Karl Radek


Lehren der Märzkämpfe

(1921)


Die Internationale, Jahrgang 3, Heft 7, Berlin 1921, S.277-280.
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Es unterliegt keinem Zweifel, daß sich in Deutschland ein unaufhaltbarer Prozess der Radikalisierung der Arbeiter vollzieht. Diese Radikalisierung äußert sich einstweilen in der wachsenden Mißstimmung mit den bestehenden Verhältnissen. Arbeiter, die an die Besserung ihrer Lage in den politischen Verhältnissen, die jetzt bestehen, glauben, sind wohl sogar mit der Kerze nicht aufzufinden. Aber nur ein Teil der Arbeiterschaft ist vom Kampfeswillen belebt, die Mehrheit fühlt sich ohnmächtig, die Verhältnisse zu ändern. Je mehr der Druck steigt, desto unsicherer fühlt sie sich. Aber noch immer starrt sie auf die Gewerkschaftsleitungen in den sozialdemokratischen Parteien und hat keinen Mut, offen mit ihnen zu brechen. Unsere Erfolge in der Kampagne, die unter der Losung des Offenen Briefes geführt wurde, bedeuteten einen Schritt eines Teiles der Arbeiterschaft nach links. Aber es war eine Verschiebung in der Stimmung, nicht in der Tat. Die Kampagne für den Offenen Brief konnte agitatorisch natürlich nicht ohne Ende geführt werden. Man kann nicht ohne Ende agitieren für eine Aktion und gleichzeitig unaktiv bleiben und gleichzeitig die Massen auf die Zukunft vertrösten. Die Agitation in den Gewerkschaften, die Agitation in den Versammlungen wie in der Presse musste erstens gesteigert werden durch eine Reihe politischer Kampagnen. Es musste versucht werden, die sich für die Forderungen des Offenen Briefes aussprechenden Arbeitermassen auf einer weit sichtbaren Tribüne zusammenzuführen, es musste versucht werden, die Agitationsperiode zu einem vorläufigen Abschluß auf höherer politischer Stufe zu bringen, sei es durch Einberufung von Arbeiterkongressen der Industriezweige, in denen sich die Aktivisierung der Arbeiterschaft bemerkbar machte, sei es eines allgemeinen Arbeiterkongresses von Vertretern lokaler Gewerkschaften, die sich für die Forderung des Offenen Briefes erklärt haben und von Vertretern öffentlicher Versammlungen, die zu diesem Zwecke einberufen werden konnten. Es mußte gleichzeitig in der gesamten Parteipresse, in den Flugblättern ein aufrüttelnder Angriffston angeschlagen werden, der in den breiten Massen das Bewußtsein wachrufen würde, dass es notwendig ist zu handeln, daß die Kommunisten gewillt sind zu handeln. Die Forderungen der Entente, der vollkommene Zusammenbruch der bürgerlichen Politik, die schwere Krise, in der sich das bürgerliche Deutschland befand, bildeten einen günstigen Boden für den Versuch der Partei, breite Massen der Arbeiterschaft um die Kommunistische Partei zu scharen, die Scheidewände niederzureißen, die die Mehrheitssozialdemokratie und die Unabhängigen zwischen den Kommunisten und den zurückgebliebenen Arbeitermassen aufgerichtet haben. Diese politische Aktivität, die Steigerung des Bewußtseins der Gefahr nicht nur durch Artikel, sondern durch politische Kampagnen, fehlten. Die Partei verstand nicht, die Agitation, die sie mit dein Offenen Brief begann, zu steigern, obwohl sie wußte, daß jeden Tag Situationen eintreten können, wo sie verpflichtet und genötigt sein wird, die Proletarier zum aktiven Kampf aufzufordern.

