MIA > Deutsch > Marxisten > Radek
Peter Steinbach (Hrg.), IWK, 36. Jahrgang, Heft 3, Berlin 2000, S.378-384.
Kopiert mit Dank von der nicht mehr existierenden Webseite Marxistische Bibliothek.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Verehrte Genossen,
1. Zur Lage in Deutschland: Die Berliner Niederlage wirft ein helles Licht auf das Kräfteverhältnis und auf die Lage der Kommunistischen Partei. Im Bericht, der für die Presse vorgesehen ist, zeichne ich Ihnen ein Bild vom äußeren Ablauf der Ereignisse. Hier gebe ich ausschließlich eine interne Ergänzung. Im gesamten Reich wächst die revolutionäre Arbeiterbewegung. Überall geht die Arbeitsproduktivität zurück. Überall kommt es zu spontanen Streiks, die am weitesten zurückgebliebenen Gebiete Deutschlands wie Oberschlesien und das Rheinland mit Westfalen wurden faktisch zu Zentren des Kampfes. In den Städten fehlt es an Kohle. Die Lebensmittelreserven werden ziellos vergeudet, im März wird die Regierung vor dem Nichts stehen. Lebensmittelforderungen, die Deutschland in nächster Zukunft von der Entente erhalten soll, belaufen sich auf die Kleinigkeit von 30 Millionen Dollar, und sie werden nach Meinung der deutschen Fachleute noch nicht einmal für die Verbesserung der Lage der Kranken und Kinder reichen. Die Verschärfung der Lage wirkt sich zu unseren Gunsten aus. Leider befindet sich weder die Organisation noch die politische Führung der Kommunistischen Partei auf entsprechender Höhe ihrer Aufgabe. Weil sie sich gerade erst von den Unabhängigen getrennt hat, weist sie keine stabile Mitgliedschaft auf, ausgenommen einige Städte wie Bremen. Braunschweig und Stuttgart. Die oppositionelle Stimmung der Arbeitermassen äußert sich nirgends in einer durch die Partei organisierten Form. Deshalb können schnell vergängliche Ersatzlösungen wie die revolutionären Obleute entstehen, ein Mischmasch von Ledebour- und Spartakusanhängern, die ohne klare politische Linie an ein und demselben Tag versuchen, einen Kompromiß mit den Sozialpatrioten zu schließen und gleichzeitig die politische Macht durch einen Putsch an sich zu reißen. Das Fehlen einer eigenen Massenorganisation führte auch dazu, daß die Kommunisten, anstatt sich auf die Eroberung der Arbeiterräte zu konzentrieren, ohne jeden Plan nach jeder Möglichkeit griffen, um die erregte Stimmung der Massen für Aktionen zu nutzen. Die Aktionen verliefen ohne klares politisches Ziel, ohne Verständnis dafür, daß es unmöglich ist, die politische Macht zu erobern, ohne die Mehrheit der Arbeiter hinter sich zu haben und ohne in Gestalt der Arbeiterräte Organe des Kampfes und der Macht zu haben. In der Theorie verstehen die Führer es, sie äußern diese Ansicht in der Broschüre Was will der Spartakusbund? Aber in der Praxis war das nicht der leitende Gedanke ihrer Taktik. Das ist im nachhinein die Grundtendenz der Berliner Ereignisse. Sie begannen mit großen Demonstrationen Hunderttausender Arbeiter, in denen sich die ganze Enttäuschung der Arbeitermassen entlud. Aber nach drei Tagen wußten die Massen nicht, was sie auf der Straße eigentlich sollten. Ich war selbst Zeuge, wie in der Redaktion der Roten Fahne alte Genossen händeringend fragten, was sie [die Spartakusführer] denn wollten. Sie wurden mit leeren Phrasen abgespeist, weil man dort selbst auch nicht wußte, was man wollte. Sie [die Spartakusführer] hörten einfach auf, zu den Demonstranten auf die Siegesallee hinauszugehen, und die Masse irrte ziellos umher, bis sie sich verlief. Bereits am dritten Tag der Demonstrationen riet ich in der nachdrücklichsten Weise den einzelnen Mitgliedern der Zentrale, dieser Form der Demonstration ein Ende zu bereiten, da die politische Macht noch nicht erobert werden könne. Wenn man die Scheidemann-Regierung noch erdulden müsse, dann müsse man auch den