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Sie wurde in jener Periode der polnischen Geschichte geboren, wo sich Polens herrschende Klassen von allen nationalen Idealen abwandten, den Kampf um die Unabhängigkeit an den Nagel hängten und stolz erklärten, sie dienen am besten dem Vaterlande, wenn sie Kartoffeln in Spiritus verwandeln, oder billige Drillichjacken massenhaft von Lodz, dem polnischen Manchester, nach Rußland exportieren. Die Periode der sogenannten organischen Arbeit, des Obsiegens der bürgerlichen Elemente, die unter dem Schutz des Zarismus das Antlitz Polens von jedem romantischen Zug befreiten, diese Periode wurde in der Literatur, in der Presse zwar verschönert durch die Behauptungen, daß auf diese Weise Polen vom Keller bis zum Dach beleuchtet und erhellt wird; das Geschäftstreiben der Bourgeoisie wurde mit Zitaten aus Comte, mit positivistischem Firlefanz geziert. Aber in Wirklichkeit war die geistige Atmosphäre, in der Rosa Luxemburg aufgewachsen war, die kühle, kahle, hohle Atmosphäre eines Liberalismus, der auf seine wichtigsten historischen Aufgaben verzichtete, auf den Kampf gegen den feudalen Absolutismus, Und eben deshalb, weil die kulturellen, fortschrittlichen Phrasen des polnischen Liberalismus, wie er in Alexander Swientochowski seinen Bannerträger hatte, Phrasen waren, weil der polnische Liberalismus nichts anderes darstellte, als die Religion nicht einmal des Kapitals als Klasse, wie ihn Marx im kommunistischen Manifest schilderte – einer Klasse, die eine Welt umformt und bildet, eine neue Ordnung schafft – sondern die Religion jedes Kapitalisten für sich, der verschont sein will von allen öffentlichen Angelegenheiten, um desto ruhiger dem Profit nachgehen zu können, mußte sehr bald die idealistische bürgerliche Jugend gegen den Liberalismus rebellieren. Sie mußte in ihrem Drängen nach Ideen suchen, die Ideen des Kampfes waren. Eine Rückkehr zur nationalen Romantik, zum Kampf um die Unabhängigkeit war für sie unmöglich, weil die nationale Ideologie, wie sie erst im Jahre 1863 im Aufstand eine eklatante Niederlage erlitten hat, die Ideologie des untergehenden Adels war. Nicht in der Vergangenheit, in der Gegenwart und Zukunft mußte die polnische Jugend das suchen, was ihr Herz erwärmen, ihren Geist ernähren konnte. Die Idee des Sozialismus begann nach Polen vom Osten wie vom Westen einzudringen. Die Broschüren von Lassalle wirkten gemeinsam mit denen von Tschernischewski, Bakunin und der russischen Volkstümler.
Rosa Luxemburg wuchs in einem Hause auf, wo der Liberalismus als Weltanschauung warmer, humanitärer Menschen ihr entgegentrat, in einer Atmosphäre, in der nicht so sehr der Geist Bentams, wie die großen Dichter herrschten, so daß sie zum Sozialismus später nicht als zum Gegensatz dessen, was sie im Hause aufnahm, kam, sondern als zu dessen Weiterentwicklung.
Auf dem Gymnasium kam sie in Zirkel, in denen fleißig die sozialistische Literatur studiert wurde. Es war die Zeit des Wirkens der ersten größeren sozialistischen Organisation Polens, der Organisation „Proletariat“. Diese Organisation stellte eine Kreuzung der sozialdemokratischen deutschen und der blanquistischen russischen Einflüsse dar. Was ganz gewiß damals aus der Literatur dieser Organisation am meisten befruchtend auf den Geist Rosa Luxemburgs gewirkt haben muß, war nicht die taktische Position dieser Partei, nicht die Tatsache, daß diese Partei ein Gegenwartsprogramm zu schaffen suchte: das junge Mädchen hatte damals wahrscheinlich keinen Sinn für die Frage, ob man in den Sozialismus erst durch eine Periode praktischer Arbeit auf dem Boden des Kapitalismus kommen müsse, oder ob das Proletariat mit einem Sprunge aus dem Reich der kapitalistischen Unfreiheit in die Welt der sozialistischen Freiheit gelangen könnte.
Was sie am meisten befruchteten und beeinflussen mußte, war der scharfe Kampf, den die Organe dieser Partei ebenso gegen die national-feudale, wie kapitalistisch-liberale Weltanschauung der polnischen besitzende Klasse ausfochten. In den Artikeln, Broschüren und Reden des genialen Vaters der polnischen sozialistischen Bewegung, des jungen Ludwig Warinski, wie in den Arbeiten der sich um ihn gruppierenden Publizisten, wie Dickstein, Mendelson, Dluski, usw. wurden alle Masken von dem Gesicht der besitzenden Klassen in Polen gerissen. In diesen Artikeln vollzog sich die Ablösung der Vorkämpfer des Sozialismus – der Intellektuellen wie der Arbeiter – von er Bourgeoisie. Rosa Luxemburg, die schon als junges Mädchen sehr intensiv mit der polnischen Literatur war – sie selbst schrieb sehr talentvollen Novellen – mußte sehr ergriffen sein durch diese Geistige Ueberwindung der ihr so teuren polnischen Romantiker, wie der Philosophen des Liberalismus, von denen der englische Soziologe Spencer auf sie durch seine gedankliche Schörfe einen dauernden Einfluß ausübte.
Rosa Luxemburg begnügte sich schon nicht mit der Lektüre von sozialistischen Schriften. Als Mensch, bei dem Gedanke immer die Tat gebar, nahm sie an der sozialistischen Propaganda und Agitation teil und wurde darum, als ihr schon die Spione nachschnüffelten, von den Freunden ins Ausland transportiert. Man mußte schon damals in den revolutionären Kreisen die zukünftige Bedeutung Rosa Luxemburgs erkannt haben; denn sie wurde von niemand anders über die Grenze gebracht als von Martin Maspschak, den im Jahre 1905 durch die zaristische Regierung in Warschau gehenkten Führer der polnischen Sozialdemokratie.
Und damals, Ende der neunziger Jahre, war Kaspschak in Warschau
der faktische Leiter der illegalen Arbeiterzirkel. Er kam mit Rosa
Luxemburg nach einem kleinen Grenzort, und da er sie durch die
Schmuggler nicht über die Grenze bringen konnte, wandte er sich an
den katholischen Pfarrer und bat ihn um Hilfe mit der Begründung,
das junge Mädchen möchte ins Ausland, um sich zu taufen. Der
Pfarrer fragte Rosa Luxemburg, ob sie der irdischen Liebe wegen die
Religion wechseln wolle. Rosa Luxemburg schwur Stein und Bein, sie
wolle aus Liebe zum Christentum sich taufen lassen, woraufhin ihr der
Pfarrer zum Passieren der Grenze verhalf. So kam sie nach Zürich, wo
sie auf der Universität Nationalökonomie studierte und gleichzeitig
sich in der energischsten Weise mit den Problemen der polnischen
sozialistischen Bewegung beschäftigte.
Die polnische Bewegung wuchs in dieser Zeit über die Periode des ersten Suchens und Tastens hinaus. Sie hörte allmählich auf, die Bewegung der Intellektuellen zu sein und wurde zur Arbeiter-Massen-Bewegung. Mitte der neunziger Jahre begann in Russisch-Polen eine starke Streikbewegung, in der der sogenannte „Arbeiterbund“ entstand. Der Arbeiterbund unterschied sich von der ersten sozialistischen Partei Polens „Proletariat“ dadurch, daß er sich bewußt auf den Boden der Massenbewegung stellte, in ihr allein den Weg zum Sozialismus sah, den individuellen Terror als Mittel des politischen Kampfes ablehnte. Dadurch, daß er in der Massenbewegung den Weg zum Siege sah, wurde der Arbeiterbund vor die Frage des Minimalprogramms gestellt. Man konnte nicht an die Arbeitermassen mit der abstrakten Losung des Sozialismus kommen, man mußte nahe, konkrete Aenderungen in der gesellschaftlichen und politischen Struktur des Staates, in dessen Rahmen man wirkte, anstreben. Dies ergab sich auch daraus, daß eine Massenbewegung sich nicht als konspirative Bewegung entwickeln konnte. Die Massen konnten gar nicht in die unterirdischen Gänge der illegalen Organisation hineingedrängt werden, sie sprengten diesen Rahmen. Sollte die Massenbewegung nicht nur in spontanen Vorstößen vor sich gehen, sollten Massenorganisationen entstehen, dann mußte in die Mauer des Zarismus Bresche geschlagen werden. Kurz gesagt: es mußte der Kampf gegen den Zarismus für eine bürgerliche Verfassung, für die Demokratie begonnen werden. An dieses Programm traten die sozialistischen Intellektuellen heran. Sie traten an dieses Programm nicht nur unter dem Druck der praktischen agitatorischen Notwendigkeiten, sondern auch unter dem Einfluß ganz neuer Tendenzen im polnischen Gesellschaftsleben heran.
