Karl Radek


Genua, die Einheitsfront und die Komintern

I. Vor Genua

Die Führer der siegreichen kapitalistischen Welt haben drei Jahre nach den Friedensschlüssen zu Versailles, Trianon, St. Germain und Sèvres, die die Lage in Europa auf kapitalistischem Boden stabilisieren sollten, beschlossen, eine internationale Konferenz nach Genua einzuberufen, die diese so ausgezeichnet befriedete und geordnete Welt von neuem zu ordnen beginnen soll.

Würden wir der Meinung sein, dass die alliierten Diktatoren in Genua plötzlich Vernunft annehmen, dass sie sich zu einer wenigstens vom kapitalistischen Standpunkt aus vernünftigen Politik bekennen würden, dass sie imstande wären, in Genua wirklich eine neue Ära zu beginnen, so brauchten wir uns momentan den Kopf über unsere Aufgaben nicht besonders zu zerbrechen. Wir hätten dann die Aufgabe, auf die Gaben von Genua zu warten und diese Gaben zu empfangen, wie es im Hildebrand-Lied heißt: Spitze gegen Spitze. Aber ebenso wenig wie ein Trinker und Kartenspieler vom Montag an ein neues Leben beginnt, ebenso wenig wird die kapitalistische Welt in Genua einen neuen Abschnitt ihrer Geschichte beginnen. Genua wird, falls die Konferenz überhaupt stattfindet, der Schauplatz erbitterter Kämpfe nicht nur zwischen den Vertretern des ersten Proletarierstaates, Sowjetrussland, und der kapitalistischen Welt, sondern Genua wird der Schauplatz harter Kämpfe innerhalb der kapitalistischen Welt selbst sein. Genua wird Probleme aufrollen, die die kapitalistische Welt gar nicht lösen kann. Genua wird eine Etappe in dem Kampfe sein, der sich seit drei Jahren abspielt. Und wenn die revolutionären Bewegungen in Genua ihre Vertretung nur in der Gestalt der russischen Delegation haben werden, so wird Genua doch eine Schlacht zwischen der revolutionären Arbeiterbewegung der Welt und dem Kapital, und es wird zum Ausgangspunkt neuer Schlachten zwischen Weltkapital und Proletariat werden.

Aus diesem Grunde ist es notwendig, sich jetzt der ganzen weltpolitischen Lage, der Interessengegensätze und der verschiedenen Strömungen bewusst zu werden. Denn nur auf diese Weise werden wir imstande sein, eine richtige taktische Linie für die kommunistischen Parteien aller Länder zu finden, um nicht nur Zuschauer der Kämpfe zu sein, sondern selbst aktive Kampfesteilnehmer zu werden.

Sehen wir uns die Weltlage an, wie sie sich in den letzten drei Jahren gestaltet hat.

Der Bankrott des Völkerbundes

Das erste, was uns in die Augen springt, ist, dass in Genua der Völkerbund fehlt. Wie Sie wissen, beschlossen die Alliierten in Versailles, eine internationale Organisation der Staaten zu gründen, die die Aufgabe bekommen sollte, alle ihre Streitfragen zu lösen, ein neues Zusammenleben der Völker zu ermöglichen. Drei Jahre sind verflossen, und die siegreichen Mächte, die diesen Völkerbund gegründet haben, treten zusammen, um festzustellen, dass sie am Rande des Bankrotts stehen; und an der Rettungsarbeit, an die sie, wie sie sagen, herantreten, nimmt die Institution, die zur dauernden Rettung und Ordnung der Welt gebildet wurde, nicht teil.

Genossen, wir brauchen dem Völkerbund keine Tränen nachzuweinen, aber wir müssen uns klar darüber werden, warum der Völkerbund tot ist und warum Genua, wenn es imstande wäre, die kapitalistische Unordnung zu bewältigen, gezwungen sein würde, wieder von vorn zu beginnen, wieder einen neuen Völkerbund zu bilden. Die Kenntnis der Gründe des Zusammenbruchs des Völkerbundes wird uns helfen, die ganze Sachlage, den Wert oder Unwert der Genueser Konferenz von vornherein richtig zu erfassen.

Warum ist der Völkerbund bankrott, warum lebt er nur in der Form eines Büros in Genf, dessen Sekretär, ein hochwohlgeborener Engländer, Sir Erik Drumond, ein größeres Gehalt bekommt als alle russischen Volkskommissare zusammen? Warum existiert der Völkerbund nur als eine Institution, die diskret die Schulden bezahlt, die die großen Diplomaten der kleinen Staaten in Genf zurücklassen? Die gewöhnliche Antwort auf diese Frage ist: Amerika war der Gründer, der Verfechter des Völkerbundes, Amerika hat sich vom Völkerbund zurückgezogen, und darum kann er weder sterben noch leben, oder er existiert nur, um ein paar Leuten Sinekuren zu verschaffen.

Aber diese Antwort besagt nichts, denn es entsteht die Frage: Warum hat sich Amerika vom Völkerbund zurückgezogen? Amerika hat sich vom Völkerbund äußerlich zurückgezogen, weil es erstens keine Verantwortung für die Sicherheit Frankreichs übernehmen wollte, das heißt, weil es die Verantwortung für den Frieden, der zwischen Deutschland und Frankreich auf Grund des Versailler Friedensvertrages aufgebaut werden sollte, nicht übernehmen wollte, und weil es zweitens mit der Erledigung der chinesischen Frage, wie sie in den Schandungsklauseln des Versailler Friedens gefunden wurde, nicht einverstanden war. Was besagt das? Zuerst, dass das amerikanische Kapital keine Verantwortung für die Regelung der territorialen Fragen in Europa übernehmen wollte, und zweitens, dass es mit der Vormachtstellung, die Japan in China erhalten hat, nicht zufrieden war.

Aber stellen Sie sich jetzt einen Moment lang vor, Amerika hätte die Verantwortung für die Territorialfragen in Europa übernommen, Amerika hätte sich mit dem Übergang Schandungs in die Hände Japans einverstanden erklärt, stellen Sie sich also vor, dass der Völkerbund formell existieren würde. Was wäre dann der Völkerbund? Er wäre die Organisation der folgenden Länder: Frankreich, England und Vereinigte Staaten von Nordamerika. Er wäre ein Syndikat der siegreichen Mächte. Und jetzt fragen Sie sich: Was könnte der Völkerbund tun? Er wäre das Syndikat der siegreichen Mächte wozu? Zur Ausbeutung und zur Leitung der besiegten Völker. Nun, ein Syndikat der Reichen, der Mächtigen würde die Position des Weltkapitalismus gegenüber Deutschland, gegenüber Russland, gegenüber der Türkei, gegenüber China sehr stärken. Aber das Malheur, weshalb es nicht zustande kommen konnte, bestand darin, dass der Terminus Siegermächte auch nur ein Wort ist, dem die Tatsachen nicht entsprechen. Nehmen Sie die drei Mächte Amerika, England und Frankreich und fragen Sie sich, in welchem Sinne diese Länder Sieger sind. Sie sind Sieger in dem Sinne, dass Deutschland vor ihnen kapituliert hat. Aber man führt doch nicht einen Krieg, um die Freude zu haben, dass ein anderer kapituliert, sondern man führt Krieg für einen positiven Zweck, zum Zwecke einer konkreten Gestaltung seiner eigenen Lage. Nun, wie ist die Lage Amerikas, wie ist die Lage Frankreichs, wie ist die Lage Englands?

Amerika hat sich zum ersten Mal in der Geschichte eine große Kriegsschuld auf den Hals geladen. Ich will nur ein paar Ziffern nennen. Vor dem Kriege hatte Amerika eine verzinsliche Schuld von noch nicht einer Milliarde. Jetzt hat Amerika 26 Milliarden Kriegsschulden, und die Zinsen dieser Kriegsschuld sind so groß, dass sie das ganze Budget Amerikas der Vorkriegszeit übersteigen. Im Jahre 1914 war die Summe aller Ausgaben der Vereinigten Staaten Amerikas einer Milliarde Dollar gleich, und jetzt übersteigen die Ausgaben Amerikas allein für die Deckung der Zinsen der amerikanischen Kriegsschuld diese Milliarde. Die Finanzlage Amerikas hat sich auf diese Weise sehr verschlechtert. Bis zum Kriege kannten die Vereinigten Staaten Nordamerikas fast keine direkten Steuern, im Jahre 1920 betrugen sie 10 Dollar pro Kopf.

Aber was hat der Krieg wirtschaftlich aus Amerika gemacht? Es hat in diesem Kriege seine Industrie ungeheuer entwickelt, es hat seine Produktion an Eisen, Stahl, Kohle und Petroleum sehr erhöht, es hat die Schulden, die es in Europa hatte, nicht nur bezahlt, die amerikanischen Wertpapiere in Europa wieder an sich gezogen, sondern es hat die Hälfte des Weltgoldschatzes in seinen Besitz gebracht. Wenn Sie dazu in Betracht ziehen, dass Amerika das erste Getreide-Exportland der Welt, das erste Land der Petroleum-Industrie der Welt ist, dass es sich jetzt im Kriege zum ersten Mal eine Handelsflotte gebaut hat, die fast an die englische heranreicht, so sehen Sie, dass Amerika der Staat ist, der beim geringsten Verlust an Menschen am meisten oder als einziger in diesem Kriege gewonnen hat.

