nationalen Drang nach außen muss der soziale Fortschritt im Innern entsprechen ... Das Deutsche Reich muss im 20. Jahrhundert Weltpolitik treiben, wenn es seinen Platz an der Sonne haben will, und es muss die Sozialpolitik fortführen, wenn dem äußeren Glanze auch die innere Kraft den Bestand verleihen soll“. [48]
Diese guten Leute und schlechten Musikanten bemerkten nur nicht, dass die Flottenvorlage von der Zuchthausvorlage begleitet wurde. Und seitdem Deutschland mit Volldampf den imperialistischen Kurs steuert, seitdem es seine Rüstungen von Jahr zu Jahr steigert, ist im Deutschen Reichstage kein einziges Gesetz angenommen worden, das imstande gewesen ist, die Lage einer breiteren Schicht des Proletariats wirklich zu heben.
Auch für einen Blinden ist es klar, dass zwischen den beiden Tatsachen, dem gänzlichen Versagen der Sozialreform und dem ununterbrochenen Rüsten ein Zusammenhang besteht. Aber es hieße an der Oberfläche der Dinge haften bleiben, wenn man annehmen wollte, dieser Zusammenhang bestehe nur darin, dass die Rüstungsausgaben das für die Sozialreform notwendige Geld verschlingen. Der Zusammenhang ist ein viel tieferer. Nicht nur das Geld wird durch die Rüstungen verschlungen, die Rüstungen sind zudem Ausfluss desselben Kurses, der die Sozialreform zum Stillstand verurteilt Die Sozialreform entspringt entweder dem Kampfe der verschiedenen Schichten der bürgerlichen Gesellschaft untereinander, der von der Arbeiterklasse geschickt ausgenützt wird, oder sie ist ein Ausfluss des Glaubens der herrschenden Parteien, die Arbeiterklasse durch Zugeständnisse von dem revolutionären Kampfe abbringen zu können. Eben dieser Spekulation verdankt die Arbeiterklasse, dass die deutsche Regierung in den neunziger Jahren ihr soziales Herz entdeckt hat, und dass sich diese sozialen Gefühle noch verstärkten, als die Peitsche des Sozialistengesetzes sich als ohnmächtig erwies. Es zeigte sich aber bald, dass die deutsche Arbeiterklasse nicht umsonst dreißig Jahre Klassenkampf hinter sich hatte. Es trat bald zutage, dass die Regierung, die den „neuen Kurs“ inauguriert hatte, nicht imstande war, ihn durchzuführen, da die Klassen, deren Willen sie zu vollstrecken hatte, ihr das nicht erlaubten. Der hohe Grad des proletarischen Bewusstseins entsprach einer mit jedem Jahre an Kraft zunehmenden Macht des Kapitals, das nicht bloß Herr im Hause sein wollte, sondern auch über die fernen Meere seine Herrschaft zu ziehen suchte. Dieselbe Macht, die dem Kapital ermöglichte, dem neuen Kurs Einhalt zu gebieten, gestattete ihm auch, der Regierung den imperialistischen Kurs vorzuschreiben. Die Knechtung der arbeitenden Klasse in Deutschland und die Ausbeutung der fremden, wenig entwickelten Völker durch die imperialistische Politik gehen Hand in Hand miteinander.
Dass der Arbeiterschutz und der Imperialismus aus einer Quelle fließen, bedeutet aber keineswegs, dass die imperialistische Politik den Arbeitertrutz nicht stärken sollte. Sie tut es in bedeutendem Maße schon dadurch, dass die Bourgeoisie, die die Eingeborenen in den Kolonien wie Sklaven behandelt, geneigt ist, dieselben Herrschaftsmethoden auch gegenüber dem Proletariat im Mutterlande zu gebrauchen. Aber noch stärker beschleunigt der Imperialismus diese Rückentwicklung vom Arbeiterschutz zum Arbeitertrutz, indem er die Entwicklung des Staates zur Demokratie hemmt.
Der Imperialismus verschlechtert die Lage der Arbeiterklasse und verstopft zugleich die Quellen der Sozialpolitik.