sozialpatriotischen Polizeipräsidenten erdulden. Auch die besetzten bürgerlichen Zeitungen waren nicht zu halten. Ich schlug vor, den Kampf um die Zeitungen in den konkreten Kampf um die gerechte Papierverteilung umzufunktionieren und den Kampf um das Polizeipräsidium in den Kampf um die Neuwahlen eines Arbeiterrates, der letztendlich die Verhandlungen mit der Regierung über die Ernennung des Polizeipräsidenten hätte führen sollen. Die Mitglieder der Zentrale waren einverstanden, daß die Eroberung der politischen Macht noch nicht möglich sei, aber sie hatten nicht genug Mut, daraus ohne Zögern alle Schlußfolgerungen zu ziehen. Sie versteckten sich hinter sentimentalen Phrasen und Hoffnungen, ihr Prestige erlaube es nicht, die Sache zu beenden, es sei angeblich unmöglich, mit der Regierung zu verhandeln, und schließlich: die zu den Unabhängigen gehörenden revolutionären Obleute könnten die Front wechseln, einen Kompromiß mit der Regierung eingehen und die Verantwortung für das Scheitern auf sich nehmen. Während sie diese Hoffnungen pflegten, veröffentlichte die Rote Fahne einen wütenden Aufsatz gegen die Verhandlungen. Die Lage komplizierte sich noch dadurch, daß Liebknecht, der im Laufe dieser Tage alle Angelegenheiten mit Ledebour und den revolutionären Obleuten ohne Kontakt mit der Parteileitung verhandelte, durch sein Temperament zu weit mitgerissen wurde und die Erklärung über den Sturz der Regierung und die Bildung einer neuen – all das ohne Kenntnis der Zentrale – unterschrieb und sich selbst durch diese Schritte die Hände band. Als die Zentrale endlich wieder mit ihm in Kontakt kam, begannen die Auseinandersetzungen um Kompetenzfragen, wobei Rosa [Luxemburg] und Leo [Jogiches] ihm nicht genügend festen Willen zur Beendigung dieses hoffnungslosen Kampfes entgegensetzten. Inzwischen waren die Massen auseinandergelaufen, und einige tausend Mann aus dem Roten Soldatenbund und der Spartakusorganisation waren in den Zeitungsgebäuden der Belagerung ausgesetzt und erwarteten Hilfe von außen, die jedoch nicht kam. Der Mord an Rosa und Karl, der im ganzen Land unter den Arbeitermassen eine kolossale Erregung hervorrief, half, die Berliner Niederlage zu überwinden. Überall in der Provinz erhob sich eine Welle des Kampfes. Und hier in Berlin belebte sich die organisatorische Arbeit wieder. Gestern abend fand die erste öffentliche Versammlung der Kommunisten in Berlin mit großer Beteiligung statt, und die morgigen Beisetzungsfeierlichkeiten [für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg am 25. Januar 1919] werden höchstwahrscheinlich zu einer mächtigen Demonstration werden. Nunmehr, da Karl und Rosa nicht mehr sind, wird der große Mangel an literarischen und politischen Führungskräften noch spürbarer. Ich werde mit einer Reihe von Flugblättern gegen den Putschismus und für die Eroberung der Arbeiterräte als den Weg zur Macht auftreten. Die Zentrale ist damit einverstanden. Bereits im Flugblatt aus Anlaß der Ermordung habe ich diesen Ton angeschlagen. Er muß tagtäglich konkretisiert werden. Andernfalls droht die Gefahr, daß die spontane Bewegung Stück für Stück zerschlagen wird und ohne Führung bleibt.
Die bürgerliche Presse, versteht sich, stellt die Sache so dar, daß wir – sie nimmt die Anwesenheit einer großen Masse von russischen Bolschewiki an – zu Putschen drängen. Sie hetzen wild, besonders gegen mich, so daß ich sehr isoliert zu leben gezwungen bin und organisatorisch nicht wirken kann. Ihr solltet normale Praktiker schicken, die deutsch sprechen können. Es ist zum Lachen, aber wirklich so: Wir müssen den Deutschen das Organisieren beibringen. Wenn die Kommunisten hier nicht allzu große Dummheiten anstellen, wird die Situation im Verlaufe einiger Monate so weit heranreifen, daß man an die Eroberung der Macht denken kann.