Wie liegt die Frage in Frankreich? Wenn Sie sich das französische Budget ansehen, so bekommen Sie folgendes Bild von der französischen Lage. Frankreich hat 299 Milliarden innerer Kriegsschuld, es hat 35 Milliarden äußerer Kriegsschuld, die in Gold-Francs bezahlt werden und den Wert von 80 Milliarden Papier-Francs haben. Es hat für diese äußere Kriegsschuld 4½ Milliarden Francs jährlich zu bezahlen und kann sie nicht bezahlen und zahlt sie nicht. Sehen Sie sich die französischen Einnahmen an. Es heißt, dass Frankreich 24 Milliarden Francs Einnahmen habe. In Wirklichkeit ist das ein Schwindel. Ein Teil der Steuern bleibt aus. Frankreich hat in Wirklichkeit 19 Milliarden reelle Einnahmen. Es hat also im Verhältnis zu dem nominellen Einnahme-Etat schon 5 Milliarden Defizit. Ich habe Ihnen gesagt, dass Frankreich 4½ bis 5 Milliarden jährlich für seine äußere Schuld zu zahlen hätte. In dem Moment, wo Amerika diese Prozente einfordert – und sie müssen doch gedeckt werden –, wächst das Defizit von 5 auf 10 Milliarden.

Dazu kommt, dass Frankreich berechnet, dass Deutschland 4½ Milliarden zahlt; 23 Prozent des französischen Einnahme-Budgets soll Deutschland decken, und das kann es nicht. Und so kommt das Organ der französischen Regierung, der „Temps“, zu der Berechnung, dass Frankreich 15 Milliarden Defizit im Jahre hat. Und nun schauen Sie sich die zweite Seite des Bildes an: das französische Ausgaben-Budget. Frankreich bezahlt 12 Milliarden an die Bourgeoisie für die inneren Kriegsanleihen, es bezahlt 5 Milliarden für die Armee, es bezahlt – ohne die Besatzungskosten in Deutschland, in Syrien usw. zu rechnen – 3½ Milliarden für die französische Bürokratie und ½ Milliarde für seine sozialen Institutionen. Die Hälfte der nominellen französischen Einnahmen fließt also zurück in die Taschen der französischen Kapitalisten, die die Kriegsanleihe gezeichnet haben, ein Viertel wird zur Aufrechterhaltung der Armee verwendet und die Bürokratie frisst 3½ Milliarden, für die sozialen Bedürfnisse bleibt eine halbe Milliarde.

Das heißt, dass nur eine der Folgen des Krieges, die Deckung der Kriegsanleihen, die Hälfte der nominellen Einnahmen frisst. Um die 4½ Milliarden, die Deutschland jährlich zahlen soll, zu kriegen, gibt man 5 Milliarden für die Armee aus. Das ist die finanzielle Lage eines Siegerstaates.

Und wie sieht die Lage in England aus? Ich erlaube mir, Ihnen darüber keine kommunistischen Berichte, sondern eine Stelle aus dem Memorandum Lloyd Georges für die Konferenz in Cannes vorzulesen, in dem und durch welches Lloyd George zu beweisen versuchte, dass es Zeit ist, die Welt vor dem Untergange zu retten. Er schildert die Lage folgendermaßen:

„In Großbritannien gebe es auch ernste Ursachen der Beunruhigung und Unzufriedenheit. Großbritannien sei ein Land, das von der Ausfuhr lebe. Sein Handel sei ebenso schrecklich ruiniert wie der französische Boden. Die Folgen, die sich in menschlichen Entbehrungen sehr ernster Art zeigten, beträfen zwei Millionen Personen der arbeitenden Klassen, die durch Arbeitslosigkeit litten und deren Unterhaltungskosten pro Woche annähernd zwei Millionen Pfund Sterling betrügen. Diese Lasten würden einer Nation aufgebürdet, die viel stärker als jede andere von den wirtschaftlichen Folgen des Krieges berührt worden sei. Frankreich dagegen sei in einer vorteilhafteren Lage als jedes andere europäische Land, einmal wegen der Bedeutung seiner ländlichen Bevölkerung, andererseits aber auch wegen seiner inneren Produktion. Frankreich leide weniger durch Arbeitslosigkeit und durch den Zusammenbruch des internationalen Handels. Die Völker Europas jedoch litten unter den Kriegsursachen ebenso wie das britische Volk. In Italien und Belgien sei die Arbeitslosigkeit ernst. Italien hänge sehr vom Handel ab. Es müsse eine viel stärkere Bevölkerung beschäftigen als vor dem Kriege. Belgien sei ein Land, das Nahrungsmittel importiere und auf Kosten des europäischen Marktes lebe. In Mitteleuropa und Südeuropa sei der Zusammenbruch und die Verwirrung des normalen Wirtschaftslebens noch viel markanter.

Millionen von Menschen lebten unter Entbehrungen und im Elend. Selbst die Inflation, die den arbeitenden Klassen Arbeit und gute Löhne gegeben habe, könne nur eine zeitweise Erleichterung bringen, würde aber sicher eine Reaktion auslösen, so dass schon rechtzeitig Maßnahmen ergriffen werden müssten. Die Menschen, die nur über eine kleine Rente verfügen, litten noch mehr. Russland, das vor dem Kriege eine außerordentliche Produktion an Rohmaterialien und Nahrungsmitteln gehabt habe, kämpfe mit der Hungersnot. Aus Menschlichkeitsgründen und im Interesse des eigenen Wohlstandes sei die Wiederaufrichtung Russlands unerlässlich. Die europäischen Völker müssten versuchen, ein Heilmittel gegen den augenblicklichen Zustand Russlands zu finden, denn auf die Dauer müsste die europäische Zivilisation ernstlich darunter leiden. Wenn man ohnmächtig sei, gegen einen derartigen Zustand anzukämpfen, werde er rasch zur sozialen und wirtschaftlichen Katastrophe führen.“

Das also ist die Schilderung der Lage Englands, Belgiens und Italiens, gegeben von einem der Führer der Siegerstaaten.

Was besagt das in bezug auf den Völkerbund? Er sollte eine Einrichtung der siegreichen Völker zum Zwecke der Ordnung der Welt auf Kosten der Besiegten sein. Aber die siegreichen Länder selbst befinden sich in einer Lage, dass sie sich alle an ein Land, an Amerika, um Hilfe wenden müssen. England, Frankreich, Belgien und Italien schulden Amerika 10 Milliarden Dollar. Sie müssten, wenn sie ihren wirtschaftlichen Zerfall eindämmen wollten, in erster Linie von dieser Schuld befreit werden. Der Völkerbund müsste damit beginnen, dass Amerika von den andern siegreichen Ländern nichts nehmen, sondern ihnen geben müsste, um den Völkerbund überhaupt aufrechtzuerhalten.

Und nun, wie steht es mit der Möglichkeit der Ausbeutung der anderen Länder? Der Völkerbund wurde doch gegründet, um auf Kosten der Besiegten die Weltlage, die Lage der Sieger zu stabilisieren. Die Lage in diesen anderen Ländern habe ich schon mit den Worten Lloyd Georges geschildert.

Wenn nach der Überzeugung Lloyd Georges – und das ist auch die Überzeugung aller anderen siegreichen kapitalistischen Staaten – die Lage in England, in Frankreich und Italien so ist, dass Amerika diesen Ländern helfen muss, und wenn nach ihrer Überzeugung England, Frankreich und Amerika zusammen von den Besiegten nichts erhalten können, sondern umgekehrt genötigt sind, den besiegten Völkern, die sie in Versailles ausplündern und berauben wollten, auf die Beine zu helfen, dann müsste sich der Völkerbund als Syndikat der siegreichen Mächte zur Ausplünderung der Besiegten verwandeln in eine internationale Gesellschaft zur Hilfe für die Bedürftigen, wobei die Kosten der Sache in erster Linie Amerika vorzuschießen hätte.

Sie werden jetzt verstehen, warum der Völkerbund zusammenkrachen musste. Das amerikanische Kapital sah, dass die Weltlage nach dem siegreichen Krieg sich so gestaltete, dass es tief in seine Tasche greifen müsste, um Europa wieder aufbauen zu können. Und wer sollte das in Amerika tun? Der amerikanische Staat hat, wie wir gesehen haben, eine Kriegsschuldenlast von 26 Milliarden Dollar, die von den amerikanischen Steuerzahlern gezahlt werden müssen.

Und der amerikanische kapitalistische Staat hat nicht das geringste Bedürfnis, sich den Krach mit seinen eigenen Wählern auf den Hals zu laden, um den Krach in Europa zu mildern. Vielleicht könnten amerikanische Privatkapitalisten helfen? Nun, Sie wissen sehr gut, dass Amerika jetzt an die Eroberung eines Kontinents geht, auf dem keine Revolutionen existieren. Vor dem Kriege haben in Südamerika das englische und das deutsche Kapital das Übergewicht gehabt. Die Amerikaner haben gegen diese Konkurrenz gekämpft. Jetzt, wo Deutschland ausgeschaltet, England schwächer geworden ist, hat das nordamerikanische Kapital zum ersten Male die Möglichkeit, Südamerika für sich zu erobern, und sie wollen ihr Geld lieber in Südamerika anlegen und den ganzen amerikanischen Kontinent in Händen haben, als es in den unsicheren europäischen Boden verpflanzen.