In den neunziger Jahren erlebte Polen neben der Welle der Arbeiter-Massen-Bewegung auch die Wiederaufstehung der nationalistischen Tendenzen. Das durch die kapitalistische Entwicklung proletarisierte Kleinbürgertum wandte sich gegen die Bourgeoisie. Die Bourgeoisie hatte sich vollkommen nicht nur mit der Zugehörigkeit zu Rußland, sondern auch mit dem Zarismus ausgesöhnt, wenn sie nur unter seinen Fittichen gute Profite machen konnte. Das Kleinbürgertum, die Intellektuellen, eine viel zahlreichere Klasse als die Bourgeoisie, brauchten natürlich einen viel breiteren Raum für ihre Bewegung als ihn der Zarismus gewährte. Das Kleinbürgertum erstrebte doch Reformen im Land wie in der Stadt. Der Kampf für diese Reformen erforderte Ellenbogenfreiheit, war Opposition gegen den Zarismus. Während die Zugehörigkeit zu Rußland die kapitalistische Entwicklung und damit die Bourgeoisie förderte, bedeutete sie dadurch eben den Niedergang des Kleinbürgertums. Es mußte sich deshalb auf dem Boden der mehr oder minder klar aufgestellten Forderung des Kampfes um die Unabhängigkeit Polens zusammenfinden. Kurz und gut, die im Jahre 1863 aufs Haupt geschlagene feudale Unabhängigkeitsbewegung erstand von den Toten als kleinbürgerlich-oppositioneller, sozial-reformerischer Nationalismus. Die sozialistischen Intellektuellen hatten sich ebenso mit der Arbeiter-Massen-Bewegung auseinanderzusetzen, die nicht in 24 Stunden vom Boden des Zarismus in den Sozialismus springen konnte, ein Uebergangsstadium der Organisation, der Aufklärung mit einem Gegenwartsprogramm erforderte, wie mit der kleinbürgerlichen nationalistischen Bewegung, die sich die Unabhängigkeit Polens und Sozialreformen zum Ziele stellte. Während das maximalistische Programm der alten Partei „Proletariat“ auf dem Zusammenarbeiten mit der damals starken terroristischen Bewegung in Rußland basierte, eine sozialistische Umwälzung im Rahmen von ganz Rußland zum Ziele hatte, war jetzt die terroristische Bewegung in Rußland aufs Haupt geschlagen, vollkommen versickert, während eine Arbeiterbewegung noch nicht da war. Rußland schien der Reaktion auf unabsehbare Zeit ausgeliefert zu sein. In dieser Situation sahen die sozialistischen Intellektuellen in ihrer großen Mehrheit die Lösung des Problems in der Annahme des Programms des Kampfes um die Unabhängigkeit Polens. Durch die Uebernahme dieser Forderung ins Programm sollten gleichzeitig zwei Mücken mit einem Schlage gefangen werden; einerseits sollte die Vereinsamung des polnischen Proletariats, die durch den Stillstand in der revolutionären Bewegung Rußlands verursacht wurde, aufgehoben werden, indem das Proletariat sich praktisch mit dem polnischen Kleinbürgertum verbündete, anderseits sollte die Unabhängigkeit Polens eben das noch nicht sozialistische Staatsgebilde sein, auf dessen Boden das Proletariat in zähem Ringen den Sozialismus erobern muß. Im Jahre 1892 schlossen sich die intellektuellen sozialistischen Gruppen zu der sogenannten Polnischen sozialistischen Partei zusammen, die die Unabhängigkeit Polens als nächstes Ziel der Arbeiterbewegung zum Programm erhob.
Rosa Luxemburg, Adolf Warski, Julian Karski, Ratynski, Wesselowski und eine Reihe anderer Genossen lehnten diese Lösung, in der sie den Uebergang der polnischen Arbeiterbewegung auf den Boden des polnischen Nationalismus erkannten, in der entschiedensten Weise ab. Sie bildeten, gestützt auf die besten Arbeiterkreise in Polen, die Sozialdemokratie Russisch-Polens, gründeten als ihr Organ die Arbeitersache und legten die Grundlage für die marxistische Arbeiterbewegung in Polen. Die grundsätzliche Haltung dieser Partei war in erster Linie das Werk des Geistes Rosa Luxemburgs. Vom Jahre 1893–1898 bildete der Kampf um das marxistische Programm der polnischen Arbeiterbewegung die Hauptarbeit Rosa Luxemburgs. Die Grundlage für die Lösung des Programms sah Rosa Luxemburg in der Analyse der konkreten Entwicklungstendenzen der polnischen bürgerlichen Gesellschaft. Ihre im Jahre 1897 veröffentlichte Doktordissertation über die Industrielle Entwicklung Polens bildete dann das Hauptarsenal der faktischen Argumente der polnischen Marxisten. In einer unübersehbaren Zahl von Artikeln, die teils in dem polnischen Parteiorgan, teils in allen Revuen des internationalen Sozialismus sich mit den Fragen auseinandersetzten, schmiedete Rosa Luxemburg die theoretischen Waffen, die taktischen und prinzipiellen Argumente gegen die Verkoppelung der Arbeiterbewegung mit dem Nationalismus, die jetzt nicht nur das Gemeingut der polnischen Kommunisten bilden, sondern die zwanzig Jahre später beim Ausbruch des großen Weltkrieges die Grundlage der kommunistischen Opposition gegen den Zusammenbruch der zweiten Internationale bilden sollten. Eben in diesen Kämpfen, in denen sich die polnische Arbeiterbewegung spaltete, wurde auch die Bezeichnung Sozialpatriotismus geprägt. Der junge polnische Sozialismus mußte bewußt die Probleme durchfechten, die dann auf einer viel höheren Stufe der Entwicklung vor der internationalen Arbeiterklasse als Lebensproblem dastanden: die Frage von dem Verhältnis der Arbeiterklasse zum nationalen Staat. Wenn man jetzt diese Auseinandersetzungen liest, wird es klar, weshalb Rosa Luxemburg und alle, die durch das Feuer der Kämpfe bei der Bildung der polnischen Sozialdemokratie gegangen waren, während der Weltkrise 1914/18 ohne Wanken ihre Position auf dem linkesten Flügel der Internationale bezogen, und weshalb die polnischen Marxisten eine solch lebendige Teilnahme an der Gründung der kommunistischen Internationale nehmen mußten.
Zu welchen Problemen galt es Stellung zu nehmen in diesen alten Kämpfen? Die polnischen Sozialpatrioten erklärten, das polnische Proletariat müsse zu seiner Entwicklung die politische Freiheit erlangen. Politische Freiheit ist unmöglich ohne Aufhebung der nationalen Unterdrückung. Selbst wenn in Rußland die bürgerliche Demokratie errungen würde, was eine sehr lange Zeit in Anspruch nehmen wird, so wird die russische Bourgeoisie die nationale Unterdrückung nicht aufheben. Aus diesem Grunde müsse das polnische Proletariat die Bildung eines unabhängigen nationalen Staates sich zur Aufgabe machen. Die Unabhängigkeit Polens entspreche dem Gesamtinteresse der polnischen Nation. Rosa Luxemburg zeigte zuerst durch ihre historische Untersuchung, daß, indem die kapitalistische Entwicklung die polnische Bourgeoisie mit der russischen vereinige, indem ein und derselbe Prozeß der Kapitalisierung Rußlands die wirtschaftlichen Interessen der polnischen wie der russischen Bourgeoisie befriedige, die Klassen, die auf dem Boden der kapitalistischen Entwicklung stehen, kein Interesse an der Bildung eines selbständigen polnischen Staates haben können. Der kapitalistische Staat ist die Organisation der Herrschaft der Bourgeoisie. Da sogar der feudal-zaristische Staat der polnischen Bourgeoisie die Ausbeutung des polnischen Proletariats wie die imperialistische Expansion nach dem Osten ermögliche, entsteht in der polnischen Bourgeoisie keine Bewegung für die Unabhängigkeit Polens. Die Unabhängigkeit erstreben nur die zum Tode verurteilten kleinbürgerlichen Klassen, die dem Rad der Geschichte, der Proletarisierung entgehen wollen, und ihre Opposition gegen die kapitalistische Zersetzung Polens, also ihre reaktionäre Opposition mit sozialreformiseher Kritik und nationalistischen Losungen umhüllen. Sollte die bürgerliche Entwicklung Rußlands in Widerspruch zu den reaktionären Formen des zaristischen Regimes geraten, so werde in der Bourgeoisie Polens zwar eine Bewegung nach der liberalen Umgestaltung Rußlands, aber nicht eine für die Zertrümmerung Rußlands und für die Bildung des unabhängigen Polens entstehen. Wenn das Proletariat die Unabhängigkeit Polens als Losung aufstellen wollte, so mußte es nicht nur den Zarismus, sondern auch den Kapitalismus niederwerfen. Die Unabhängigkeit Polens, die das Minimalprogramm bilden soll, den Boden, auf dem sich das Proletariat für seinen Kampf um den Sozialismus organisieren und vorbereiten soll, diese Unabhängigkeit Polens mußte also erobert werden vor dieser Vorbereitungsperiode mit Kräften, die genügen würden, um den Sozialismus selbst zu erobern; denn falls die Arbeiterklasse Polens so stark sein würde, um ihren Willen nicht nur dem schon damals bankerotten Zarismus, sondern auch der sich erst entwickelnden jungen Bourgeoisie aufzudrängen, so könnte sie nach ihrem Siege direkt den Sozialismus einführen. Diese konkrete Kritik zeigt, daß die Losung der Unabhängigkeit Polens kein Minimalprogramm des Proletariats bildet, sondern eine utopische Losung, utopisch deshalb, weil zum Zweck der Eroberung des Ellenbogenraums für den Kampf um den Sozialismus das Proletariat eine Macht entfalten müßte, die genügen würde zur Eroberung des Sozialismus, eine Macht also, die erst durch den langen Kampf auf dem Boden der Demokratie entwickelt werden könnte. Diese historische konkrete Analyse der Losung der Unabhängigkeit Polens führte zu einer prinzipiellen Frage.
Ist die Unabhängigkeit des nationalen Territoriums praktisch für
das Proletariat in seinem Befreiungskampf notwendig? Rosa Luxemburg
zeigte, daß für die Bourgeoisie nicht der nationale Staat, sondern
der kapitalistische notwendig ist, der ihre Interessen gegenüber der
Arbeiterklasse vertritt, der ihre Expansion nach außen ermöglicht.