Indem er so der Arbeiterklasse immer neue Lasten aufbürdet, legt er ihr zu gleicher Zeit Fesseln an, damit sie sich nicht zu wehren vermag. Der Imperialismus höhlt zuerst den Parlamentarismus aus, der für die Arbeiterklasse eine Kampfeswaffe, ein Mittel zur Aufrüttelung der Volksmassen ist, indem er an die Spitze der bürgerlichen Interessen solche stellt, die sich öffentlich nicht behandeln lassen. Die Bourgeoisie stimmt diesem Vorhaben gerne zu, denn sie sieht in dem Parlamentarismus nicht die Form, in der das Volk seine Herrschaft ausüben soll, sondern die, in der sie am besten ihre eigenen Klasseninteressen vertritt. Sieht also die Bourgeoisie in dem Streben nach Eroberung fremder, kulturell niedriger stehender Länder zwecks ihrer Ausbeutung durch den Export des Kapitals und der Waren die ihren Interessen am meisten entsprechende Politik, so wird das Parlament zur Waffe des Imperialismus, und von den Notwendigkeiten der Weltpolitik wird es abhängen, inwieweit das Parlament selbst die Leitung der auswärtigen, jetzt imperialistischen, Politik in seinen Händen behält. Die Bourgeoisie weiß aus historischer Erfahrung, dass es ihren Interessen nicht entspricht, wenn sie ihre auswärtigen Interessen gänzlich der Bürokratie überlässt. Bürokratie heißt Routine, geringe Anpassungsfähigkeit an neue Notwendigkeiten, und in vielen Fällen Schlendrian. Sie verbürgt nicht nur [nicht] die beste Verwaltung, sondern nicht einmal die beste Kenntnis der Sachlage. Besonders was die Kenntnis der Kolonialpolitik betrifft, die wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Betätigung in fremden Ländern, zieht der Bürokrat, der an seinem Schreibtisch gebunden oder nur auf kurze Reisen angewiesen ist, gegen den Kaufmann, den Journalisten, den Gelehrten, die im freien Verkehr Land und Leute viel besser kennen lernen können, den kürzeren. Darum befasst sich die Presse, die Wissenschaft und das Parlament der imperialistischen Staaten so viel mit den Angelegenheiten der imperialistischen Politik. Aber ihre Ausführung befindet sich, wie jede Gesetzausführung, in den Händen der Bürokratie. Während aber bei der Einführung neuer Gesetze, die die innere Politik betreffen, die Bourgeoisie die einzuschlagenden Wege sorgfältig im Parlamente prüft und sich die Kontrolle ihrer Ausführung im vollen Umfange vorbehält, vermeidet sie die öffentliche Erörterung bevorstehender Schritte ihrer auswärtigen Politik; selbst nachdem sie es schon getan, geht das bürgerliche Parlament sehr vorsichtig zur Ausübung seines Beaufsichtigungsrechts über.
In England, wo in den Kreisen der Bourgeoisie die Kenntnis der auswärtigen Angelegenheiten dank der weitverzweigten Ausbreitung der Handelsbeziehungen usw. verhältnismäßig hoch steht und das parlamentarische System am höchsten entwickelt ist, erfährt das Parlament von den Plänen seiner der parlamentarischen Mehrheit entsprossenen Regierung größtenteils erst später, wenn man sich dieselben auch schon nach den Taten der Regierung zurechtkonstruieren kann. Was dem Parlament direkt von der Regierung „eröffnet“ wird, sind größtenteils allgemeine Redensarten über die Richtlinien der auswärtigen Politik, die man sich auf Grund der in Betracht kommenden Tatsachen auch ohne „Eröffnungen“ entwerfen kann, oder Erklärungen, die der Regierung zur Erhöhung des Eindrucks ihrer Schritte im Auslande nötig erscheinen. Und die regierenden Klassen entäußern sich gerne ihres Rechts auf bestimmenden direkten Eingriff in die auswärtige Politik. Wissen sie doch sehr gut, dass die von ihnen abhängige Regierung keine selbständigen, sondern ihre Interessen dabei vertritt, und dass sie in diesem Sinne handelt, wenn sie sich in den Mantel des Schweigens hüllt. Denn obwohl es den Kabinetten nur in den allerseltensten Fällen gelingt, ihre Töpfe vor den neugierigen Blicken der ausländischen Diplomatie geschlossen zu halten, und obwohl das Spiel zwischen den Diplomaten verschiedener Staaten in Wirklichkeit größtenteils mit aufgedeckten Karten stattfindet, liegt es im Interesse der Kämpfenden selbst, dass die breite Masse des Volkes die Ziele und Trümpfe nicht kennen lernt. Würde das Spiel offen vor der ganzen Welt gespielt werden, so würde es viel schwieriger sein als jetzt, dieser Politik des schmutzigsten Profitinteresses das Mäntelchen des nationalen Interesses umzuhängen. Gerät aber die Politik der Regierung in Gegensatz zu den Interessen einer Gruppe der Bourgeoisie, und versucht diese durch öffentliche Debatte die Pläne ihrer Widersacher zu durchkreuzen, so lässt die Mehrheit des Parlaments die Verhandlung überhaupt nicht zu, indem sie sich hinter die Unmöglichkeit der offenen Besprechung dieser Angelegenheiten in diesem Stadium aus „vaterländischem Interesse“ verschanzt. Dies gelingt ihr noch leichter, wenn die Interpellation von einer kleinen Gruppe Ideologen ausgeht, die sich mit ihren abstrakten Auffassungen an dem konkreten Schmutz stoßen, oder von den Vertretern der Arbeiterklasse. Es genügt, an den Ausgang verschiedener Interpellationen der englischen Labour Party oder des Genossen Jaurès zu erinnern. Wenn man einwenden wollte, dass es die Labour Party an der nötigen Geschicklichkeit fehlen ließ, dass sie ihre Position dadurch schwächte, dass sie sich vorher mit der Regierung in Verbindung setzte, so ist das bei Jaurès nicht der Fall.