In dieser Situation war der Völkerbund als die Organisation zur Ausbeutung der Welt und als Organisation zur Hilfe für die Welt von vornherein tot. Und das amerikanische Kapital, die amerikanische Regierung haben drei Jahre lang im großen und ganzen die Rolle des Zuschauers gespielt, des Zuschauers, der ruhig zusah, wie gut die siegreichen Mächte in Europa gewirtschaftet haben.

Und nun kommen wir zu einem Rückblick auf die europäische Politik Englands und Frankreichs während der letzten drei Jahre, einer Politik, die wir gut kennen müssen, nicht nur in ihren Resultaten, sondern auch in ihren Triebkräften, um zu verstehen, was in Genua vor sich gehen wird.

Der anglo-französische Gegensatz

Was war, fragen wir uns, die Quelle des großen Weltkrieges? Die Quelle des Weltkrieges war der Kampf der stärksten industriellen und maritimen Macht des Festlandes, Deutschland, mit England, der stärksten maritimen .und Industriemacht der Welt. Das englische Kapital wollte nicht zusehen, bis Deutschland, gestützt auf eine große, technisch sehr weit vorgeschrittene Industrie, auf eine kompakte, kulturell hochstehende Volksmasse, auf eine für die wirtschaftliche Expansion sehr günstige geographische Lage, so stark wurde, dass es dem englischen Kapital Abbruch tun konnte. Während des Krieges hat die deutsche Bourgeoisie, ohne dass sie vor dem Kriege vielleicht ein konkretes Kriegsprogramm hatte, sich ein solches gebildet, und dieses war sehr einfach. Territorial im Westen brauchte es zweierlei: die belgische Küste, um England militärisch näher auf den Leib zu rücken, und sehr geringe territoriale Korrekturen in Frankreich. Diese Korrekturen bestanden in der Angliederung eines kleinen Fleckens des französischen Bodens, in der Angliederung Briés. Die Entwicklung der Technik hatte dazu geführt, dass Deutschland die größte Kohlenindustrie hatte und nicht genügend Erze. Es hatte die lothringischen Erze; aber nur, wenn es Brié in die Hand bekam, konnte Deutschland die wirtschaftlich ausschlaggebende Macht in Europa werden.

Was hat der Krieg ergeben? Er hat ergeben, dass England die deutsche Kriegsflotte vernichtet, die deutsche Handelsflotte weggenommen hat, dass die deutschen Kapital-Investitionen im Auslande auf Grund des Versailler Friedens liquidiert worden sind. Deutschland ist also weltpolitisch entwaffnet, es hat weder Flotte noch Heer, hat seine Kolonien, seine Kapital-Investitionen im Ausland verloren. England ist also in Europa der effektive Sieger. In welcher Lage befindet sich jetzt dieser effektive Sieger gegenüber seinem Verbündeten Frankreich, mit dem er zusammen gesiegt hat? Frankreich hat die lothringischen Erze gekriegt, es hat auf diese Weise die Basis seiner Schwerindustrie erweitert.

Wenn Frankreich entweder mit Waffengewalt den Ruhrbezirk und Rheinland-Westfalen besetzt oder durch ein Wirtschaftsabkommen die Erze von Brié und Lothringen mit der Kohle vom Ruhrbezirk vereinigt, dann ist Frankreich die führende wirtschaftliche Macht des Kontinents. Der Zweck des deutschen Imperialismus, das wirtschaftliche Ziel des deutschen Imperialismus im Kriege, ist dann erreicht, nur nicht durch Deutschland, sondern durch Frankreich.

Und wie steht die Sache militärisch? Die Lage Deutschlands England gegenüber war militärisch sehr schwierig; aus einem sehr einfachen Grunde. Deutschland hatte nur das sogenannte nasse Dreieck, von dem aus es durch die ganze Nordsee gegen England maritim wirken musste. Und Frankreich hat Calais, die normannischen Häfen, hat Kolonien in Westafrika; das bedeutet: Frankreich liegt nahe an den Bahnen des Weltverkehrs, auf denen das Getreide und die Rohstoffe nach England kommen.

Und ein zweites Ergebnis des Krieges: der Krieg hat das Unterseeboot zur ausschlaggebenden maritimen Waffe gemacht. Wenn Frankreich genügend Unterseeboote hat, dann ist es ihm möglich, in einem Kriege kein einziges englisches Getreideschiff, kein einziges englisches Schiff mit Rohstoffen nach England zu lassen. Es wird imstande sein, die Verbindung Englands mit seinen Kolonien zu unterbrechen, denn gegenüber Gibraltar liegt das französische Marokko, gegenüber Malta liegen Toulon und Biserta und gegenüber dem Suezkanal liegt Syrien, das sich in französischen Händen befindet. Von dort aus können die französischen Unterseeboote die englischen Schiffe anhalten.

Und auf der ganzen Route, die England mit seinen Kolonien verbindet, bleiben die englischen Schiffe – ob sie nun durch den Atlantischen Ozean gehen oder durch das Mittelmeer den Indischen Ozean zu erreichen suchen –, im Bereich der Tätigkeit der französischen Unterseeboote, die noch dazu ihren Aktionsradius außerordentlich erhöht haben. Und ob Frankreich die Unterseeboote gebrauchen will oder nicht, können Sie aus der Tatsache ersehen, dass in Washington, wo der Bau der Dreadnoughts eingeschränkt worden ist – die Militärmächte schränken immer das ein, was sie nicht mehr brauchen; die Dreadnoughts werden immer mehr altes Eisen –, England mit der Forderung der Einschränkung der Unterseeboote nicht durchdringen konnte. Und warum, das sagt das Organ des französischen Kriegsministeriums, die „Revue militaire“, in einer Weise, die an Offenherzigkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Und es ist nur zu wünschen, dass die Proletarier aller Länder, die sich während des Krieges durch die bürgerliche Presse haben beeinflussen lassen, die jetzige Schreibweise des führenden Organs des französischen Militarismus mit dem vergleichen, was die ganze Entente-Presse während des Krieges geschrieben hat. Das französische Organ schreibt:

„Es ist höchste Zeit, mit allen irreführenden Meinungen über den Gebrauch der U-Boot-Waffe durch Deutschland aufzuräumen. Der U-Boot-Krieg war vollkommen gerechtfertigt, und das Gegenteil zu behaupten, ist nicht nur falsch, sondern schafft auch ein vom militärischen Standpunkt aus durchaus unzutreffendes Bild. Es ist ferner an der Zeit, mit dem Glauben aufzuräumen, als sei der Gebrauch der UBoot- Waffe durch die Deutschen mit den Gebräuchen des internationalen Kriegsrechts nicht zu vereinbaren gewesen. Diese während des Krieges irrtümlich verbreitete Ansicht könnte unserer nationalen Verteidigung für die Zukunft großen Schaden zufügen. Unter diesem höheren Gesichtspunkte muss rückhaltlos anerkannt werden, dass die deutsche Oberste Kriegsleitung ihr gutes Recht vertrat, wenn sie sich der U-Boot-Waffe als Mittel zur Erlangung des endgültigen Sieges bediente. Es muss daher mit allem Nachdruck darauf bestanden werden, dass trotz der während des Krieges laut gewordenen Einsprüche gegen den Gebrauch der U-Boot-Waffe diese selbst, vom militärischen Standpunkte aus betrachtet, unanfechtbar ist. Es ist auch vollkommen ungerechtfertigt, wie man im Anfang des Krieges immer glaubte, dass ein feindliches Handelsschiff vor der Torpedierung gewarnt werden müsse. Hier handelt es sich um grundsätzliche Fragen des Kriegsrechtes, über deren Auslegung bei denen nicht der geringste Zweifel bestehen sollte, die die Verantwortung für die Leitung eines Krieges übernommen haben. Nach all dem kann aber nur anerkannt werden, dass die Verwendung der U-Boot-Waffe als entscheidender Faktor im verflossenen Weltkrieg in jeder Weise korrekt gehandhabt worden ist.“

Das bedeutet: nicht nur die englischen Kriegsschiffe, die von den deutschen Unterseebooten torpediert wurden, wurden korrekt torpediert, auch die Lusitania wurde torpediert, und im nächsten Kriege wird Frankreich, das verspricht es, vollkommen korrekt alle Lebensmitteltransporte, die für England bestimmt sind, torpedieren.

Die Lage in Europa hat sich nach dem Sieg so gestaltet, dass der englische Imperialismus schreien muss: O weh, wir haben gesiegt! Er hat gesiegt, und wie ist seine wirtschaftliche Lage? Erlauben Sie mir, ein paar Zahlen zu nennen.