Ebenso hat die Arbeiterklasse ein Bedürfnis nicht nach der
nationalen Unabhängigkeit, sondern nach bürgerlichen Freiheiten als
Waffe im Kampfe für den Sozialismus. Um für den Sozialismus zu
kämpfen, muß das Proletariat das Minimum politischer Freiheiten
besitzen, die ihm erlauben, sich als Massenkraft zu organisieren und
zu entfaltet. Es braucht eine Presse, Koalitions-,
Versammlungsfreiheit, es braucht Wahlrechte. Dies sind seine reellen
demokratischen Bedürfnisse, nicht aber ein besonderes nationales
Territorium, wie sehr man auch zugeben kann, daß es sich am
leichtesten dort entwickelt, wo es bei gleichen anderen Bedingungen
nicht durch den nationalen Kampf irrgeführt wird. Wenn sich also die
Forderung der Unabhängigkeit als ein spekulatives und nicht
wirkliches Bedürfnis der Arbeiterklasse herausstellt, so zeigt sich
der Kampf um die Unabhängigkeit zusammen mit der Bourgeoisie, im
Bunde mit ihr als die Unterwerfung des Proletariats unter die
Bourgeoisie. Ist das Proletariat so stark, um den Sozialismus zu
erobern, was nicht auf dem Boden eines einzelnen Staates geschehen
kann, so wird es die Frage von den Grenzen seines Staates nicht
abhängig machen von nationalen Gesichtspunkten. Die territoriale
Einteilung der sozialistischen Welt, wenn sich eine solche als
notwendig erweisen solle, wird nach Produktionsgebieten und nicht
nach nationalen Gesichtspunkten erfolgen. Wenn aber das Proletariat
zu schwach ist, um die Macht zu übernehmen, wenn also der nationale
Staat ein Organ der Herrschaft der Bourgeoisie sein soll, so bedeutet
der Kampf um die Bildung des nationalen Staates, wenn dies als
Programmpunkt des Proletariats, als praktisches Ziel seines Kampfes
gedacht ist, nichts anderes, als daß das Proletariat mit eigenen
Händen das Organ seiner Unterdrückung erobern soll. Die
Arbeiterklasse soll also nicht um demokratische Freiheiten als Mittel
des Kampfes gegen die Bourgeoisie ringen, sondern sie soll zusammen
mit der Bourgeoisie um die Bildung eines kapitalistischen Staates
kämpfen, ein neues Organ ihrer Unterdrückung bilden, um erst auf
seinem Boden von neuem den Kampf um die demokratischen Freiheiten als
Werkzeuge ihres Befreiungskampfes zu ringen! Wenn man diese
Argumentation, die wie ein roter Faden durch die Schriften Rosa
Luxemburgs aus dieser Zeit geht, auf eine historische Formel
zurückführt, so bedeutet sie: die Bildung der kapitalistischen
Staaten ist die historische Aufgabe der Bourgeoisie, deren Organ der
kapitalistische Staat ist. Die Aufgabe des Proletariats ist, auf dem
Boden des schon gegebenen kapitalistischen Staates um die Demokratie
zu kämpfen, mit deren Waffen ausgerüstet, das schwache Proletariat
sich organisiert und aufklärt, um dann, zur entscheidenden Macht
herangewachsen, den Kampf um seine Diktatur als Mittel zu seiner
Befreiung zu führen. Dieser Standpunkt Rosa Luxemburgs, gewonnen als
Resultat der Kämpfe um das Programm der polnischen Arbeiterklasse,
sollte zwanzig Jahre später in den viel entwickelteren Bedingungen
des Weltkrieges den Ausgangspunkt der Wiederaufrichtungsbestrebungen
des Proletariats nach dem Zusammenbruch der II. Internationale
bilden. Es braucht nicht weiter ausgeführt zu werden, daß die II.
Internationale diesen Standpunkt als „doktrinär“ betrachtete.
Nachdem sie ihre Universitätsstudien beendet hatte, erwarb sich Rosa Luxemburg die deutsche Staatsangehörigkeit durch eine Scheinehe mit dem Sohn der Familie Lübeck, bei der sie die Jahre in Zürich zubrachte und übersiedelte nach Deutschland, wo sie den Kampf gegen die sozialpatriotische Tendenz in der polnischen Arbeiterbewegung weiterführte. Ein Kampf, bei dem sie sehr heftig mit Wilhelm Liebknecht zusammenstieß, der, getreu der von der alten Demokratie übernommenen Parole der Unabhängigkeit Polens, unfähig war, die antirevolutionäre Bedeutung dieser Parole in der gegebenen historischen Situation des proletarischen Klassenkampfes zu erfassen. Die literarische und praktische Betätigung Rosa Luxemburgs an der polnischen Arbeiterbewegung Deutschlands – in Russisch-Polen war seit 1897 die sozialdemokratische Bewegung durch die zaristischen Verfolgungen für ein paar Jahre niedergeworfen – erschöpfte nicht ihre Betätigung. Sie stürzte sich in den damals eben entbrennenden Kampf der radikalen und opportunistischen Tendenzen der Internationale und nahm an ihm in einer Art und Weise teil, der sie zu einem der bekanntesten Namen des internationalen Sozialismus machte.
Zuerst in der Leipziger Volkszeitung und der Dresdener Arbeiterzeitung, dann auch in der Neuen Zeit trat Rosa Luxemburg in voller wissenschaftlicher Ausrüstung den theoretischen wie praktischen Erscheinungen des Reformismus entgegen. Der Reformismus trat in der Arbeiterbewegung nicht mit offenem Visier auf, proteusartig schillerte sie in allen Farben je nach dem Lande, indem er entstand, je nach dem Milieu, indem er arbeitete. Auf dem Gebiete der Praxis kam er als nüchterner Praktiker, der nur das sieht, was mit den Händen zu betasten ist; auf dem Gebiete der Theorie trat er als Idealist auf, als der Gegner der materialistischen Einseitigkeit des Marxismus, als Verkünder des kategorischen Imperativs. An die Wand gedrückt, redete er sich immer mit Mißverständnissen aus. Er wollte damit sagen, daß er eigentlich nichts Neues, sondern nur klar zum Bewußtsein bringe, was die Arbeiterbewegung eigentlich immer war. Die Haltung der Führer der radikalen Richtung im internationalen Sozialismus dem Revisionismus gegenüber war nicht einheitlich und konnte nicht einheitlich sein, schon aus dem Grunde, weil die radikale Richtung in der Internationale selbst nicht einheitlich war. Kautsky zauderte, als Bernstein seine Zweifel an die große Glocke hängte. Er sah in dem Bernsteinschen Auftreten nichts anderes, als die Zweifel eines grüblerischen Geistes. Jules Guesde, der repräsentative Mann des französischen Marxismus, wußte der opportunistischen Theorie und Praxis von Jean Jaurès nichts anderes entgegen zu stellen, als das starre Festhalten an den Resultaten der marxistischen Lehre. Viktor Adler, der geschmeidige Führer der österreichischen Sozialdemokratie begann in dieser Zeit selbst offenkundig sich dem Opportunismus zuzuwenden. Nur der alte Plechanow sandte seine zentnerschweren Argumente und seine Anklagen in die Welt, die ebenso durch tiefe Gelehrsamkeit anzogen, wie durch die apologetische Form abstießen. Nur Rosa bringt in den Chorus der antirevisionistischen Stimmen eine besondere Note hinein. Methodologisch stellt das was sie geschrieben hat, trotz des geringen Umfanges zweifelsohne das Beste dar, was über die Verteidigung des Marxismus, was zur theoretischen Beleuchtung des Opportunismus geschrieben wurde. Nicht die Resultate der marxistischen Untersuchung verteidigte sie zuerst. Jede ihrer Darstellungen zeigte den Weg, auf dem Marx zu seinen Schlußfolgerungen gekommen ist und mit derselben Methode, mit der Marx die vergangenen Epochen der Geschichte untersucht hat, untersucht sie die neuen Fragen, an denen der Revisionismus die Unrichtigkeit des Marxismus zu demonstrieren sich unterfing. Und es zeigt sich, daß der Revisionismus deshalb den Marxismus revidieren muß, weil er ihn niemals als Methode zu handhaben verstanden hat. Die Wirklichkeit, die gegen den Marxismus sprechen sollte, zeigt sich an Hand der Analyse Rosa Luxemburgs immer als der Schwurzeuge der marxistischen Entwicklungslehre; denn nur auf Grund ihrer lassen sich die Erscheinungen erklären, die nach der Meinung der Revisionisten angeblich den Marxismus widerlegen. Trotz ihres historischen Charakters tritt in den Schriften Rosa Luxemburgs die marxistische Theorie wie ein Block aus Granit auf, als eine gesellschaftlich-historische Theorie, die man entweder ganz akzeptieren oder ganz ablehnen muß. Der Revisionismus zerfällt unter ihren Schlägen, zeigt sich in seiner wahren Gestalt als ideenloser Eklektizismus. Die idealistische Theorie der Revisionisten entpuppt sich als Ausdruck des Unvermögens, mit den Fragen der Gegen-wart