2. Über die Lage in Österreich-Ungarn weiß ich allein aus den Zeitungen Bescheid. Ich habe zwei Kuriere hingeschickt, keiner von den beiden ist zurückgekehrt. Einen Kurier hat mir Bela geschickt, er traf gerade ein, als der Aufstand [vom Januar 1919 in Berlin] losbrach, und wurde erwischt. Den Zeitungsnachrichten ist zu entnehmen, daß unsere Tschechen sehr gut arbeiten. Muna steht an der Spitze der Bewegung der Bergarbeiter. Belas Zeitung erscheint bereits täglich. Er [Bela Kun] steht im Mittelpunkt aller Aktionen. In Wien gab es umfangreiche Verhaftungen unserer Leute. Ich bemühe mich, Verbindungen herzustellen.
3. Die Lage in den Ententestaaten von hier aus zu beurteilen ist sehr schwierig. Die Presse wird noch immer zensiert, und es gelingt mir noch nicht einmal, sozialistische Zeitungen zu bekommen. Eins ist unzweifelhaft: Die Stimmung der Arbeitermasse richtet sich gegen eine Intervention [der Ententetruppen in Rußland], und es wird nicht gelingen, kompakte Mililärmassen zum Handeln zu bringen. Kleine Söldnerkontingente können sie leicht zusammenbringen, insbesondere wegen der Arbeitslosigkeit, die überall infolge der Überleitung der Rüstungsindustrie in eine Friedenswirtschaft zunimmt. Der Vorschlag, Verhandlungen auf den Prinzeninseln zu führen, ist unzweifelhaft nichts anderes als ein Manöver, um den Volksmassen in den Ententestaaten die Notwendigkeit vor Augen zu führen, daß es notwendig sein wird. Maßnahmen gegen uns zu ergreifen. Ich schicke einen Genossen nach Holland, damit er die Engländer über die [geplante] Konferenz [zur Gründung der Kommunistischen Internationale] und die Lage unterrichtet. Ich werde versuchen, mittels der englischen Presse Auszüge aus Eurem Aufruf zur Gründung der III. Internationale zu verbreiten. Ich habe auch einen Weg zur Avanti.
4. Die Frage der [Gründung der] III. Internationale wird hier sehr skeptisch beurteilt, obwohl die Hiesigen prinzipiell mit uns einverstanden sind. Sie glauben nicht, daß in nächster Zukunft organisatorisch irgend etwas erreicht werden kann. Sobald ich sie dazu gebracht habe, den Aufruf zu unterschreiben, veröffentliche ich ihn in allen westeuropäischen Sprachen. Ich bin nicht der Ansicht, daß die Konferenz am vorgesehenen Ort und zur vorgesehenen Zeit möglich ist.
5. Die hier lebenden Russen sind vogelfrei, sobald sie auch nur den leisesten Verdacht auf sich lenken, dem Bolschewismus nahezustehen. Viele völlig unschuldige Menschen sind verhaftet worden. Die Berliner ROSTA – obwohl sie völlig legal existierte, ist verboten worden. Ihre Unterlagen sind konfisziert worden. Markovskij und [Tov’ja] Axelrod, die überhaupt nichts mit der Parteiarbeit zu tun hallen, sitzen [im Gefängnis]. Das Büro wurde besetzt und ausgeraubt, sie haben alle Vorräte vernichtet und verschleppt, sogar privates Eigentum. In der Presse erschienen die allerwildesten Gerüchte über Rußland. Ich bin völlig hilflos, gegen sie anzukämpfen, da unsere Funktelegramme durch die [deutsche] Regierung zurückgehalten werden. Die Zeitungen bis 1 Januar [1919] habe ich erst am 23. ausgehändigt erhalten. Wir hatten die Absicht, eine deutsche Funkstation in die Hand zu nehmen, aber bisher ist daraus nichts geworden. Eine Empfangsstation einzurichten ist unmöglich, weil sich dies unter konspirativen Bedingungen verbietet: es sei denn, man entschließt sich, eine eigene Villa in der Provinz anzukaufen. Unbedingt erforderlich ist es, täglich Kuriere mit Zeitungen zu schicken und außerdem täglich aus Wilna an das nächstgelegene deutsche Grenzpostamt ROSTA-Telegramme. Sparen Sie weder Mittel noch Anstrengungen, um das zustande zu bringen. Ein Kampf gegen diese [antibolschewistische] Kampagne ist ohne Material von Ihnen nicht möglich. Ich arbeite hier als Mitglied der deutschen kommunistischen Partei, kann jedoch nicht als Verbindungsglied wirken.