Der englische Kapitalismus hat jetzt 2 Millionen Arbeitslose. Seine Einfuhr ist in den letzten Jahren in folgender Weise zurückgegangen: Die englische Einfuhr vor dem Kriege – die Berechnungen sind alle so aufgestellt, dass die jetzigen Preise nach der Indexziffer umgerechnet sind – betrug 1913 769 Millionen Pfund, im Jahre 1920 betrug sie 679 Millionen Pfund, 1921 beträgt sie 571 Millionen Pfund. Der Sieger hat also vor dem Kriege 769 und jetzt, drei Jahre nach dem Kriege, nur 571 Millionen Pfund Einfuhr. Da für England die Einfuhr zur Produktion der Industriewaren notwendig ist, die es selbst verbraucht und weiter ausführt, da ein Teil der Einfuhr eine Übergangseinfuhr ist, die mit Gewinn an andere Länder weiter verkauft wird, so werden Sie sehen, wie sich die Sache in dem englischen Export äußert. Die Ausfuhr englischer Waren betrug vor dem Krieg 525 Millionen Pfund, im Jahre 1920 372 Millionen Pfund und im Jahre 1921 226 Millionen Pfund. Die englische Ausfuhr an Industriewaren ist also von 525 auf 226 Millionen Pfund gefallen. Die Ausfuhr fremder Waren ist von 1108 auf 86 gefallen. Die Ausfuhr vom Jahre 1921 beträgt also die Hälfte der Ausfuhr des Jahres 1913 und ist um ein Drittel kleiner als die Ausfuhr des Jahres 1920. Das ist das wirtschaftliche Bild Englands.

Das politische Bild ist dieses: England steht jetzt mit Frankreich, seinem nächsten Nachbarn, der ihm militärisch gefährlicher ist als Deutschland, in einem Kampf um die Hegemonie in Europa. Nur vom Standpunkt dieses Kampfes zwischen England und Frankreich ist die Geschichte der letzten drei Jahre zu verstehen.

Der Tanz auf dem deutschen Vulkan

Beginnen wir mit der Lage Deutschlands, weil es der Angelpunkt der Weltlage ist. Deutschland wurde zu Lande und zur See entwaffnet, es verlor seine Handelsflotte, es verlor seine Auslands-Investitionen, es verlor 15 Prozent seines Bodens und mehr als 15 Prozent seiner Produktivkräfte, es verlor 10 Millionen Menschen. Die wirtschaftliche Lage Deutschlands ist so, dass es genötigt ist, jährlich für 2½ Millionen Goldmark Lebensmittel und für 2½ Milliarden Goldmark Rohstoffe einzuführen. Früher hat Deutschland seine Rohstoff- und Lebensmittel-Einfuhr aus dem Frachtgewinn, aus dem Gewinn seiner ausländischen Investitionen – die brachten ihm über 1 Milliarde jährlich – und aus seinem Außenhandel gedeckt. Der Außenhandel Deutschlands ist jetzt, reell genommen, auf ein Drittel bis auf ein Viertel desjenigen vor dem Kriege gesunken. Zu diesen neuen Lasten kommt die Aufforderung der Alliierten an Deutschland, 132 Milliarden Goldmark zu bezahlen. Deutschland soll in den nächsten Jahren 3, 4 bis 5 Milliarden Goldmark jährlich an die Alliierten bezahlen. Wie kann Deutschland das tun. Um diese Milliarden jährlich an die Alliierten bezahlen zu können, muss es natürlich in erhöhter Weise produzieren. Wenn es heute für 2½ Milliarden Rohstoffe kauft, so müsste es, um mehr zu produzieren, in einem viel größeren Maße Rohstoffe kaufen. Um dies möglich zu machen, wäre nach seiner bescheidenen Berechnung notwendig, dass es jährlich für 40 Milliarden Goldmark Waren ausführt. Nur in diesem Falle wäre es imstande, den Tribut an die Alliierten zu zahlen. Wie viel macht der Weltaußenhandel aus, der Export aller Länder zusammen? 100 Milliarden Goldmark. Also das geschlagene Deutschland müsste jetzt 40 Prozent des Gesamthandels an sich reißen. Das ist natürlich unmöglich. Wäre es möglich, so würde es bedeuten, dass Amerika und England der größte siegreiche Industrie-Konkurrent erwächst, der sie auf allen Märkten der Welt schlagen würde.

In dieser Situation sind zwei Möglichkeiten vorhanden. Die erste Möglichkeit ist: Die Alliierten verzichten auf das, was ihnen Deutschland schuldet, und helfen ihm noch durch Anleihen, sich empor zu arbeiten. England wäre im Grunde genommen unter zwei Bedingungen einverstanden, auf die Reparationsverpflichtungen Deutschlands ihm gegenüber zu verzichten. Die eine Bedingung ist, dass Frankreich ebenfalls auf sie verzichtet; die zweite ist, dass Amerika England die Schuld, die es Amerika gegenüber hat, erlässt. Amerika will nicht verzichten, und Frankreich kann auf die Zahlung der Schuld nicht verzichten. Der Verzicht Frankreichs auf die deutschen Reparationen bedeutet für das französische Budget ein jährliches Defizit von vielen Milliarden; er bedeutet die Notwendigkeit, die Bauern so zu besteuern, dass Frankreich mit einer Bauernrevolution rechnen müsste. Wo ist also der Ausweg? Frankreich strebt danach, das Ruhrgebiet zu besetzen. Frankreich ist durch die Lage genötigt, der Idee der Rheinland-Politik Napoleons nachzukommen, Deutschland zu zerschlagen, Süddeutschland, Bayern, mit Österreich unter einen Hut zu bringen, Deutschland zur Ohnmacht zu verurteilen, die Rheingrenze zur Grenze Frankreichs zu machen und sich zu sanieren durch den Konkurrenzkampf vermittelst der Vereinigung der Lothringer Erze mit der Ruhrkohle. Das heißt, die englische und die französische Politik klaffen in dieser Frage auseinander. Und wir sehen drei Jahre lang das Ringen zwischen England und Frankreich um Deutschland. Deutschland ist England nicht mehr gefährlich zur See, und England würde sehr gerne sehen, wenn Deutschland Frankreich zu Lande gefährlich wäre. Deutschland ist England notwendig als alter ausgezeichneter Markt für die englischen Waren: die Hälfte des deutschen Imports kam von England. Frankreich dagegen will erstens das Loch in seinem Defizit stopfen, es sagt: wenn einer zugrunde gehen soll, dann soll der Besiegte zugrunde gehen. Und wenn das nicht geht, so will es reelle Garantien haben, d. h. es will sich sanieren auf Grund der deutschen Kohle im Kampfe gegen England. Und drei Jahre lang sehen Sie das sonderbare Bild: wenn Frankreich die Hand ausstreckt, fällt ihm England in den Arm. England gilt heute als Schutzland Deutschlands, aber wehe Deutschland in dem Moment, wo sich Deutschland mit Frankreich zu verständigen sucht. Als Deutschland das Wiesbadener Abkommen schloss, das eine Brücke zu Frankreich sein sollte, wurde dieses Wiesbadener Abkommen durch England nicht ratifiziert, und zweitens England antwortete damit, dass es Deutschland in der oberschlesischen Frage im Stiche ließ. Die Politik der Alliierten Deutschland gegenüber ist ein Circulus vitiosus.

Jeden Tag werden durch einen Kompromiss die Gegensätze irgendwie vertuscht. Aber eine Lösung, bei der Deutschland leben und sich entwickeln könnte, lässt dieser Gegensatz nicht zu. Vom militärisch-politischen Standpunkt der zukünftigen Auseinandersetzungen hat England Deutschland die ehrenwerte Rolle des englischen Degens auf dem Kontinent zugedacht. Und Sie werden sehen, welchen Einfluss diese englische Politik Deutschland gegenüber in der russischen Frage hat.

Wir kommen jetzt zu der russischen Frage. Am lautesten schrie Frankreich gegen die Bolschewiki, gegen die Arbeiterund Bauernrevolution. Der französische kleine Rentner, dessen Zinsen nicht bezahlt wurden, der die französische Presse beherrschte, er schrie Zeter und Mordio, er wiederholte alles das gegen die russische Revolution, was gegen die französische Revolution von allen ihren Gegnern jemals gesagt worden ist. Aber, Genossen, es wäre ein Irrtum, anzunehmen, dass die Kraft der französischen Lunge der Kraft des Angriffs gegen Sowjetrussland, der Hartnäckigkeit im Kampfe gegen Sowjetrussland entsprach. Der Träger der Konterrevolution, der Träger der Intervention gegen Russland war nicht allein Frankreich, sondern es war auch, oder vielleicht noch mehr, England. Es war England schon deshalb, weil England reicher als Frankreich war, weil England den Weißen mehr Waffen zur Verfügung stellen konnte, und es war England aus weltpolitischen Interessen.

Sie erinnern sich, unter welchen Umständen die Intervention gegen Sowjetrussland begann. Sie begann zuerst mit der Archangelsk-Expedition im Herbst 1918. Aber das war nur ein Vorspiel. Sie setzte mit voller Kraft im Frühjahr 1919 ein.

Und warum musste sie in diesem Moment mit dieser Schärfe einsetzen, trotzdem die Sowjetregierung ihre Bereitwilligkeit zu einem Kompromiss erklärte?