fertig zu werden, als theoretisches Herumtasten, das ein praktisches opportunistisches Herumpfuschen nur mühsam verdeckt. Aber Rosa Luxemburg begnügte sich nicht mit der Auflösung des theoretischen Inhaltes des Revisionismus als einer Verkoppelung und Wiederholung bürgerlicher Weltanschauungsüberreste. Wie wichtig, wie glänzend diese ihre theoretische Arbeit ist, nicht darin liegt ihr Schwerpunkt. Die besondere Note des luxemburgischen Kampfes gegen den Revisionismus besteht darin, daß sie seinen sozial-politischen Inhalt mit festem Griff an die Oberfläche zerrte, und so den Kampf gegen den Revisionismus nicht auf dem Boden theoretischer Tüfteleien, sondern als den Kampf gegen eine praktisch-bürgerliche Tendenz in der Arbeiterbewegung führt. Die Rücksichtslosigkeit, mit der Rosa Luxemburg den Kampf gegen den Revisionismus führte, der ätzende Spott, mit dem sie ihn begoß, das Ungestüm, mit dem sie ihn angriff, alles dies wurde auf das Konto ihres vulkanischen revolutionären Temperamentes gesetzt. Dies ist aber ein vollkommen oberflächliches Urteil. Rosa Luxemburg kannte wie wenige die Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung. Sie war ihr niemals ein Buch von Geschichten aus dem Leben und aus den Theorien der Väter verschiedener sozialistischer Systeme. Das. Buch der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung zeigte ihr, daß die Meinungskämpfe in der Arbeiterbewegung immer eine tiefe soziale Grundlage hatten, daß sich in den Kämpfen um die Methode, um die Taktik, Kämpfe abspielten um das Uebergewicht in der Arbeiterbewegung einer sozialen Gruppe über die andere, wobei die opportunistische Richtung immer den dem Bürgertum am nächststehenden Teil der Arbeiterklasse darstellte. Rosa Luxemburg sah im Revisionismus die Theorie, die der Praxis nicht nur bürgerlicher, zur Partei nach dem Fall des Sozialistengesetzes in Deutschland, nach dem parlamentarischen Sieg in Frankreich und Italien zugeströmter Elemente entsprach, sondern auch der Politik einer breiten Schicht der Arbeiterklasse, die von der Welle der wirtschaftlichen Konjunktur in die Höhe gehoben, sich in der bürgerlichen Gesellschaft einzurichten begann. Indem sie den Revisionismus bekämpfte, bekämpfte sie den Versuch der Verbürgerlichung der Arbeiterbewegung, den die Parlamentarier und die Gewerkschaftsbürokratie unternahmen, gestützt auf die Stimmung des von der Konjunktur am meisten profitierenden Teils der Arbeiterklasse. Rosa Luxemburg sah in dem Revisionismus eine vorübergehende Erscheinung. Sie war überzeugt, daß die fortschreitende Verschärfung der Klassengegensätze denselben ebenso versickern lassen wird, wie sie ihn als starke Strömung an die Oberfläche gebracht hat. Aber das verleitete sie nicht zu einer Politik der brüderlichen Duldung und Mahnung. Sie wußte, daß solche Strömungen nicht im Nu abebben, sie kannte die Verwüstung, die der Opportunismus verursacht hatte und sie bekämpfte ihn mit der ganzen Leidenschaftlichkeit ihrer Seele. Allen Mahnungen gegenüber, daß es sich hier um Streitigkeiten im Lager des Sozialismus handelt, antwortete sie, es handele sich umgekehrt um den Kampf gegen die Bourgeoisie, deren Einfluß durch den Revisionismus in das Lager des Sozialismus hereingetragen werde. Und wie sie den Opportunismus im Zusammenhang mit der ganzen Vergangenheit der Arbeiterbewegung behandelte, wie sie seine verschiedenen Erscheinungsformen aus der Verschiedenheit der Struktur der Länder, in denen er kämpft, meisterhaft darzustellen verstand – in ihren Studien über die Krisen des französischen, des belgischen, nicht minder wie des deutschen Sozialismus – so verstand sie aus den Kämpfen über die Taktik der Gegenwart große Ausblicke auf die Zukunft zu gewinnen.
Die Untersuchung über die soziale Revolution, mit der sie ihre im
Jahre 1899 geschriebene Kritik Bernsteins abschließt, zeigt, wie
wenig für sie die Fragen der sozialen Revolution ferne und
unaktuelle Fragen waren, wie nahe diese Fragen für sie verbunden
waren mit dem gegenwärtigen Kampf des Proletariats. Die Art, wie sie
das Problem der sozialen Revolution stellt, ist vollkommen eigenartig
in der sozialistischen Literatur. Indem sie zeigt im Gegensatz zu den
Revisionisten, daß ein verfrühter Sieg des Sozialismus nicht
möglich ist, oder mit anderen Worten, daß die Arbeiterklasse nur
durch die Verschärfung ihrer Klassenkämpfe, nur durch die Lehren
der Niederlagen wie der Siege in diesen Kämpfen sich entwickeln kann
zum Faktor, der die Geschicke der Welt in seine Hände nimmt, zeigt
sie, daß ihr Radikalismus nicht im Warten auf den großen
Kladderadatsch bestand, sondern in dem Drängen auf Verschärfung der
Kämpfe, auf Austragen der Gegensätze, bis sie den Umfang und die
Tiefe annehmen, die das Merkmal der sozialen Revolution bilden. Wenn
man diese Phase der Entwicklung Rosa Luxemburgs zusammenfaßt, so
sieht man, wie der Marxismus für sie nicht nur das Mittel der
Aufklärung über die Gegenwart, sondern die Theorie ihrer Umwälzung
war, die Theorie, die Rosa Luxemburg niemals als die Frage eines
kleinen Kreises der Wissenden behandelte, sondern als die Frage des
bewußten Kampfes der Massen. Die Rolle der Führer sah sie, wie sie
aus Anlaß des Dresdener Parteitages schrieb, darin, sich überflüssig
zu machen, indem die Führer den Arbeitermassen helfen, sich
vermittels des Marxismus und der in seinem Geiste geleiteten
Aktionen, so in der Wirklichkeit zu orientieren, daß sie imstande
sind, selbst den Kampf zu führen. Die Debatten über den
Revisionismus endeten mit seiner theoretischen Niederlage auf dem
Dresdener deutschen Parteitag und Amsterdamer internationalen
Kongreß, die sich auf den Boden des Radikalismus stellten. Die
gleichzeitige Verschärfung der wirtschaftlichen wie politischen
Gegensätze zeigte die Richtigkeit der marxistischen Analyse, zeigte,
daß die internationale Arbeiterklasse in eine neue Sturmperiode
hineinkomme. Der russisch-japanische Krieg leitete diese Periode ein,
indem er mit dem Ausbruch der russischen Revolution endete.
Rosa Luxemburg nahm an den Kämpfen der russischen Revolution leidenschaftlich teil, und in ihrer Behandlung der Fragen, die die russische Revolution aufwarf, zeigte sich die Tiefe ihres Geistes, zeigte sich die Wesensart Rosa Luxemburgs als einer revolutionären Denkerin und Führerin. Die knappen Artikel, in denen sie zuerst in der Neuen Zeit die einzelnen Fragen der Revolution beleuchtete, ihre in polnischer Sprache veröffentlichten Pamphlete, die sie von Zeit zu Zeit unter dem Titel: Was weiter! in der Roten Fahne, dem Zentralorgan der polnischen Sozialdemokratie herausgab, durchleuchteten die Kämpfe immer bis auf den Grund. Niemals handelt es sich dabei für Rosa Luxemburg um die Anwendung einer Schablone, um die Aufoktroyierung von Losungen, sondern immer arbeitete sie aus der Darstellung des lebendigen Kampfes der Klassen die Taktik der Sozialdemokratie heraus. Ende des Jahres 1905 kam sie illegal nach Polen und niemand, der das Glück hatte, damals mit ihr in der Bewegung zu arbeiten, wird vergessen, wie sie an die Fragen herantrat. Wir alle, die wir damals, alles junge Burschen, zu ihr als unserer Lehrerin hinaufblickten, sind für unser Leben lang von ihrer Arbeit befruchtet worden, selbst, wo wir mit den Resultaten dieser Arbeit nicht einverstanden waren; denn die Art der Behandlung der Streitfragen der Bewegung, ob es Fragen waren, mit denen sich der internationale Sozialismus schon auseinandersetzte, denen aber Rosa Luxemburg in der neuen revolutionären Situation immer ein ganz neues Gesicht abzugewinnen wußte – so die Frage der Gewerkschaften und die der Rolle der Partei während der Revolution 1905/6 – ob es neue Fragen waren, wie die Bedeutung des Massenstreiks in der Revolution, in allem zeigte sich Rosa Luxemburg frei von jedem Dogmatismus, den man dem orthodoxen Marxismus vorwarf, zeigte sich immer als die Schülerin der Wirklichkeit. Der Marxismus war für Rosa Luxemburg niemals ein starres Resultat, sondern die immer lebendige Forschungsmethode.