Der französische Genosse kennt die Interna der Diplomatie, und – was man auch von seiner prinzipiellen Auffassung der Probleme der auswärtigen Politik denken mag – in konkreten Tatsachen lässt er sich keinen Bären aufbinden. Dass es ihm aber gelungen wäre, jemals die Regierung ins Bockshorn zu jagen und von ihr mehr zu erfahren, als sie sagen will, das lässt sich auch beim besten Willen nicht behaupten. Das Interesse der Bourgeoisie nimmt dem Parlamentarismus den Charakter einer Waffe gegen den Imperialismus auch in den Ländern, wo die Demokratie in größerem Maße als in Deutschland verwirklicht ist, und wo die besitzenden Klassen viel Selbstbewusstsein besitzen und sich keinesfalls als Objekte der bürokratischen Verwaltung betrachten.
In Deutschland, wo das Parlament niemals eine selbständige Kraft besessen hat und wo die Parlamentsbeschlüsse von der Regierung und dem Bundesrat einfach in den Papierkorb geworfen werden können, hat man die Macht des Parlaments überhaupt nicht zu schmälern brauchen. Der Imperialismus hat die Ohnmacht des Parlament nur in das rechte Licht gerückt und gezeigt, dass es mit Zustimmung der Bourgeoisie ohnmächtig ist. Der Reichstag hat mit Bereitwilligkeit der Regierung die Absolution erteilt, als sie ohne seine Genehmigung im chinesischen Abenteuer ungeheure Summen verpulverte. Der Reichstag hat dem mit keinem einzigen Wort widersprochen, dass die Regierung sich heuer in die Marokkokrisen eingemischt und die Gefahr eines Krieges auf sich genommen hat, ohne der Volksvertretung auch nur ein Wort darüber zu sagen. Als im Jahre 1908 das persönliche Regiment sich durch die Selbstenthüllungen des Kaisers im „Daily Telegraph“ in furchtbarster Weise kompromittierte, reichte die Erregung der bürgerlichen Parteien nur dazu aus, an das persönliche Regiment die Bitte zu richten, es möge doch seine Interessen besser verwalten. Und als heuer sich in der Bourgeoisie die Meinung verbreitete, die deutsche Diplomatie sei nicht imstande, ihre Interessen mit Nachdruck zu vertreten, da gipfelten ihre Wünsche nicht in dem Rufe nach dem Ausbau der Demokratie, sondern in der Bitte, die diplomatischen Stellen mit bürgerlichen Elementen zu besetzen, die besser als die Junker imstande sein würden, sich mit den fremden Diplomaten wegen der Profitinteressen herumzuschlagen.
Der Imperialismus höhlt die Macht des Parlaments aus und stärkt zugleich die Macht der Bürokratie. Nicht nur weil die Ohnmacht des Parlaments die Allmacht der Bürokratie bedeutet, sondern auch weil der Imperialismus das Wachstum der Machtmittel der Bürokratie fördert, indem er mit jedem Jahre das Budget, die Rüstungen anschwellen lässt. Kein Wunder also, wenn die Bürokratie ihr verstärktes Machtgefühl späterhin nicht nur auf dem Gebiet der auswärtigen Politik zur Geltung bringt, sondern die Arbeiterklasse immer heftiger schurigelt. Nachdem die Quellen der Sozialpolitik mit dem Eintritt Deutschlands in die Bahn des Imperialismus versiegten, hat die Arbeiterklasse zusehen müssen, wie ihre kümmerlichen Selbstverwaltungsrechte in den Krankenkassen, die sie mit Mühe zum Wohl der leidenden Proletarier ausgenützt hat, der Bürokratie ausgeliefert worden sind.
Nächstes Kapitel
Der Kampf gegen den Imperialismus
44. Siehe Berechnungen im Buche Gradnauers Der Wahlkampf, S.50, Dresden 1911.
45. Nauticus: Jahrbuch für Deutschlands Seeinteressen 1910, S.40.
46. Parvus: Kolonialpolitik und Zusammenbruch, Leipzig 1907, S.126/127.
47. Neue Zeit (vom 16. Juli 1911).
48. Handels- und Machtpolitik, Cotta 1900, Vortrag von Prof. Franke über Weltpolitik und Sozialreform.
Zuletzt aktualiziert am 8.8.2008