Diese Situation trat ein, als die deutsche Regierung beschloß, zur Besetzung des mitteldeutschen Kohlenreviers durch die Sipo zu schreiten. Daß dies ein bewußter politischer Akt seitens der Stinnes-Regierung war, unterliegt keinem Zweifel. Ob die Stinnes-Regierung es auf einen endgültigen Bruch mit der Entente ankommen lassen, oder sich zur Kapitulation bereiterklären will, in beiden Fällen muss sie die Arbeiterschaft fest in der Hand behalten. Sie muss imstande sein, ebenso gegen den Willen der Arbeiterschaft sich in ein Abenteuer gegen die Entente zu stürzen, wie die Arbeiterschaft mit gebundenen Händen der ententistischen Ausbeutung auszuliefern. Die Lage in Oberschlesien, die Kämpfe, die zu erwarten waren, unabhängig davon, ob die oberschlesischen Wahlen zugunsten oder zuungunsten des deutschen Kapitals ausfallen würden, forderten, daß die Regierung frei über Mitteldeutschland verfüge, das im Falle eines Kampfes mit Polen wichtiges Durchgangsgebiet für die Truppen darstellen würde. Sollte die VKPD untätig zuschauen, wie das rote Mitteldeutschland, die stärkste Burg des deutschen Kommunismus, in Banden geschlagen wird? Die Entscheidungen der Partei dürfen nicht durch Gefühlsmomente bestimmt werden; sie müssen von einer realen Einsicht in die bestehenden Machtverhältnisse bestimmt werden. Diese Einsicht ermöglichte und erforderte eine Aktion der Partei. Die Resultate unserer Agitation in den Gewerkschaften schufen um die kommunistische Partei einen Ring von ungefähr l Million von Arbeitern, auf deren Unterstützung wir rechnen konnten. Eine Massenstreikbewegung, die von anderthalb Millionen Arbeitern getragen werden kann,bedeutet einen starken politischen Schlag gegen die Bourgeoisie. Es handelt sich nur darum, den Übergang zur Aktion, den Aufmarsch dieser anderthalb Millionen Arbeiter strategisch richtig vorzubereiten und die einstweiligen Grenzen der vorauszusehenden Aktion klar zu ziehen. Weder das eine, noch das andere wurde getan. Der Aufmarsch mußte erfolgen in Anknüpfung an die bisherige Arbeit der Partei. Die Taktik des Offenen Briefes, wenn er nicht ein einmaliger Trick war, forderte, bevor wir in die Aktion schritten, vor den Massen festzustellen, dass es nicht unsere Schuld ist, wenn wir genötigt sind, zu einer selbständigen Sonderaktion zu greifen. Die Bedürfnisse des Aufmarsches erforderten also, dass wir uns noch einmal an die Gewerkschaften und an die sozialdemokratischen Parteien wenden und an sie die Frage stellen: „Wollt Ihr zusammen mit uns die Bergarbeiter Mitteldeutschlands verteidigen oder nicht?“ Da die Regierungsaktion in Mitteldeutschland von dem preußischen Innenminister, dem Sozialdemokraten Severing ausging, da sie von dem Sozialdemokraten Hörsing auf Geheiss der Bourgeoisie erfolgte, so hatten wir erstens die Aufgabe, die Sozialdemokratie zu nötigen, sich offen zu diesem Schlage gegen die Arbeiter zu bekennen, zweitens, die Unabhängigen zu nötigen, sich vor den Arbeitern in klarer Weise dazu zu bekennen, ob sie in einer Front mit der Orgesch und mit Severing oder mit den Bergarbeitern Mitteldeutschlands stehen wollen. Dies alles wurde unterlassen, wodurch die Verantwortung für die selbständige Aktion auf uns, auf die VKPD äußerlich fiel. Gleichzeitig wurde der Zweck des Kampfes nicht eng und klar begrenzt. Natürlich ist es klar, daß bei einem großen Erfolge der Aktion wir auch ihre Ziele erhöhen konnten. In dem gegebenen Moment mußten wir sie auf die Forderung der Rückgängigmachung des Erlasses Hörsings und die Bewaffnung von Arbeiterwehren konzentrieren, und wir mussten uns sagen: solange sich nicht große Massen des Proletariats der Aktion anschliessen, darf sie nicht über die Rahmen des Massenstreiks hinausgehen. Erst wenn wir große Siegeschancen vor uns hätten oder, wenn brutale militärische Eingriffe die Massen bis zur Siedehitze bringen würden, war es Zeit, den bewaffneten Arbeitergruppen die Losung zu geben: „Greift zu den Waffen!“ Und dann rnusste gesagt werden: „Schließt Euch nicht in einzelnen Punkten ein, sondern, wenn Ihr zu den Waffen greift, dann mit dem Ziele, breitere Massen der Arbeiterschaft zu bewaffnen und mit ihnen den Feind dort zu suchen, wo er geschlagen werden soll.“ Diese klare Umgrenzung der Kampfesweise wurde nicht vorgenommen. Die Arbeiter der Leunawerke und anderer Zentren unserer mitteldeutschen Bewegung griffen sofort zu den Waffen, blieben teils mit ihnen in den Werken, wo sie leicht eingeschlossen werden konnten, teils erschöpften sie ihre Kraft in ziellosen Aktionen. Das unsinnige Auftreten einzelner KAP Arbeitergruppen, die entgegen dem Willen ihrer Führer eine Reihe von Attentaten begingen, verwirrten die Arbeitermasse und erleichterten der unabhängigen Führerschaft, schamlos und offen an die Seite der Konterrevolution zu treten. Wenn man die kommunistische Presse dieser Tage verfolgt, so zeigt es sich auch, dass der kommunistische Parteiapparat den Übergang von der Agitation zur Aktion nicht ohne weiteres vollziehen konnte. Weder die Presse noch die Organisationsleiter verstanden es, mit voller Energie und Leidenschaft aufzutreten, mit Ausnahme von ein paar Organen wie die Rote Fahne und das Hamburger Parteiblatt zeigen sie nicht das Verständnis des Ernstes der Lage, in der sich die Vorhut des Proletariats befand.