In ihrer Broschüre über den Massenstreik, die sie Ende 1906 schrieb, fruktifizierte Rosa Luxemburg die Lehren der russischen Revolution für die internationale Arbeiterklasse. Diese Broschüre bedeutet die Grundlegung der neuen Phase des Sozialismus. Mit ihr beginnt die Absonderung der kommunistischen Bewegung von der Sozialdemokratie. Wenn Mehring diese Schrift Rosa Luxemburgs in der Neuen Zeit, dem offiziellen theoretischen Organ der deutschen Sozialdemokratie als geniale Anwendung der marxistischen Forschungsweise preisen konnte, ohne den Widerspruch Karl Kautskys und der anderen Koryphäen der Sozialdemokratie hervorzurufen, so zeigt die Tatsache, daß er gleichzeitig in demselben Artikel die Schrift Karl Renners über die Grundlagen der Entwicklung der österreichischen Sozialdemokratie mit hohem Lob bedachte – eine Schrift, in der die marxistische Methode für opportunistische Zwecke mißbraucht wird –, daß die sich anbahnende Trennung sogar von einem solch scharfen Geiste wie Mehring noch unbemerkt bleiben konnte. Auf dem Essener Parteitag wurde diese Trennung schon praktisch bemerkbar, als Bebel die Stellung, die die Partei in Jena im Jahre 1905 zum Massenstreik einnahm, revidierte. Auf dem Jenaer Parteitag hat die deutsche Sozialdemokratie unter dem Eindruck der russischen Revolution den Massenstreik als Waffe akzeptiert. Sie akzeptierte ihn aber nur als Verteidigungswaffe zur Abwehr gegen Angriffe auf das Wahl- und Koalitionsrecht. Das war schon ein Sieg, obwohl es schon damals für uns heutige Kommunisten feststand, daß es ungewiß ist, ob der Raub der Wahl- und Koalitionsrechte notwendigerweise zum,Massenstreik führen muß, wie es möglich war, daß umgekehrt in einer gewissen Situation das Proletariat sogar offensiv mit dem Massenstreik vorgehen kann. Methodologisch blieb die Sozialdemokratie auf dem Boden, auf den sie sich in der langen Periode der friedlichen Entwicklung gestellt hat, auf dem Boden der in erster Linie parlamentarischen Bewegung. Der Massenstreik wurde nur anerkannt, als das Mittel, das diesen Boden sichert, aber politisch war der Jenaer Beschluß trotzdem ein Schritt vorwärts, denn er verlegte das Schwergewicht der Agitation auf die Massenbewegung. Inzwischen tobte zwei Jahre lang der Kampf der russischen Revolution, und er führte der lebenden Generation zum ersten Mal vor die Augen die Dynamik einer Revolution, in der große Massen kämpfen. Er zeigte, wie wenig sich die ökonomischen Kämpfe von den politischen absondern lassen, er zeigte, wie spontan der Kampf sich gestaltet, wenn einmal die Massen in Bewegung treten, und er zeigte, wie die Rolle der sozialistischen Partei in dieser Bewegung nicht darin besteht, sie zu gängeln, sondern den in Bewegung sich befindenden Massen den Sinn ihres Tuns zum Bewußtsein zu bringen und sie auf diese geistige Weise durch Lösungen, wie durch Organisation zur Vereinheitlichung des Kampfes, zu seiner Beschleunigung und seiner Verschärfung zu bringen. Aber diese großen Lehren der russischen Revolution, die für jeden ihrer Teilnehmer bestimmend für seine Auffassung wurde, blieben der deutschen sozialdemokratischen Führerschaft ein Buch mit sieben Siegeln. Wie einer der Führer der deutschen Gewerkschaften. auf der Geheimkonferenz der Generalkommission, deren Protokoll durch die Syndikalisten veröffentlicht wurde, ausgeführt hat, freuten sich die opportunistischen Führer darüber, daß die russische Revolution abgeebbt war und sie somit hoffen konnten, daß auch die Erregung in der deutschen Arbeiterklasse verschwinden werde, und man imstande sein wird, weiter nach altbekanntem Muster dem Kampf zu führen. Die „radikalen“ Führer empfanden darüber vielleicht keine Freude; aber es war klar, daß sie die Niederlage der russischen Revolution zum Ausgangspunkt einer Mäßigungspolitik nahmen. Der Parteivorstand schloß mit der Generalkommission der deutschen Gewerkschaften ein Abkommen, in dem festgelegt wurde, daß ein Massenstreik nur auf Grund einer Vereinbarung der Generalkommission mit dem Parteivorstand stattfinden könne. Diese groteske Idee einer Anmelde- und Konzessionspflicht für den revolutionären Kampf zeigte, wie recht Rosa Luxemburg hatte, als sie auf dem Parteitag ausrief, die russische Revolution habe für die Vertreter dieser Auffassung umsonst gekämpft, sie hätten von ihr nichts gelernt. Auf dem Essener Parteitag mußte Rosa Luxemburg schon gegen Bebel kämpfen.
Die große Scheidung in dem radikalen Lager zeichnete sich schon klar ab. Noch war er nach außen unsichtbar, daß bei dieser nahenden Scheidung Karl Kautsky, der Waffengefährte Rosa Luxemburgs zum Theoretiker des Zentrums der Partei, des zwischen radikaler Tat und radikalem Wort schwankenden und stockenden Sumpfes wird. Seine im Jahre 1908 herausgegebene Broschüre Der Weg zur Macht schien darauf hinzudeuten, daß er sich auf die nahenden Stürme vorbereiten und mit den Radikalen gehen werde. Auch die Partei schien an dem Kurs gegen den Revisionismus festzuhalten. Die Debatte über die Budgetfrage in Nürnberg zeigte die Mehrheit der Parteibürokratie sich tummelnd auf dem hohen Roß des Radikalismus; aber bald zeigte es sich, daß es nur Schein war. Die deutsche Arbeiterklasse stand vor einer Wand. Ihre Organisationen wuchsen auf politischem wie auf wirtschaftlichem Gebiet; aber im wirtschaftlichen Kampf stand ihr gegenüber die Bourgeoisie immer mehr als eine geschlossene Phalanx. Die gewerkschaftlichen Siege durch Manöverierkunst wurden immer seltener, sie wurden durch das geschlossene kapitalistische Auftreten vereitelt. An parlamentarische Hilfe war nicht zu denken. Das Parlament trat immer reaktionärer und geschlossener der Arbeiterschaft gegenüber, wie es sich immer geschlossener auf den Boden des Imperialismus stellte, der alle Finanzkräfte des Staates in Anspruch nahm. Das Parlament war aber, selbst wenn es wollte, gegenüber den organisierten Kräften des Militarismus und der schweren Industrie ohnmächtig. In dem größten Staate Deutschlands, der Provinz Preußen, war das Großkapital wie das Junkertum hinter dem Dreiklassenwahlrecht verschanzt. Da das Dreiklassenhaus nicht nur in wichtigsten Kulturfragen ausschlaggebend war, sondern auch über das Wohl und Wehe der Hunderttausende von Berg- und Eisenbahnarbeitern zu entscheiden hatte, so richtete sich die zunehmende Unzufriedenheit der Volksmassen gegen die preußische Reaktion, während sie früher in der Hoffnung, durch Wahlsiege zum Reichstag die Reaktion niederwerfen zu können, völlig gleichgültig dem preußischen Landtag gegenüberstanden. Rosa Luxemburg, die natürlich keinen Augenblick annahm, daß durch die Aenderung des preußischen Wahlrechts eine entscheidende Verschiebung in dem Kräfteverhältnis zu Gunsten der Arbeiterklasse stattfinden könnte, verhielt sich dieser wachsenden Unzufriedenheit gegenüber nicht doktrinär. Eine Marxistin, wie sie war, fragte sie nicht nach dem Ausgangspunkt des beginnenden Kampfes, sondern suchte jeden Teilkampf, der begann, weiter zu treiben und zu verschärfen, da es um die Massenbewegung ging, wie auch die Illusion der Massen in dem Anfangsstadium sein konnte. Rosa Luxemburg suchte sich mit aller Kraft für eine revolutionäre Propaganda zur Entfaltung einer Massenstreikbewegung zur Eroberung des preußischen Wahlrechts einzusetzen. Nach ein paar Anläufen stellte sich die Parteibürokratie dem entgegen. Es zeigte sich, was für jeden Kenner der Parteiorganisation schon seit Jahren klar war: die sogenannten radikalen Parteiführer waren radikal in Worten, opportunistisch in Taten. Solange es sich um Abstimmungen im Parlament handelte, bekämpften sie den Revisionismus; denn abhängig von den aktivsten Elementen der Partei, die an den Parteiversammlungen teilnahmen, mußten sie an den radikalen Formeln und Zeremonien festhalten im Gegensatz zu den revisionistischen Führern, die aus zwei Lagern stammten, aus dem Lager der Gewerkschaftsbeamten, für die die radikale Frage eine Störung bei den Verhandlungen mit den Unternehmern war, und aus Parteiführern der kleinbürgerlichen Provinzen, die in ihrem kleinstaatlichen Techtelmechtel mit den lokalen Gewaltigen genötigt waren, auch in der Phraseologie dem Kleinbürgertum Rechnung zu tragen. Aber wo es sich um den einzig wirklichen Radikalismus, um den Appell an die Arbeitermassen, um den Versuch, ihre beginnende Bewegung vorwärts zu treiben, handelte, da , versagte die Parteibürokratie im ganzen. Gewöhnt, nur parlamentarische Methoden zu gebrauchen, fürchtete sie die Massenbewegung. Wie Nikolaus I. vom Krieg behauptete, er zerstöre die Armee, so fürchteten sie, die revolutionäre Massenbewegung könnte die Organisation zerstören, die für sie das Wichtigste war. Die Gewerkschafts- und Parteibürokratie schloß sich gegen die Initiative von unten zusammen. Der preußische Wahlrechtskampf wurde abgewürgt. Die Parteibürokratie vertröstete die Massen mit dem großen Siege, der bei den Reichstagswahlen 1912 errungen werden sollte. Und indem sie an die Stelle des revolutionären Massenkampfes, der die Wand, vor der das Proletariat stand, zertrümmern sollte, den Wahlzettel schwang als den Schlüssel, der das Tor in der Wand öffnen sollte, mußte sie den letzten Schluß aus ihrer Position ziehen. Sie mußte auf die selbständige Massenaktion verzichtend, sich dem Kompromiß mit der Bourgeoisie zuwenden, den Gedanken an die Koalition mit den Liberalen bei den Wahlen, 1912 aufwerfen und durchführen.
Diese Selbstdemaskierung des bisher radikal scheinenden
Parteiführertums war auch die Demaskierung der offiziellen
Parteitheorie mit Karl Kautsky an der Spitze. Karl Kautsky, der im
Jahre 1908 wie gesagt die Aera der kommenden sozialen Revolution
ankündigte, tritt jetzt gegen die Massenstreikpropaganda und für
die Koalition mit den Liberalen ein. Der praktische Bruch im Lager
des Radikalismus, die Dreiteilung der Partei in Revisionismus,
Zentrum und Linksradikalismus führte auch zur Spaltung des Lagers
des Marxismus in Linksradikale und Kautskyaner. Rosa Luxemburg führte
in einem großen Teil dieser Kämpfe an erster Stelle die Klinge.
Ihre Polemik gegen Karl Kautsky in der Frage des Massenstreiks, in
der ihr mit selbständiger, tiefgreifender Analyse Anton Pannekoek
zur Seite stand, zeigte, daß der offiziöse Marxismus ebenso wenig
wie die Parteibürokratie, die russische Revolution verstanden hat.