In Versailles sollten die großen Fragen des nahen Orients erledigt werden. Zwischen den Alliierten und Russland bestand der Vertrag über die Dardanellen und Konstantinopel. Das war für England eine der wichtigsten Fragen, und England hätte nicht gesiegt, wenn es den versprochenen Preis für die Teilnahme Russlands am Kriege bezahlt haben würde. Denn die Dardanellen können nach englischer Auffassung nur entweder in den Händen einer schwachen Türkei oder in den Händen Englands sein. Denn sie bewachen nicht nur den Zutritt zum Schwarzen Meer, sondern sie können eine Basis der Aktion gegen den Suezkanal sein. Im Sommer des Jahres 1919 beschloss England schnell, die Abwesenheit Russlands ausnützend, die Vernichtung der Türkei, die Besetzung Arabiens und Mesopotamiens durch England, und es schloss gleichzeitig den Vertrag mit der persischen Regierung, durch den das persische Volk für 2 Millionen Pfund Sterling in die Hände des englischen Imperialismus gegeben wurde. Die alten Verträge mit dem Zarismus über Mittelasien und über Konstantinopel wurden über den Haufen geworfen.

Jetzt eine Frage: Wenn die Entente den Krieg gegen Sowjetrussland führte, um den Weißen zum Sieg zu verhelfen, warum hat es damals die Weißen nicht zu den Friedensverhandlungen zugelassen? Es hat Koltschak als die russische Regierung anerkannt, es hat Denikin als die russische Regierung anerkannt, aber die weißen Vertreter der Bourgeoisie, des kapitalistischen und junkerlichen Russlands, wurden zu den Verhandlungen in Versailles nicht zugelassen. Man könnte sagen, sie hatten keinen Boden unter den Füßen. Erstens ist das nicht wahr; sie hatten ganz Sibirien in ihren Händen, sie hatten den Kaukasus in ihren Händen, sie hatten Teile Südrusslands in ihren Händen. Aber es genügt, daran zu erinnern, dass, obwohl der belgische König im Kriege nur ein paar Kilometer belgischen Bodens hatte, die belgischen Vertreter in dieser Zeit bei den Verhandlungen der Alliierten nicht fehlten. England erledigte die Orientfragen nicht nur ohne Sowjetrussland, mit dem es durch seine Kanonen sprach, sondern erledigte sie ohne das weiße Russland. England nutzte die Situation aus, um das weiße wie das rote Russland auszuschalten.

England hat nach einem Jahre des Krieges, noch vor dem Zusammenbruch der Weißen, begonnen, umzusatteln. Man erinnere sich an den Moment, wo Judenitsch gegen Petrograd anrannte und ihm englische Kriegsschiffe im finnischen Meerbusen halfen. Im entscheidenden Moment verschwanden die englischen Kriegsschiffe aus dem Meerbusen.

Koltschak wurde von den Alliierten an Sowjetrussland ausgeliefert wie ein Verbrecher. Wenn man die Szenen von der Auslieferung Koltschaks liest, wenn man liest, wie er aus einem Zuge, der mit Maschinengewehren der Alliierten gespickt war, an unsere Genossen ausgeliefert wurde, die drei Flinten zu ihrer Verfügung hatten, so kann man sagen: Es gibt in der Geschichte wenig Akte der Felonie, die dieser Behandlung Koltschaks gleich kämen. Denikin wurde im letzten Augenblick sehr ungnädig behandelt, und die Weißen wurden nicht nur mit den Waffen geschlagen, die wir ihnen entgegenhielten, sondern auch mit Waffen, die ihnen die Alliierten gaben. Sie gaben ihnen Waffen, die schlechter als die waren, die wir fabrizierten. Sie schauten auf die Intervention wie auf ein großes Ramschgeschäft, wo man alle schlechten Waren an den Freund bringt. Und die erste Macht, die umsattelte, war England. Es war die erste Macht, die mit uns Verhandlungen begann. Warum? Die Verhandlungen wurden begonnen, nachdem seine Lordschaft, Herr Curzon of Adleston, zum Außenminister ernannt wurde. Wer ist Curzon? Er ist der Vertreter der asiatischen Politik Englands, der frühere Vizekönig von Indien. Er schaut auf die ganze englische Politik als auf ein Mittel der Sicherung der asiatischen Kolonien Englands. Und in dem Moment, wo die Weißen stärker zu sein schienen als die Roten, hat die englische Politik ihre Hand vorsichtig von den Weißen weggezogen. Denn würden die Weißen gesiegt haben – so rechnete die englische Politik –, so würden sie leichter Kredite als wir bekommen; und da sie sich nach dem Westen nicht ausdehnen könnten, so müssten sie die Möglichkeit der Expansion nach dem Osten bekommen, um sich die Glorie der Sieger zu schaffen, die ihnen aus inneren Gründen notwendig wäre, und sie müssten die Frage der Verträge über den Orient aufwerfen. Und da haben Gott und Lord Curzon die Hand von ihnen genommen.

Die Änderung der englischen Politik bestand in den Verhandlungen Englands mit uns. Wie England sich als der Verteidiger Deutschlands hinstellt, so stellt es sich auch als Verteidiger des armen russischen Volkes hin, und die Liebe zu diesem armen russischen Volke hat Anfang des Jahres 1920 einer der führenden englischen Generale, der die Intervention leitete, so ausgedrückt: „Wir haben den Weißen die Waffen gegeben, die Roten haben sich die Waffen selbst von uns geholt; wir sollten noch den Grünen Waffen geben, damit sie sich gegenseitig die Hälse abschneiden.“ Und die englische Politik Russlands gegenüber wurde geleitet von dem Gedanken: Da die Roten gesiegt haben, wollen wir mit ihnen verhandeln; wir werden jahrelang mit ihnen verhandeln, sie werden für die liebenswürdig gelieferten Waren ihr Gold an die englischen Kaufleute abgeben, aber sie müssen so lange schwach bleiben, bis wir, der englische Imperialismus, die Unruhe in Ägypten, die Revolution in Indien und die türkische Frage irgendwie erledigt haben. Und es gibt keine größere Illusion als die, dass England Russland gegenüber eine Aufbaupolitik treibt. Ja, die englischen Kapitalisten hätten ein Interesse daran, dass Russland ihnen Rohstoffe liefern und sie freimachen wurde von dem Tribut an die New Yorker Börse. Die englischen Kapitalisten wissen, dass der russische Markt eine große Aufnahmefähigkeit haben wird. Aber die Interessen des englischen Handelskapitals stehen hier den Interessen der asiatischen Politik Englands entgegen, hinter der die Rüstungsindustrie, die alte Diplomatie und die Indianoffice, die Bürokratie steht, die jährlich Hunderte von Millionen aus dem indischen Volke für sich herausgepresst. Dieser Gegensatz der zwei Richtungen der englischen Politik, einer Aufbaupolitik in Russland und einer Politik, die an die Traditionen des englischen Ministers Beaconsfield anknüpft, ist latent; einmal bekommt die eine Richtung die Oberhand, einmal die andere, und manchmal spielen sie mit geteilten Karten. In dem jetzigen englischen Kabinett vertritt Lloyd George die aufbauende Politik, hinter der die liberalen Zeitungen stehen, und Lord Curzon und Churchill spielen die Gegenpartie, die asiatische Politik Englands.

Wie war die Politik Frankreichs Russland gegenüber? Frankreich hat ein Interesse, die Bolschewiki niederzuschlagen, damit eine bürgerliche Regierung die Schulden anerkenne und bezahle. Aber Frankreich hatte kein Interesse, Russland als solches zu schwächen. Umgekehrt, Russland als solches war für Frankreich in Zukunft ein Gegengewicht gegen England in der europäischen Politik und ein möglicher Alliierter gegen England in Europa, sowie ein Eventual-Alliierter gegen Deutschland. Aus diesem Grunde war Frankreich Gegner der Randstaatenpolitik Englands. England suchte Teile Russlands, die an der See lagen, abzutrennen, um die Einfallstore nach Russland zu beherrschen, es unterstützte Lettland und Estland, es unterstützte deshalb am Schwarzen Meer Georgien und die türkischen Musafatisten in Baku. Frankreich war im großen und ganzen gegen die Teilung Russlands. In Polen schuf sich Frankreich nur einen Ersatz für Russland, einen „Margarine“-Gegner gegen Deutschland. Die französische Politik hielt hartnäckig an der Idee der Niederringung des bolschewistischen Regimes fest. Aber seit dem November des Jahres 1920, seit der Niederlage Wrangels, begann Frankreich umzuschwenken. Und wenn Sie den Notenwechsel zwischen der französischen und der englischen Regierung vom November 1920 bis Mai 1921 studieren würden, so würden Sie zu dem folgenden Ergebnis kommen: Seit dem Moment, in dem Frankreich umzuschwenken begann, war die größte englische Sorge, dass es nicht zu schnell umschwenke. Seit dem November 1920 forderte Briand von England: Verhandeln wir zusammen mit Russland. Er entwickelte das französische Programm dieser Verhandlungen, und England schwieg und antwortete im letzten Augenblick, als der Handelsvertrag mit Russland fertig war: Ihr könnt Euch anschließen. Was bedeutet das diplomatisch? Die französische Politik Russland gegenüber soll ins englische Fahrwasser kommen: wenn Ihr nach Petrograd fahren wollt, so nur auf englischen Schiffen. Es war ein Versuch zur Sabotierung der Anknüpfung der Beziehungen zwischen Russland und Frankreich aus dem einzigen Grund: Je mehr Friedenskontrahenten Russland hat, desto selbständiger steht es da, desto größere Zugeständnisse muss man ihm machen. Dann genügt es nicht, ihm zu erlauben, Waren für Gold zu kaufen, dann muss man ihm Anleihen geben, dann kann man es nicht als Luft behandeln. Und die englische Politik Russland gegenüber war: Wir erlauben Euch den Handel, wir allein, ohne uns kriegt Ihr nichts. Ihr könnt nicht leben, aber Ihr werdet dabei nicht sterben. Und England wusste, dass an dem Tage, an dem Russland den Bann der ganzen Welt gebrochen haben wird, es zwar kein Interesse am Krieg mit England, sondern im Gegenteil ein großes wirtschaftliches Interesse an den besten wirtschaftlichen Beziehungen mit England haben wird, dass es aber nicht auf England allein angewiesen sein wird.