Wir haben mit voller Offenheit die Mängel der Bewegung dargelegt, wie wir sie auf Grund des uns vorliegenden Materials sehen, denn ohne ihre Klarlegung und ohne ihre offene Besprechung ist es unmöglich, die nächsten Aktionen besser zu gestalten und auszuführen. Aber über der Kritik darf nicht vergessen werden, erstens, daß ein allgemeiner endgültiger Kampf ohne Vorkämpfe unmöglich ist. Wer aus Anlass dieser Aktion naserümpfend über „revolutionäre Gymnastik“ spricht, der beweist, dass er das ABC der kommunistischen Politik nicht verstanden hat. Eine Arbeiterklasse, die sich gewöhnt, ihre Politik als ein reines Rechenexempel zu behandeln und aus der Rechnerei heraus jede Provokation, jeden Schlag annimmt in der Hoffnung auf die letzte Abrechnung, wird niemals zu dieser letzten Abrechnung kommen. Natürlich kann sich die Partei nicht jeden Tag in den Kampf stürzen, sie rnuss die Situationen abwägen. Eine kommunistische Kritik, die zu beweisen suchen würde, dass aus Anlass der Ereignisse in Mitteldeutschland es nicht notwendig war, den Kampf zu beginnen, wäre keinesfalls eine unzulässige Kritik. Aber die Kritiker der Aktion aus den Parteikreisen sprechen sich gegen die Märzaktion als einen bakunistischen Putsch aus mit folgender Begründung: die Aktion sei eine Parteiaktion gewesen, ein Kampf gegen große Arbeitermassen. Dieser Vorwurf des bakunistischen Putsches beruht auf dem Missbrauch des Wortes Putsch und des Namens Bakunin. Ein Putsch besteht, wenn ein kleiner Teil von Revolutionären durch konspirativ vorbereitete Erhebung versucht, die Macht an sich zu reißen. Hier trat die Partei, die eine halbe Million Mitglieder zählt, offen auf und suchte die Arbeitermassen zu einem Abwehrkampfe ihrer eigenen Interessen zu führen. Dieser Kampf mag mit einer Niederlage geendet haben, er stellte den ersten Versuch der VKPD dar, in einer einheitlichen Aktion die gemeinsamen Interessen des deutschen Proletariats zu verteidigen.


Zuletzt aktualiziert am 8.8.2008