6. Unsere Lage hier ist folgende [im Original anschließend mehrfach unvollständige Sätze]: Um zu verhindern, daß von uns drei Mann [Radek, Sachs-Gladnev, Marchlewski] hier nicht jeder für sich arbeitet, haben wir uns als Troika organisiert. Momentan ist außer mir noch Gladnev hier, und wir werden uns bemühen, so zu helfen, daß wir sowohl Kontakte mit dem Osten wie mit dem Westen unterhalten. Dazu brauchen wir praxiserfahrene Leute. Ich kann übrigens diesen Bericht nicht chiffrieren, weil ich niemanden dafür habe und die Arbeit Überhand nimmt. Wir brauchen drei Leute für den Kurierdienst hier und Sie drei Mann in Moskau. Wir brauchen einige Praktiker in Organisationsfragen die deutsch sprechen, und größere Geldsummen in Mark, Pfund und Francs. Deutsche Mark können in Litauen und Kurland gekauft werden, nur kein Ostgeld [schicken]. Unterhaltung der Verbindungen und der Kurierdienste im Westen. Das Leben hier, wo große Wohnungen angemietet werden müssen, wenn wir uns irgendwie halten wollen, all das wird große Summen verschlingen. Es gibt auch die Möglichkeit, sich mit bürgerlichen Zeitungen und Journalisten zu unserem Nutz und Frommen zu arrangieren, damit sie unsere Nachrichten verbreiten.
Ich habe bereits von einem neutralen Punkt aus ein Funktelegramm an eine große amerikanische Zeitung geschickt. Wenn Sie Nikolaj Ivanovic [Bucharin] entbehren könnten, so schicken Sie ihn her. Meiner Ansicht nach braucht man hier unbedingt eine reguläre Vertretung des ZK [der Bolschewiki] und der zentralen Sowjetexekutive. Neun Zehntel oder mehr Eurer Erklärungen gehen infolge des Boykotts durch die Presse verloren. Wir könnten erreichen, daß man uns hört, wenn Nikolaj [Bucharin] und ich und noch jemand Drittes, vielleicht Rechter, illegal irgendwo in Zentraleuropa als offizielle Vertretung leben. Informieren Sie bitte auch Litvinov, damit er Verbindung mit uns aufnehmen soll, es wäre sehr sinnvoll, wenn Sie von der Entente verlangen würden, daß sie unserem Vertreter für die Konferenz in Konstantinopel die Durchreise durch Deutschland und Österreich erlaubt. Dann könntet Ihr Kontakt mit uns aufnehmen.
7. Keiner der von Ihnen kommenden Kuriere hat etwas von Osinskij mitgebracht. Ich mache Cicerin darauf aufmerksam, daß ich ohne regelmäßige Versorgung mit Literatur und Zeitungen nichts machen kann. Das muß alles in den Händen Osinskijs konzentriert sein, sonst gibt es Chaos. Geben Sie bitte eine Kopie dieses Briefes an Bucharin und Osinskij. Gleichzeitig schicke ich wichtige Zeitungsmaterialien. Aber der Dummkopf von Kurier, den Sie geschickt haben, hat Angst, daß er sie nicht durchbringt. Bestätigen Sie den Empfang des Briefes.
Ich grüße Sie alle herzlich und hoffe, daß der Teufel Sie noch nicht bald holt.
|
Ihr Karl |
Zuletzt aktualiziert am 8.8.2008