Die Bilanz der Politik der alliierten Gegner Russlands ist folgende: Sie sind, soweit es sich um ihren allgemeinen Zweck, die Niederringung des Bolschewismus, handelt, besiegt. Sie waren nicht imstande, Sowjetrussland niederzuwerfen. Und sie wissen heute sehr gut, dass sie uns mit Waffen in der Hand nicht niederringen können.

Das zweite Resultat ist dies: Die Geschichte der Beziehungen der Alliierten zu Russland hat bewiesen, dass es eine Illusion ist, anzunehmen, dass England Russland gegenüber eine günstigere Politik als Frankreich treiben würde.

England geht auf die dauernde Schwächung Russlands aus, womit nicht gesagt werden soll, dass Frankreich jetzt auf eine Stärkung Russlands ausgeht. Wenn Sie jedoch die Chancen der Genueser Konferenz beurteilen wollen, so müssen Sie verstehen: Russland geht nach Genua nicht mit den Illusionen der deutschen Bourgeoisie, dass der liebe Herrgott per procura Englands seine schützenden Hände über die Sowjetrepublik in Genua ausstrecken wird, sondern es geht mit dem kühlen Bewusstsein, es mit Feinden zu tun zu haben, von denen keiner in diesem Moment Sowjetrussland stützt, aber mit denen Sowjetrussland zu einem Modus vivendi kommen muss, wenn es nicht von einem abhängig sein will.

Wenn Sie fragen: Welches soziale Resultat hat der dreijährige Kampf gegen Russland gehabt, so können wir Ihnen getrost sagen: Die Alliierten sind auch dabei die Geschlagenen. Würden sie im Jahre 1918, als wir es ihnen vorgeschlagen haben, im Frühjahr 1919, als wir es ihnen aus Anlas der Einladung zur Konferenz auf den Prinzeninseln vorgeschlagen haben, einen Kompromiss mit uns geschlossen haben, so wäre es besser für sie gewesen. Da bestand noch die russische Industrie, zwar geschwächt, aber mit großen Vorräten. Die Landwirtschaft war nicht so erschöpft, der Pferde- und Viehbestand war größer, und es war ein Fonds vorhanden, von dem man einen Kompromiss hätte bezahlen können. Wenn sie uns jetzt drohen, was sie uns alles nehmen werden, so können wir ihnen sagen: Non timet vacuus latronem: der wenig hat, hat den Räuber nicht zu fürchten. Und das ist nicht nur unsere Schwäche, sondern das ist politisch unsere Stärke bei den Verhandlungen, die wir zu führen haben werden.

Vom weltpolitischen Standpunkt aus war die Politik uns gegenüber ebenso genial wie die Politik Deutschland gegenüber. Sie war eine Politik der Widersprüche, die jedes ordnenden Elementes bar war

Der Kampf um den Nahen Osten

Und was haben die Alliierten in diesen drei Jahren mit der Türkei gemacht? Sie wissen, dass einer der Hauptgründe des Krieges der Kampf um die Türkei war. Das ergibt sich aus der geographischen Lage Englands, des englischen Imperialismus. England hat zwei Hauptkolonien: Ägypten und Indien. In beiden gibt es eine große mohammedanische Bevölkerung. Zwischen diesen Kolonien liegt als trennender oder verbindender Teil Arabien und Mesopotamien. Militärgeographisch verfolgt das englische Imperium seit Jahrzehnten einen kühnen Plan, der jetzt vor der Verwirklichung steht: die Verbindung Südafrikas und Ägyptens mit Indien. Der Krieg hat England diesem Ziel nähergebracht. Die Eroberung Südostafrikas hat das Bindeglied geschaffen, um durch Uganda und den Sudan die Verbindungsstrecke herbeizuführen. Der Plan der Kap-Kairo-Bahn des Cecil Rhodes, des großen Verkündigers des englischen Imperialismus, steht theoretisch vor der Verwirklichung. Die andere Idee war, Kairo mit Kalkutta über Mesopotamien und Arabien zu verbinden. Nun, durch Wüsten kann man keine Bahnen bauen. Damit verband sich die Idee Vellkoks über die neue Bewässerung Mesopotamiens, der Verwandlung Mesopotamiens in ein großes Baumwollland, das England unabhängig machen soll von der amerikanischen Baumwolle. Und die dritte Triebkraft trägt den Namen Mossul-Öl. Sie wissen, welche Rolle jetzt in der Weltpolitik die Frage des Petroleums spielt. Seit der Erfindung der Dieselmotoren, des Übergangs großer Teile der Industrie zum Betrieb mit Dieselmotoren, seit der Einführung der Dieselmotoren in der Marine wird das Petroleum zum wichtigsten Kampfobjekt in der Welt. Amerika hat bis heute die größte Petroleum-Industrie-Ausbeute. Aber Amerika verbraucht sein Petroleum immer selbst. Dazu glauben die Geologen, dass die amerikanischen Petroleumquellen bald erschöpft sein werden. Und nun geht ein Kampf um Petroleum durch die ganze Welt. Auf der einen Seite die Standard Oil Company, auf der anderen die sogenannte Royal Dutch-Company, deren Aktien sich zum größten Teil in englischen Händen befinden, zum Teil in den Händen der englischen Admiralität.

Der Kampf der zwei wirtschaftlichen Giganten erschüttert die Welt. Dieser Kampf, die Cliquen, die ihn führen, sind die Drahtzieher von Revolutionen. So hat die mexikanische Revolution zwei Quellen: den Hunger des Bauern nach Grund und Boden und den Hunger der beiden Öltrusts nach mexikanischen Ölquellen. Und wenn z. B. die Herren Vandervelde, Renaudel und Henderson und der alte Papa Kautsky um die georgische Unabhängigkeit so viele Tränen verlieren, so wird die Geschichte feststellen, wer von diesen Herren der Trottel und wer der Agent der Royal Dutch ist, die über Batum und Tiflis ihre Hand nach Baku ausstreckt.

In der türkischen Frage spielt Mossul-Öl jetzt die entscheidende Rolle. Unweit von Mesopotamien in Persien hat die englische Persian Oil Company die großen Naphtha-Vorräte beschlagnahmt. Bekommt England auch Baku in die Hände, baut es Mossul-Öl aus, dann hat es einen großen Zuwachs an Kraft gegenüber dem amerikanischen Kapital.

Aus diesem Grunde treibt England die Politik der Zerreißung, der Zersplitterung der Türkei. Natürlich tut das der englische Imperialismus nicht so primitiv. Er sagt nicht: Im Namen des Mossul-Öls zerreiße ich die Türkei. Er erklärt, er zerreiße sie im Namen des Propheten; in Mekka, dem geistigen Zentrum des Islams, sollen nicht die Türken sitzen.

Die Türken sind doch getaufte Mohammedaner, sie kamen aus Mittelasien, und die rechten Mohammedaner, das sind die Araber. Aus diesem Grunde sind die Engländer die Verteidiger Arabiens. In Mesopotamien sind sie Verteidiger der Unabhängigkeit Mesopotamiens aus einem anderen Grunde. In Mesopotamien waren die Kulturstätten, Babel und Ninive, und dabei liegt es auf dem Wege nach Indien ... Der englische Imperialismus herrscht dort nicht ganz einfach.

In Mekka wurde der Scheich Hassein durch die englischen Agenten zum König gekrönt. Sein Sohn Fusul sollte der König von Syrien werden. Aber die Franzosen glaubten, dass es besser sei, wenn ein französischer Agent in Syrien sitzt und nicht der Fusul, der Sohn des englischen Agenten. Sie verjagten ihn, und da hat sich gezeigt, dass das Volk von Mesopotamien, die Araber von Mesopotamien, den Fusul, den sie niemals gesehen haben, sehr lieben. Und England veranstaltete Wahlen in der Wüste von Mesopotamien, bei denen jedoch nicht die Araber abstimmten; die englischen Offiziere auf ihren Wachtposten gaben ihr Urteil darüber ab, wie sich die arabische Bevölkerung zu Fusul stellte.