Wenn Rosa Luxemburg in der russischen Revolution trotz ihrer
Bedingtheit durch die besonderen sozialen Verhältnisse Rußlands die
erste Repetition der sozialen Revolution sah, so suchte Kautsky alle
Lehren der russischen Revolution auf das Konto der besonderen
Verhältnisse zu legen und den Standpunkt Rosa Luxemburgs als
mechanische Uebertragung der Erfahrungen der russischen Revolution
auf ganz andere deutsche Verhältnisse zu bekämpfen. In Rußland sei
die Massenbewegung spontan gewesen, weil die Arbeiterklasse unter dem
Zarismus sich nicht organisieren konnte, und weil sie nicht
organisiert war, weü ihre Ausbeutung viel größer war, als die der
deutschen Arbeiterklasse, deshalb mußten die ökonomischen Kämpfe
in Rußland mit den politischen ineinander fallen, führte Karl
Kautsky aus. In Deutschland werde es ganz anders sein, hier werden
die Gewerkschaften die ökonomischen Kämpfe ganz gesondert von den
politischen führen. Politische Massenstreiks seien nur möglich in
organisierter Form, wenn sich an ihre Spitze Partei und Gewerkschaft
stellen. Die Partei und die Gewerkschaft können sich aber nicht in
Abenteuer werfen, dafür stehe zuviel auf dem Spiel. Sie müssen
abwarten, bis der Feind die Arbeiterklasse zum Kampf nötigt,
inzwischen müssen sie alle Möglichkeiten ausnutzen, und zu denen
gehöre auch das Wahlbündnis mit der Bourgeoisie Es genügt jetzt,
sich an die Klagen zu erinnern, mit denen Karl Kautsky die deutsche
Revolution verfolgt, es genügt, daran zu erinnern, wie er die
deutschen Arbeiter anklagt, sie führten ihre Kämpfe unorganisiert
und nicht systematisch, sie seien von einer strotzenden Unwissenheit
in ökonomischen Fragen, gehorchten nicht den Instanzen und ihren
wissenschaftlichen Beratern, es genügt, sich an die Resultate der
Koalition mit der Bourgeoisie zu erinnern, die Kautsky im November
befürwortete, indem er sogar sich als jüngerer Hilfsarbeiter Herrn
Solf, dem letzten Auslandsminister Wilhelms II., unterstellte, um der
Pflicht enthoben zu sein, das Richtige in der Haltung Rosa Luxemburgs
in ihren Kämpfen gegen Kautsky zu verteidigen. Nicht schematische
Uebertragung der russischen Erfahrungen war das Zeichen des
Standpunktes Rosa Luxemburgs, sondern sie gewann durch die russische
Revolution, das lebendige Bild einer Massenbewegung, und wieviel auch
in diesem Bilde auf das Konto der russischen Verhältnisse fallen
konnte, es war, doch ein typisches Bild, das ihr half, die Zukunft,
die Formen der Massenbewegung in den kommenden revolutionären
Auseinandersetzungen zu verstehen. Und wer jetzt die Vorkriegsartikel
Rosa Luxemburgs über die Rolle der Parteibürokratie nachliest, der
hat in ihnen schon die Grundlagen des kommenden Zusammenbruchs des
internationalen Sozialismus im Weltkrieg angezeigt. Sie sind Urkunden
der Geburt der kommunistischen Bewegung Deutschlands. Sie zeigen, wie
weit ihre Quellen zurückreichen. Sie zeigen, wie bodenständig der
deutsche Kommunismus ist, wie sehr er in der Vergangenheit der
deutschen Sozialdemokratie wurzelt. Hand in Hand mit diesen
Differenzen über die innere Politik der deutschen Sozialdemokratie
gingen die Differenzen über ihre auswärtige Politik. Wenn der
Imperialismus die höchste Form war, in der sich die Kräfte des
deutschen Kapitals zusammenballten, so ist damit gesagt, daß die
deutsche Sozialdemokratie, die auf jeden Versuch der Verschärfung
des Kampfes gegen den deutschen Kapitalismus verzichtete, vollkommen
dem Imperialismus gegenüber versagen mußte. Da sie ihre Ohnmacht,
ihre Unfähigkeit zum Kampfe gegen den Imperialismus, der die
Arbeiterklasse mit voller Vernichtung bedrohte, nicht offen
eingestehen konnte, so mußte sie sich, wie es jeder Schwächling
tut, Illusionen über sich selbst machen. Die deutsche
Sozialdemokratie suchte in ihrer Presse, in ihrer parlamentarischen
Aktion den Imperialismus als die Politik der Schwerindustrie
darzustellen. Sie negierte seinen universellen Charakter als der
dominierenden Politik des Kapitalismus in seiner reifsten Epoche und
sie suchte den Massen einzureden, als seien einflußreiche Schichten
des Weltkapitals interessiert an der Abrüstung und als könne die
Arbeiterklasse durch ein Bündnis mit ihnen die Gefahr des
Imperialismus bannen. Als diese Auffassung sich in der Presse und in
der parlamentarischen Aktion immer mehr durchsetzte, unternahm ich in
der militärischen Kommission des Kopenhagener internationalen
Kongresses den Vorstoß gegen diese Auffassung. Von der ganzen
Parteipresse stellte sich nur die Redaktion des Bremer und Leipziger
Parteiblattes auf meine Seite, ln der Diskussion, die nach dem
Kopenhagener Kongreß begann, zeigte es sich sofort, daß Karl
Kautsky, der bisher in schärfster Weise die Tendenzen des
Imperialismus durchleuchtete, jetzt versagen mußte. Kautsky stellte
sich auf die Seite der Sozialpazifisten und wurde zu ihrem
Bannerträger; aber ebenso rücksichtslos stellte sich Rosa Luxemburg
auf unsere Seite, die Seite der kleinen Gruppe, die die Gefahr des
Sozialpazifismus bekämpfte und in ihm den gemeinsamen Boden des
Reformismus und des Parteizentrums sah. Sie übertrug den Kampf
sofort auf das Gebiet der politischen Aktion, indem sie während der
Marokkoaffäre mit voller Energie gegen die Unaktivität des
Parteivorstandes Anklagen erhob und für die Massenaktion als
einziges Mittel gegen den Krieg eintrat. Im Lager des
Linksradikalismus entstanden später Differenzen in der theoretischen
Analyse der Triebkräfte des Imperialismus. Das Buch Rosa Luxemburgs
über die Akkumulation des Kapitals, das eine scharf
durchdachte originelle Theorie des Imperialismus gab fand nicht
einheitlichen Empfang unter den Theoretikern der Linksradikalen; aber
in der praktischen Frage der Massenaktion, der Bekämpfung des
Sozialpazifismus stand das linksradikale Lager einheitlich da, und
wie in der Frage des Massenstreiks bildete sich schon damals die
konkrete Auffassung, die jetzt der Kommunismus in den Fragen der
Weltpolitik vertritt. Die Epoche des Weltimperialismus wurde als die
Epoche der beginnenden sozialen Revolution anerkannt, gegen die
feindliche Koalition des Weltkapitals die gemeinsame Front des
Proletariats erstrebt, gegen die Gefahr des Krieges die Losung
aufgestellt: besser den Aufstand als den Krieg.
Der Krieg brach aus. Die Arbeitermassen standen unschlüssig da. Ein Teil von ihnen, verbunden mit dem Kapitalismus durch eine kleinbürgerliche Existenz, fühlte sich für die Geschicke des Vaterlandes verantwortlich, das er auch für sein Vaterland hielt. Der andere Teil stand und wartete auf die Parole der Partei. Er hatte nicht genügend selbständige revolutionäre Kraft, um sich ohne Führer zu erheben, ja auch nur um gegen den Krieg zu protestieren. Die Partei aber verhielt sich zuerst unentschlossen. Auf ihrem Banner las man nur die Parole: Genossen, laßt euch nicht provozieren! Aber nach ein paar Tagen der Unentschlossenheit hat die Partei die Parole gefunden: sie bekannte sich nicht dazu, was sie immer sagte, wie die Haasesche Formel am 4. August lautete, sondern sie bekannte sich dazu, was sie in dem letzten Jahrzehnt tat. Sie bekannte sich zu ihrer Kampfunfähigkeit, sie bekannte sich zu den Banden, die sie mit der Bourgeoisie vereinigten. Die internationale, völkerbefreiende Sozialdemokratie, oder wie es sonst in den pathetischen Resolutionen der Parteitage hieß, wurde die Kriegsdrommete, und die Arbeitermassen, die der Imperialismus auf die Schlachtfelder zog, kriegten für ihre Leiden das Opium der Parteiversicherung, daß sie nicht für die Sache des Kapitals, sondern für die der Arbeiterklasse sterben. In der Reichstagsfraktion zeigte sich bald, wie faul der offizielle Linksradikalismus war. Alles Bittere, alles Aetzende, was Rosa Luxemburg über die Parteibudiker, Parteisekretäre, Parteiredakteure radikaler Art jemals geschrieben hatte, alles das wurde von der Wirklichkeit übertrumpft. Der nackte Verrat grinste in der Gestalt der Fraktion den proletarischen Massen entgegen. Er lähmte die paar Mann, die entschlossen waren das Minimum zu tun, öffentlich den Krieg zu brandmarken, die Kredite abzulehnen. Und die Lähmung, die einen Liebknecht am 4. August ergriff, sie ergriff auch die besten Kreise der Arbeiterklasse. Man hatte das Gefühl, daß es vollkommen unnütz ist, gegen den Zusammenbruch der Partei zu schreiben. Man hatte doch fünfzig Jahre für den revolutionären Sozialismus geschrieben, und was hat es geholfen? Rosa Luxemburg war ein paar Tage von wilder Verzweiflung gepackt. In den Kreisen ihrer Freunde fürchtete man um sie, da sie schwer herzkrank war. Aber sie raffte sich sofort wieder auf und begann als eine der ersten den Kampf gegen den Verrat. Sie reiste in ganz Deutschland herum, suchte die abgerissenen Fäden wieder aufzunehmen, orientierte sich über die Möglichkeiten der Situation. Sie begann auch bald in der Presse – es stand ihr nur das kleine Gothaer Parteiblatt zur Verfügung – den Kampf gegen all die betörenden Phrasen, die die Regierungssozialisten zur Verwirrung der Massen gebrauchten. Der Standpunkt, den Rosa Luxemburg vom ersten Tage des Krieges an vertrat, war für sie selbstverständlich. Er war schon zwanzig Jahre früher in den programmatischen Auseinandersetzungen des polnischen Sozialismus gewonnen.