Gegen diese Politik läuft Frankreich Sturm. Aus zwei Gründen. Obwohl, wie Sie wissen, Frankreich das Konkordat mit Rom gelöst hat und seine Führer mehr an den Teufel als an den katholischen Gott glauben, erinnert sich Frankreich, dass zur Zeit der Ludovici Frankreich die katholische Macht war. Und aus diesem Grunde, als katholische Macht, will es die Christen im Orient selbst schützen. Zweitens erinnert sich Frankreich, dass es eine große mohammedanische Bevölkerung hat, und also nicht aus katholischen, sondern aus mohammedanischen Gründen ist Frankreich wieder der Verteidiger der Türkei. Und der dritte Grund ist viel einfacher. Er besteht darin, dass Frankreich erstens kein Interesse an der Stärkung des englischen Imperialismus hat, dass dessen Verbindungen lückenlos sind, und dass es in der Türkei die Geleise betreten will, die zuerst Napoleon und dann Deutschland betrat. Als Napoleon gegen England kämpfte, tat er es im Bündnis mit der Türkei und suchte den Kampf auf türkischem Boden durch Stärkung der Türkei zu führen. Und als die Deutschen gegen England kämpften, waren sie auch gezwungen, den Kampf durch die Stärkung der Türkei zu führen, Frankreich kann nichts anderes ausdenken. Frankreich hat in diesem Kampfe zwei Posten erobert: Syrien, von wo aus es Englands Hauptschlagader, den Kanal von Suez, bedroht. Nachdem England die Griechen gegen die Türkei gehetzt hat, hat Frankreich eigenmächtig mit dem Führer der nationalen Bewegung in der Türkei, mit Mustapha Kemal Pascha, den Frieden angebahnt. Das Verhältnis der Alliierten zur Türkei bildet jetzt eine so schmerzliche Frage in dem Liebesverhältnis, das sich Entente nennt, dass England die Einladung der Türkei nach Genua abgelehnt hat. Und auf unsere schüchterne Anfrage: Wenn Ihr die ganze Welt retten wollt, warum wollt Ihr dann die armen Türken sterben lassen?, hat England uns in der Weise, wie es Lord Curzon beliebt, geantwortet: Die türkische Frage geht Euch gar nichts an. Nun, wir werden abwarten, wir werden sehen, ob in Genua die Franzosen kein Interesse in der türkischen Frage an den Tag legen werden. Wir können schon heute sagen, dass die türkische Frage uns, das russische Volk und das ganze internationale Proletariat, sehr viel angeht. Denn wenn die türkische Frage nicht gelöst wird, wenn die Türkei keine Möglichkeit des Lebens haben wird, so wird sie natürlich ein Element der Unruhe in der Welt sein. Wir glauben, dass die englische Regierung, die in Indien und in Ägypten ein sehr feines Organ für die Bewegungen der mohammedanischen Welt hat – denn diese richten sich gegen den Bauch Englands –, sich auch überzeugen wird, dass die türkische Frage eine Weltfrage ist, und dass England nach drei Jahren dieser türkischen Politik zu dem Resultat kommen wird, dass die türkische Politik der Alliierten ein ebensolcher Bankrott ist wie die gesamte Politik der Alliierten allen großen Fragen gegenüber.

Die Lage im Fernen Osten

Genossen! Ein paar Worte noch zur Situation im Fernen Osten, die zwar in Genua nicht besprochen wird, die der Gegenstand der Verhandlungen der Washingtoner Konferenz war, aber ohne deren Verständnis wir die Lage in Europa nicht verstehen können.

Sie wissen, dass Japan eine der siegreichen alliierten Mächte war. Japan war nicht nur siegreich, sondern auch sehr klug. Es hat sich nicht zu sehr angestrengt. Es hat Kiautschou und Tsingtau den Deutschen geraubt, es hat ein paar Tausend Menschen verloren, und dann hat es sich gesagt: Es ist nicht gut, zu viel zu siegen. Und Japan blieb still, arbeitete, verkaufte Munition, Textil-, Metallwaren, nicht nur nach Russland, nicht nur nach China, sondern sogar nach den englischen Kolonien, in denen es den englischen Handel stark zurückdrängt. Es baute sich eine Handelsflotte, und gleichzeitig dachte es an die große Beute, die seiner wartet, nämlich an die Eroberung Chinas. Japan hat sich im Kriege bereichert. Aber trotzdem ist Japan ein armes Land. Es hat weder Kohle, noch Eisen, noch Reis, der die Hauptnahrung der japanischen Bevölkerung ist. Und vor seiner Schwelle liegt das große Vierhundertmillionenreich China, das nur in unseren geographischen Atlanten ein Volk und ein Reich ist. China ist ein Kontinent, in dem einzelne Teile noch im tiefsten Mittelalter leben und andere sich in der Entwicklung zur Ausbildung des Bürgertums und der Nation befinden. Wer China beherrschen wird, wird die Welt beherrschen, und wenn das chinesische Volk selbst China entwickeln wird, so wird es das größte Volk der Welt sein. Das verstand Japan, und Japan versuchte während des Krieges im stillen China zu erobern. Es stellte und drückte durch die 21 Bedingungen – es sind nicht die Bedingungen, die wir der Zweiten und Zweieinhalb-Internationale diktieren, sondern die die japanische Regierung den Chinesen stellte –, und diese Bedingungen bedeuten: die chinesische Armee, die chinesische Verwaltung wird durch die Japaner geleitet, und die größten Eisen- und Kohlenwerke Chinas kommen an die Japaner. Wie Sie wissen, gab es in der amerikanischen Presse einen großen Kampf gegen Japan und ein Geschrei in der englischen Presse. Aber Japan geschah nichts, weil der Weltkrieg weiter tobte und die Gefahr drohte, dass Japan einen Sonderfrieden mit Deutschland schloss, und dass, wenn Tokio und Berlin Frieden machten, sich Petrograd, das zaristische Russland, anschloss, und dass ein Block der drei reaktionärsten Mächte der Welt entstand, das Bündnis des preußischen Militarismus, des russischen Zarismus mit dem Samurais von Japan. Das wussten die Alliierten, sie wussten, dass Verhandlungen hinter den Kulissen stattfanden, und aus diesem Grunde gingen sie dem Konflikt mit Japan aus dem Weg. Aber nach dem Kriege erklärte Amerika: Nein, das erlaube ich nicht. In der amerikanischen Presse und Literatur setzte ein scharfer Kampf gegen Japan ein. Und das ausschlaggebende in diesem Kampf war die Frage: Japan ist der Verbündete Englands; wenn Japan und Amerika miteinander zusammenstoßen, was wird England tun? Sie können sich vorstellen, dass England, das in Amerika die größte, am schnellsten wachsende Industriemacht der Welt sieht, eine Industriemacht, die sich eine große Flotte zugelegt hat, in Amerika einen Konkurrenten sieht, den es nicht weniger fürchtet, als es Deutschland fürchtete. Aber gleichzeitig hat das englische Imperium Kolonien wie Kanada, Australien, die anti-japanisch sind. Kanada ist es aus dem einfachen Grunde, weil es durch sein ganzes Wirtschaftsleben, durch das Eisenbahnsystem, durch die Einfuhr und Ausfuhr mit Amerika mehr als mit England verbunden ist. Australien, weil es schwach bevölkert ist und schutzlos Japan ausgeliefert sein könnte. Der Druck dieser Kolonien und der Wille, Amerika im Falle eines englisch-französischen Krieges zu neutralisieren, führten dazu, dass England sich bereit erklärte, das Bündnis mit Japan aufzuheben und zusammen mit Amerika auf Japan zu drücken.

Sie kamen zur Beratung in Washington zusammen. Sie haben die Dreadnoughts zum alten Eisen geworfen, weil sie nichts weiter mehr sind als altes Eisen, aber sie haben in Washington nichts erledigt. Sie haben ein Viermächte- Abkommen geschlossen zwischen England, Amerika, Japan und Frankreich. Und dieses Abkommen besagt nur, dass, bevor sie sich in Zukunft zu raufen beginnen, sie miteinander sprechen und versuchen müssen, sich auszusöhnen. Sie würden das getan haben ohne dieses Abkommen. Das Abkommen ist ein Stück Papier.

Was China anbetrifft, den größten Stein des Anstoßes, so haben sie beschlossen, dass es frei und unabhängig sein soll. Sie haben von Japan gefordert, dass es Schandung räumt, und Japan hat die Räumung zugesagt. Aber es sitzt noch heute dort, wie es in Sibirien sitzt, das zu räumen es auch tausendmal versprochen hat.

Welche Bedeutung haben die ostasiatischen Fragen für die politische Lage in Europa? Wenn Sie nur die Tatsache berücksichtigen, dass das Viermächte-Abkommen geschlossen worden ist von Japan, England, Frankreich und Amerika, so müssen Sie fragen: Wie kommt Frankreich in diese Gruppe? Wie kommt Saul unter die Propheten? Wenn es hingekommen ist, weil es Indochina besitzt, so hat doch Holland viel größeren Besitz in Asien; der malaiische Archipel ist bedroht durch Japan.

Und hier kommen wir eben zu den Verbindungen mit den europäischen Dingen. Amerika weiß ausgezeichnet, dass England der stille Verbündete Japans ist. Und obwohl England erklärt hat: Ich löse das Bündnis mit Japan, so droht immer die Gefahr, dass es das Zünglein an der Wage bildet. Und da zieht Amerika die französische Karte hervor: Unterstützt Du Japan gegen mich, so unterstütze ich Frankreich gegen Dich. Und das ganze Geschrei in der amerikanischen Presse gegen die französischen Rüstungen ist nicht des Papiers wert, auf dem es geschrieben steht.

Es ist eine Wahlmache der republikanischen Partei, die Wahlen zum Kongress vorhat! Die Franzosen zahlen keine Prozente, und da muss man für den lieben Wähler gegen die Franzosen schreiben. Aber Frankreich bleibt die latente Karte Amerikas im eventuellen Kampfe gegen England, und hier ist die Verbindung mit den europäischen Fragen.

Japan und Amerika können in einen Krieg zwischen England und Frankreich um die Hegemonie in Europa hineingezogen werden, und ein Krieg Amerikas mit Japan um den Stillen Ozean kann den Krieg Englands mit Frankreich auslösen. Es ist ein Komplex von Fragen, und wie man Europa auf kapitalistischem Wege nicht restaurieren kann ohne amerikanisches Kapital, so kann man auch nicht Europa oder die Welt abrüsten in Ostasien und die Verhältnisse in Europa so belassen, wie sie sind. Es ist ein Knäuel von Fragen, und die Tatsache, dass heute Amerika an Genua nicht teilnehmen wird als einer, der mitratet und mittatet, beweist, dass die ganze Geschichte in Genua im besten Falle so enden kann, dass die Türen zu weiteren Verhandlungen geöffnet werden, aber Konkretes kann aus der Geschichte nicht herauskommen.

Die politische und wirtschaftliche Bilanz der drei Jahre

Überblicken wir jetzt die Sachlage, wie sie vor Genua steht: Politisch: Amerikanisch-japanischer Gegensatz in Ostasien, der Kampf um den Stillen Ozean geht weiter. In Europa anglo-französischer Gegensatz, der drei Zentren hat: Deutschland, Russland und die Türkei. Es ist ein vollkommenes politisches Chaos, eine vollkommene politische Deroute, und mehr noch: die Gegensätze sind so, dass die Verständigungskonferenz in Genua zur Kampfkonferenz der entgegengesetzten Interessen wird.

Sehen Sie sich das ökonomische Resultat der drei Jahre an, das diese Herren genötigt hat, nach drei Jahren ihrer ungestörten Wirtschaft, nach drei Jahren, in denen der Oberste Alliierten-Rat der Diktator Europas war, aufzuschreien: Rettet Europa! Sie haben wirtschaftlich zu diesem Aufschrei alle Ursache. Es genügt, die Produktion des Jahres 1921 mit der des Jahres 1920 zu vergleichen. Mit Ausnahme eines geringen Wachstums der Welternte in Weizen, Roggen und Gerste ist in der Produktion aller Rohstoffe ein Fallen der Produktion bis zu 25 Prozent festzustellen. Die Baumwolle fiel von 39 Millionen Ballen auf 28 Millionen Ballen, Eisen von 60 Millionen Tonnen auf 36, Stahl von 68 Millionen Tonnen auf 40. Die Arbeitslosigkeit beträgt in England 15 Prozent der proletarischen Bevölkerung, in Belgien 24 Prozent, in Schweden 25 Prozent, in Amerika 20 bis 25 Prozent, in Norwegen 15 Prozent, in Dänemark 20 Prozent, in Holland 15 Prozent. Niemals kannte die Welt eine solche Arbeitslosenkrise wie die, die jetzt die kapitalistische Welt durchzieht. Und das ganze Chaos der Welt kommt in nichts besser zum Ausdruck als darin, dass die besiegten Staaten dadurch gerettet worden sind, dass sie entwaffnet wurden und kein Geld für Militär auszugeben brauchen.

Deutschland spart durch seine Entwaffnung 5 Milliarden Goldmark, und diese Ersparnis ist die Summe, für die es Brot und Rohstoffe kauft. Und die niedrige Valuta, das Resultat der Zerrüttung der Finanzen Deutschlands, bildet den zweiten Grund dafür, dass dieses keine Arbeitslosigkeit kennende, exportierende, produzierende Land zur größten Gefahr für die Alliierten wird. Denn entweder wird es produzieren in den sich ökonomisch verschlechternden Verhältnissen, wo der deutsche Arbeiter den dritten Teil des Lohnes des französischen bekommt, den sechsten Teil des Lohnes des englischen und den zwölften Teil des Lohnes des amerikanischen. Dann wird der Arbeiter angesichts seiner Unentbehrlichkeit im Produktionsprozess und seiner sich immer verschlechternden Lage schließlich rebellieren.

Kommt es anders, weiß die deutsche Bourgeoisie das Proletariat niederzuhalten, dann wird sie aus seinen Knochen so viel herausschinden, dass sie mit ihren Waren zum gefährlichsten Konkurrenten wird, der die Arbeitslosigkeit in England und Amerika steigert.

Diese ganze Lage voll politischer, voll ökonomischer Widersprüche drängt nach Lösung. Sie drängt nach Lösung entweder von unten durch die proletarischen Massen oder von oben durch neuen Krieg. Wie sich die kapitalistischen Staaten für diesen neuen Krieg vorbereiten, möchte ich Ihnen nur an einem Beispiel zeigen.

Sie wissen, dass Amerika jetzt das Land ist, das am meisten von der Entwaffnung spricht, gegen die großen Armeen kämpft usw., aus einer vollkommen richtigen Einsicht: dass die großen Armeen in dem nächsten Krieg wahrscheinlich keine Rolle spielen. Der nächste Krieg wird der Krieg der Unterseeboote, der Flugzeuge und der technischen Korps auf dem Lande, und seine Hauptwaffe wird die chemische Industrie sein. Und wie dieser chemische Krieg vorbereitet wird, darüber erlauben Sie mir, Ihnen aus dem Bericht Nevensons, der während der Washingtoner Konferenz in dem Manchester Guardian erschien, folgendes vorzulesen:

„Während des Krieges auf einer Landzunge an der Chesapeake-Bay errichtet, hat sie eigene Docks für Leichterfahrzeuge und umfasst ein Gelände von 10000 Ar. Das Korps für chemische Kriegführung (Chemical Warfare Corps), eine Sondertruppe der Armee, besteht aus 2000 Mann, 101 Offizieren und 1200 Angestellten, neben 100 gewiegten Chemikern, denen ihre Erfindungen, für die sich die Regierung das Recht der Erwerbung vorbehält, abgekauft werden. Beim Waffenstillstande konnten die Fabriken täglich 2000 Tonnen Giftgas herstellen, Jetzt arbeiten sie unter sehr vermindertem Druck, befinden sich aber in voller Bereitschaft. Die Stäbe für die Verteidigung und für den Angriff arbeiten dauernd gegeneinander, jeder Fortschritt im Giftgas wird möglichst durch Schutzmittel, wie neue Gasmasken oder undurchlässige Kleider zur Verhütung von Verbrennungen, wettgemacht. An der französischen Front konnten die Masken in sechs Sekunden aufgesetzt werden, jetzt genügen hierfür drei Sekunden.

Das aus gewöhnlichem Tafelsalz hergestellte Chlor ist der Grundstoff für alle Giftgase, mit Ausnahme vielleicht von „Lewisite“. Es werden viele Gasarten erzeugt; das beste Stickgas beißt „Phosgene“. Das Senfgas brennt das Fleisch weg und durchdringt jedes Kleidungsstück, wie man im Kriege gesehen hat.

„Chlorpikrin“ verursacht heftiges Erbrechen und macht sein Opfer gefechtsunfähig, bis der Feind kommt, es zu töten. „Lacrymatory-Gas“ verursacht eine Flut von Tränen. „Lewisite“ besteht aus Acetylen mit einer Lösung von Arsenik-Trichlorid, ist ein beißendes Gas wie Senfgas, aber weit kräftiger. Es dringt angeblich durch jede Maske, durch das Fleisch oder in die Lungen und verbrennt sein Opfer von innen wie von außen. Es gilt als das Hauptmittel im künftigen Kriege; beim Waffenstillstand wurde es in einer Menge von zehn Tonnen täglich hergestellt. Es verbreitet sich langsam, im Gegensatz zu „Phosgene“, welches darum beim gewöhnlichen Bombenwerfen aus der Luft bevorzugt wird; denn der Wind trägt „Phosgene“ weithin und erstickt alles. Aber „Lewisite“ könnte von Luftfahrzeugen mit einem Schlauch auf Städte gespritzt werden. Es hat eine ausgezeichnete Wirkung, indem es Kleider, Haut und Fleisch aller Betroffenen verbrennt. Geschickt verwendet, könnte dieses Gas sicherlich eine ganze Bevölkerung sehr schnell töten.

Es werden jetzt Bomben bis zu 1.950 kg Gewicht angefertigt, welche eine Tonne Trinitrotoluol höchster Sprengkraft fassen oder eine gleiche Menge, jedoch leichterer Stick- oder beißender Gase. Große Flugzeuge, von denen jedes mit mehreren Bomben oder Spritzgeräten ausgerüstet wäre, könnten leicht unverteidigte Großstädte zerstören.“

Und nachdem die Herren so weit gekommen sind, dass sie politisch, dass sie ökonomisch nicht aus noch ein wissen und die einzige sichere Tatsache, der einzige Pol in der Erscheinungen Flucht die Gase geblieben sind, vermittelst derer man ausgezeichnet Menschen verbrennen und Städte einäschern kann, in dem Moment, wo sie am Abgrund stehen, rufen sie Halt und berufen eine Konferenz nach Genua ein.


Zuletzt aktualiziert am 8.8.2008