Der Krieg drohte mit der Vernichtung der nationalen Unabhängigkeit
einzelner Staaten. Wer auf dem Boden stand, daß das Proletariat ein
besonderes Interesse an der Existenz eines nationalen Staates hat,
der mußte für die nationale Verteidigung eintreten. Die
Verteidigung der nationalen Unabhängigkeit eines Staates bedeutete,
wie die Dinge einmal in der Wirklichkeit standen, die Bedrohung der
nationalen Unabhängigkeit der anderen Staaten, deren Bewahrung vom
nationalistischen Standpunkt doch ein Lebensinteresse des
Proletariats des anderen Landes war, vom sozialpatriotischen
Standpunkt – diese Bezeichnung, die auf dem polnischen Boden in den
Programmkämpfen des polnischen Sozialismus im Jahre 1893 entstand,
bekam jetzt internationale Bedeutung – bestand hier ein unlösbarer
Widerspruch zwischen den Interessen des Proletariats einzelner
Länder. Jedes von ihnen hatte ein Interesse an der Verteidigung der
Unabhängigkeit seines Landes und jedes wurde in der
imperialistischen Wirklichkeit zum Werkzeug der Zertrümmerung der
Unabhängigkeit des anderen Landes. Die wankenden Elemente des
Sozialismus suchten diesem Widerspruch zu entgehen, indem sie vor der
Wirklichkeit die Augen schlossen, und als ihr Ziel den Kriegsschluß
ohne Sieger und Bewegte erklärten. Die Sozialpatrioten, die sich in
Sozialimperialisten verwandelten, erklärten sich nicht nur dafür,
daß der Leib näher sei als das Hemd, sondern sie erklärten, die
eventuelle Unterjochung anderer Völker bilde einen historischen
Fortschritt, liege im Interesse des Proletariats, indem sich durch
diese Unterjochung auf dem politischen Gebiet dieselbe Konzentration
vollzöge, wie auf dem ökonomischen Gebiete durch die Trusts. Vom
marxistisch-kommunistischen Standpunkt, der durch die theoretische
Arbeit Rosa Luxemburgs gewonnen war, lösten sich die Fragen ganz
anders. Wenn die nationale Unterdrückung eines Teiles des
Weltproletariats durch die Bourgeoisie eines Erobererlandes für
dieses Proletariat ein Stück seiner politischen Entrechtung
bildet, gegen die gekämpft werden muß, so ist sie ebenso ein Stück
der politischen Entrechtung für das Proletariat der siegreichen
Nationen. Denn dieselben Organe, die z. B. im Interesse der
deutschen Bourgeoisie die belgischen Proletarier im Fälle eines
deutschen Sieges unterdrücken würden, würden auch das deutsche
Proletariat unterdrücken. Die Rettung davor lag aber nicht in dem
Siege der Entente, die, wie der Ausgang des Krieges zeigt, jetzt das
deutsche Proletariat politisch, ökonomisch und national ausbeutet
und unterdrückt und dazu eine Maschine schaffen muß, die auch die
Ententeproletarier unterdrücken wird. Auf der früheren Stufe der
historischen Entwicklung bildete die einzig mögliche Lösung der
Kampf um die Demokratie in dem siegreichen Lande, gemeinsam geführt
von dem Proletariat der siegreichen und besiegten Nation. Diese
Lösung war unvollkommen, wie jede Lösung auf dem Boden des
Kapitalismus. Denn der Kapitalismus läßt eine wirkliche Demokratie
nicht zu, also auch keine wirkliche Aufhebung der nationalen
Unterdrückung. In den welthistorischen Bedingungen des Krieges
1914/18, wo schon die objektive Möglichkeit der Verwandlung der
kapitalistischen Gesellschaft in die proletarische besteht, bildet
die soziale Revolution, die Zertrümmerung des kapitalistischen
Staates, die Bildung der proletarischen Staaten, die keine Ausbeutung
kennen, auf jede nationale Unterdrückung verzichten können, die
historische Lösung. Nicht nationale Verteidigung der
kapitalistischen Länder, sondern soziale Revolution, Diktatur des
Proletariats, Bund der proletarischen Staaten, das war die Antwort,
die vom kommunistischen Standpunkt aus zu geben war, und Rosa
Luxemburg gab diese Antwort 1914. Sie konnte sie ohne Wanken geben;
denn dieser Standpunkt war vorbereitet durch die theoretische Arbeit
ihrer Jugend. Aber es handelte sich nicht um eine propagandistische
Vertretung einer Theorie, eines Standpunktes, sondern es handelte
sich um den Kampf, es handelte sich darum, allen Gefahren trotzend,
in die Massen zu gehen, eine revolutionäre illegale Organisation zu
schaffen. Dies schien angesichts der friedlich legalen Gewöhnung der
deutschen Genossen eine fast unmögliche Aufgabe. Als ich im November
1914 nach der Schweiz ging, um dort die Berner Tagwacht für
die Rolle eines ausländischen Organs der deutschen Opposition zu
gewinnen, und nach meiner Rückkehr mit dem Genossen Franz Mehring
die Einzelheiten der illegalen Nachrichtenübermittlung verabredete,
erzählte mir Franz Mehring, Rosa Luxemburg fürchte, daß die
Deutschen, wenn sie sich auf Konspiration einlassen, noch leichter in
die Hände der Polizei laufen, als wenn sie offen ihre Dinge machen.
Aber wo der revolutionäre Wille ist, werden auch alle technischen
Hindernisse überwunden. Der Kreis um Rosa Luxemburg wurde zum Träger
der radikalen deutschen Opposition. Trotz der ununterbrochenen
Verhaftungen, trotz dem Mangel an materiellen Mitteln, verstand er
den überwiegenden Teil der früheren linksradikalen Opposition in
der Partei um sich zu sammeln und illegal zu verbinden. Wenn
Liebknechts Auftreten im Reichstag das Signal des Kampfes nach außen
war, so war es das Auftreten von Rosa Luxemburg in Hunderten von
Parteiversammlungen, und die schriftliche illegale Propaganda, die
von, ihr im Anfang des Jahres 1915 organisiert wurde, die die
linksradikale Opposition in der Partei zusammenfaßte. Der Kampf ging
nach zwei Fronten. Er richtete sich ebenso gegen die Vertreter der
offiziellen sozialdemokratischen Politik, gegen die Männer des 4.
August, wie gegen die angeblich Oppositionellen, gegen die Haase und
Ledebour, die zwar am 4. August in der Fraktion als Gegner der
Kreditbewilligung auftraten, aber sich mit allen Kräften gegen eine
offene Opposition in der Partei stemmten, indem sie die Fahne der
Parteieinheit schwenkten, die „Gefahr der Spaltung“ an die Wand
malten. Der Kampf richtete sich mit voller Wucht gegen den
Theoretiker dieser Auch-Opposition, gegen Karl Kautsky, der sogar
nach dem vollkommenen Zusammenbruch seiner Politik sich nicht
aufzuraffen wußte, sondern umgekehrt mit seiner Phrase von der
Internationale, – dem Instrument des Klassenkampfes im Frieden und
des Friedens im Kriege, seine vollkommene Unfähigkeit zur
revolutionären Umkehr, bekundete. Der Kreis Rosa Luxemburgs schuf
sich das zu den Massen sprechende Organ in einer Flugblattliteratur
und in den sogenannten Spartakusbriefen, das klärende Organ
in der Internationale, das jedoch sofort nach seinem
erscheinen konfisziert, zu existieren aufhörte, der Gruppe Rosa
Luxemburgs aber den Namen der „Internationalen Gruppe“ verlieh.
Die Regierung wußte natürlich von der Tätigkeit Rosa Luxemburgs.
Aber da sie trotz aller Häscher sie nicht in ihre Netze einfangen
konnte, ließ sie sie kurz und bündig einsperren zur Verbüßung der
Strafe, die ihr von dem Frankfurter Gericht wegen ihrer
Militarismusreden aufgebumst worden war, obwohl diese Strafe nach dem
klaren Wortlaut des Amnestieerlasses aufgehoben war. Rosa Luxemburg
verschwand hinter den Gefängnisgittern, und, mit kurzen
Unterbrechungen, sollte sie im Gefängnis bleiben, bis der
Zusammenbruch des deutschen Imperialismus, bis die Novemberereignisse
die Tore ihres Gefängnisses sprengten. Aber keine
Ueberwachungskünste konnten Rosa Luxemburg davon zurückhalten,
ihren kämpfenden Genossen zu helfen. Die Juniusbroschüre,
wie unzählige Artikel über alle entscheidenden Fragen der Bewegung
wurden im Gefängnis geschrieben und von den Freunden Rosa Luxemburgs
aus dem Gefängnis geschmuggelt. Dies war nur möglich, weil Rosa
Luxemburg durch ihr warmes Menschentum, durch ihr einfaches
menschliches Verhältnis zu den Wärterinnen wie zu all den Opfer des
Kapitalismus, mit denen sie zusammen eingepfercht war, eine
Atmosphäre der freundschaftlichen Teilnahme und Liebe um sich schuf.
Abgeschnitten von der Welt, angewiesen auf sehr spärliche
Informationen über die Lage in Rußland, war sie voller Angst um die
Geschicke der russischen Revolution. Sie fürchtete,
daß es dem deutschen Imperialismus gelingen wird, die russische
Revolution zu erdrosseln und von diesem Standpunkt aus stand sie der
Taktik der Bolschewiki in der Friedensfrage kritisch gegenüber. Aber
während die Kautsky, die sich jetzt unter die Fittiche der
Luxemburgischen Kritik des Bolschewismus verschanzen wollen, nicht
den Finger rührten, um die deutsche Arbeiterklasse zum wirklichen
revolutionären Kampf zu bewegen, dessen Fehlen die gefährliche
Situation schuf, in der sich die russische Revolution außenpolitisch
befand, endete die Luxemburgische Kritik immer in dem Appell an die
deutschen Arbeiter, die sie verantwortlich machte für all die
Gefahren, in denen sich die russische Revolution befand. Und deshalb
wußten wir immer, wenn wir die Artikel Rosa Luxemburgs im Spartakus
lasen, daß wir trotz ihrer Kritik an uns, mit ihr in der Tat einig
waren; denn sie suchte in Deutschland die Pflicht zu erfüllen, die
wir in Rußland erfüllten. Als die Novemberrevolution ihr die Tore
des Gefängnisses öffnete, waren die Meinungsverschiedenheiten
zwischen ihr und uns zu Ende, wodurch am besten bewiesen war, daß
sie nicht prinzipieller Natur waren. Mit größter Energie stürzte
sie sich trotz ihrer schwachen Gesundheit in die Bewegung. Sie
erfüllte in ihr die erste Rolle eines Revolutionärs. Sie begann mit
eiserner Energie und flammender Leidenschaft den Kampf gegen die
Illusionen der Novemberrevolution, gegen die Illusionen der
Demokratie, für die Losungen der russischen Revolution, für die
Diktatur des Proletariats und die Räteherrschaft einzutreten. Wenn
die Hilferding und Kautsky damals ihr Starenlied von der
schablonenhaften Uebertragung der russischen Erfahrungen auf
Deutschland von neuem begannen, so ist ihnen dies Lied bald im Halse
stecken geblieben, als die Unabhängigen Sozialdemokraten im November
den Warnungen Rosa Luxemburgs kein Gehör gaben, durch die
Mehrheitssozialisten mißbraucht, politisch im Januar
zusammenbrachen, und sich auf den Boden der „russischen Losungen“
zu retten suchten. Das Programm des Spartakusbundes, das Anfang
Dezember veröffentlicht, in gemeißelten Sätzen lapidarisch den
Beginn des Kampfes des deutschen Proletariats um die Diktatur
theoretisch einleitete, war von Rosa Luxemburg geschrieben. Sie war
die Seele der Roten Fahne, des Organs der deutschen
Revolution, und Ende Dezember half sie, der Konstituierung des
deutschen Kommunismus als besondere Partei organisatorische Form zu
geben. Wie klar sie den Weg vor sich sah, zeigte ihre programmatische
Rede auf dem Parteitag, zeigte die Tatsache, daß sie die jungen,
vorwärtsstürmenden Kolonnen vor Ueberschwang warnte, indem sie für
die Teilnahme an den Wahlen zur Nationalversammlung eintrat. Sie sah,
daß der Weg zum Siege in Deutschland viel schwieriger sein, viel
länger dauern wird als in Rußland, und fremd der revolutionären
Phrase zog sie daraus offen die Konsequenz, ohne zu fürchten, daß
ihr irgendein Rühle Opportunismus vorwerfen könnte.
Rosa Luxemburg fiel am Anfang des langen Märtyrernwegs, der der Weg des deutschen Proletariats zur Macht ist. Sie wird der deutschen Arbeiterklasse nicht mehr mit ihrem Rat helfen, der nicht aus der Situation geboren, sondern die ganze Vergangenheit der Arbeiterbewegung, alle ihre Lehren berücksichtigend, die Gegenwart an Hand der Vergangenheit klärt, um die Zukunft vorzubereiten. Das aufpeitschende, anfeuernde Wort Rosa Luxemburgs, dem die Massen mit religiösem Eifer zuhörten, weil sie hinter ihm die große Seele der Kämpferin sahen, die bereit war, für jedes ihrer Worte zu sterben, wird nicht mehr erschallen. Aber die Schriften Rosa Luxemburgs, die herauszugeben die deutschen Kommunisten – trotz aller Arbeit – Zeit und Muße finden müssen, bilden den Schatz, der solange dem deutschen und internationalen Proletariat die größten Dienste leisten kann, solange es um seine Befreiung ringt. Was Rosa Luxemburg dem deutschen und internationalen Proletariat war und ist, liegt nicht in der Vergangenheit, es .liegt erst in der Zukunft, wenn breite Kreise der Kommunisten ihre gesammelten Schriften auf sich einwirken lassen werden, wenn sie in sich ihren Geist aus diesen Schriften aufnehmen. Es handelt sich nicht darum, daß wir Kommunisten jede ihrer Auffassung teilen. Anton Pannekoek hat ihr Buch über die Akkumulation des Kapitals, der Schreiber dieser Worte hat sich kritisch gegen den positiven Teil der Juniusbroschüre gewandt; aber niemand, der im Namen des Kommunismus sprechen will, der kommunistisch denkt, wird diese Schriften aus der Hand legen, ohne das Bewußtsein, daß mit Rosa Luxemburg der größte, tiefste theoretische Kopf des Kommunismus, gestorben ist, daß sie unsere Führerin ist, von der die kommunistischen Arbeiter noch Jahrzehnte lang zu lernen haben werden. Wie Rosa Luxemburg immer wieder darauf hinwies, daß es sich nicht um die einzelnen Resultate der Marxschen Analyse, sondern um die Marxsche Methode handele, so müssen wir die Schriften und Lehren Rosa Luxemburgs behandeln. Nicht der einzelnen ihrer Schlußfolgerungen, sondern der Methode wegen bilden sie eine Schule des Kommunismus. Aber auch von einem anderen Standpunkt aus sind sie von der größten Bedeutung. Dadurch, daß Rosa Luxemburg ebenso sehr in der polnischen, russischen, wie in der deutschen Arbeiterbewegung wurzelte, dadurch, daß sie durch ihre intime Kenntnis der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung ebenso in den Fragen des französischen, wie englischen Sozialismus zu Hause war, ist sie die Vertreterin der Internationalität der kommunistischen Bewegung und ihr Verlust ist nicht nur der Verlust der Führerin des deutschen Kommunismus, er ist der Verlust einer der hervorragendsten Vermittlerin des Verständnisses der Internationalität unserer Bewegung. Und noch von einem anderen Standpunkt aus ist das Lebenswerk Rosa Luxemburgs von einer außerordentlichen Bedeutung. Eben dadurch, daß sie praktisch an zwei verschiedenen Bewegungen teilnahm, die sich auf verschiedenen Stufen der Entwicklung befanden, mußte sie nicht retrospektiv, sondern aktiv die Probleme aller Phasen der internationalen Arbeiterbewegung durchdenken. Wenn ihre Schriften gesammelt vorliegen werden, wird man in ihnen historisch aneinander gereiht, direkt alle Probleme des internationalen Sozialismus vor sich haben. In den Kämpfen um das Programm des polnischen Sozialismus durchdachte sie die Frage der Ablösung des Proletariats von der Bourgeoisie. In den Kämpfen mit dem Revisionismus durchdachte sie die Frage des Kompromisses der selbständigen Arbeiterpartei mit der Bourgeoisie. In den Fragen der russischen Revolution und in den Kämpfen um den Massenstreik in Deutschland rollte sie die Frage der Mobilmachung des Proletariats zum Kampf um die Macht vor uns auf. Ihre Artikel am Vortage der deutschen Revolution und in der deutschen Revolution, führen uns geistig in die Probleme der Weltrevolution.
Rosa Luxemburg war nicht nur die Denkerin und die Kämpferin des deutschen Kommunismus; nichts was menschlich ist, war ihr fremd. Und diese große Menschlichkeit Rosa Luxemburgs, die jeden anzog, der mit ihr in Berührung stand, diese Menschlichkeit wurde gekrönt, indem sie für die Sache, für die sie ihr Leben lang stritt, im Kampfe fiel. Als die Januarbewegung niedergeschlagen wurde, dachte Rosa Luxemburg keinen Augenblick an die Flucht, keiner der Genossen, die sie kannten, wagte ihr den Gedanken an die Flucht nahezulegen. Es kostete genug Mühe, sie zu überreden, sich versteckt zu halten. Da die fassen bluteten, wollte sie nicht an sich denken. Sie starb auf dem Posten und ihr Blut wird für die Sache zeugen, der sie diente. Es wird ihrer Stimme ein Gehör verschaffen, wie sie sie nicht haben würde, wäre sie lebendig unter uns geblieben. Wie ein Symbol liegt sie auf der Schwelle der proletarischen deutschen Revolution. Sie sagt dem deutschen Proletariat, wer für sie gekämpft hat, sie sagt dem deutschen Proletariat, in wem die sterbende kapitalistische Welt ihren gefährlichsten Feind sah. Sie sagt dem deutschen Proletariat, unter wessen Fahne allein es siegen kann. Der blutige, zerfetzte Leichnam Rosa Luxemburgs ist die Fahne des deutschen Kommunismus. Die Berliner Arbeiter zogen in Hunderttausenden hinter diesem von den Schergen der Konterrevolution verborgenen Leichnam, und die Todesfeier für Rosa Luxemburg wird alljährlich zeigen, wie groß die Massen derer sind, die ihren Ruf aus dem Grabe vernehmen.
Zuletzt aktualiziert am 1. Oktober 2016