Karl Radek


Leo Schlageter, der Wanderer ins Nichts

(Juni 1923)


Die Rote Fahne, 26. Juni 1923.
Herrmann Weber (Hrg.), Der deutsche Kommunismus, Dokumente 1915-1945, Köln 1972, S.142-147.
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Wir haben das weitausgreifende und tiefeindringende Referat der Gen. Zetkin angehört über den internationalen Faschismus, diesen Hammer, der – bestimmt, auf das Haupt des Proletariats zerschmetternd niederzufallen – in erster Linie die kleinbürgerlichen Schichten treffen wird, die ihn im Interesse des Großkapitals schwingen. Ich kann diese Rede unserer greisen Führerin weder erweitern noch ergänzen. Ich konnte sie nicht einmal gut verfolgen, weil mir immerfort vor den Augen der Leichnam des deutschen Faschisten stand, unseres Klassengegners, der zu Tode verurteilt und erschossen wurde von den Schergen des französischen Imperialismus, dieser starken Organisation eines anderen Teils unserer Klassenfeinde. Während der ganzen Rede der Gen. Zetkin über die Widersprüche des Faschismus schwirrte mir im Kopfe der Name Schlageter herum und sein tragisches Geschick. Wir wollen seiner gedenken hier, wo wir politisch zum Faschismus Stellung nehmen. Die Geschicke dieses Märtyrers des deutschen Nationalismus sollen nicht verschwiegen, nicht mit einer abwerfenden Phrase erledigt werden. Sie haben uns, sie haben dem deutschen Volke vieles zu sagen.

Wir sind keine sentimentalen Romantiker, die an der Leiche die Feindschaft vergessen, und wir sind keine Diplomaten, die sagen: am Grabe Gutes reden oder schweigen. Schlageter, der mutige Soldat der Konterrevolution, verdient es, von uns Soldaten der Revolution männlich-ehrlich gewürdigt zu werden. Sein Gesinnungsgenosse Freska hat im Jahre 1920 einen Roman veröffentlicht, in dem er das Leben eines im Kampfe gegen Spartakus gefallenen Offiziers schildert. Freska nannte den Roman: Der Wanderer ins Nichts. Wenn die Kreise der deutschen Faschisten, die ehrlich dem deutschen Volke dienen wollen, den Sinn der Geschicke Schlageters nicht verstehen werden, so ist Schlageter umsonst gefallen, und dann sollten sie auf sein Denkmal schreiben: der Wanderer ins Nichts.

Deutschland lag auf dem Boden, geschlagen. Nur Narren glaubten, daß die siegreiche kapitalistische Entente das deutsche Volk anders behandeln wird, als das siegreiche deutsche Kapital das russische, das rumänische Volk behandelt hat. Nur Narren oder Feiglinge, die die Wahrheit fürchteten, konnten an die Verheißungen Wilsons, an die Erklärungen glauben, daß nur der Kaiser, nicht das deutsche Volk für die Niederlage zu zahlen haben wird. Im Osten stand ein Volk im Kampfe, hungernd, frierend rang es gegen die Entente an 14 Fronten: Sowjetrußland. Eine dieser Fronten war gebildet von deutschen Offizieren und deutschen Soldaten. Im Freikorps Medem, das Riga stürmte, kämpfte Schlageter. Wir wissen nicht, ob der junge Offizier den Sinn seiner Tat verstanden hat. Der damalige deutsche Regierungskommissar, der Sozialdemokrat Winnig, und der General von der Goltz, der Leiter der Baltikumer, wußten, was sie taten. Sie wollten durch Schergendienste gegen das russische Volk der Entente Wohlwollen erobern. Damit die besiegte deutsche Bourgeoisie keine Kriegstribute den Siegern zahle, vermietete sie junges deutsches Blut, das von der Kugel des Weltkrieges verschont worden ist, als ententistische Söldlinge gegen das russische Volk. Wir wissen nicht, was Schlageter über diese Zeit dachte. Sein Führer Medem hat später eingesehen, daß er durchs Baltikum ins Nichts wanderte. Haben das alle deutschen Nationalisten verstanden? Bei der Totenfeier Schlageters in München sprach General Ludendorff, derselbe Ludendorff, der sich bis auf heute England wie Frankreich als Obrist im Kreuzzug gegen Rußland anbietet. Schlageter wird beweint von der Stinnes-Presse. Herr Stinnes wurde eben in der Alpina Montana der Kompagnon von Schneider-Creusot, des Waffenschmiedes der Mörder Schlageters. Gegen wen wollen die Deutschvölkischen kämpfen: gegen das Ententekapital oder das russische Volk? Mit wem wollen sie sich verbinden? Mit den russischen Arbeitern und Bauern zur gemeinsamen Abschüttelung des Joches des Ententekapitals, oder mit dem Ententekapital zur Versklavung des deutschen und russischen Volkes?

Schlageter ist tot. Er kann die Frage nicht beantworten. An seinem Grabe haben seine Kampfgenossen die Fortführung seines Kampfes geschworen. Sie müssen antworten: gegen wen, an wessen Seite?

Schlageter ging vom Baltikum nach dem Ruhrgebiet. Nicht erst im Jahre 1923, schon im Jahre 1920. Wißt ihr, was das bedeutet? Er nahm Teil an dem Überfall auf die Ruhrarbeiter durch das deutsche Kapital, er kämpfte in den Reihen der Truppen, die die Ruhrbergleute den Eisen- und Kohlenkönigen zu unterwerfen hatten. Watters Truppen, in deren Reihen er kämpfte, schossen mit den selben Bleikugeln, mit denen General Degoutte die Ruhrarbeiter beruhigt. Wir haben keine Ursache anzunehmen, daß Schlageter aus egoistischen Gründen die hungernden Bergarbeiter niederwerfen half.

Der Weg der Todesgefahr, den er wählte, spricht und zeugt für ihn, sagt, daß er überzeugt war, dem deutschen Volke zu dienen. Aber Schlageter glaubte, daß er am besten dem Volke dient, wenn er hilft, die Herrschaft der Klassen aufzurichten, die bisher das deutsche Volk geführt und in diese namenlose Unglück gebracht haben. Schlageter sah in der Arbeiterklasse den Pöbel, der regiert werden muß. Und er war ganz gewiß einer Meinung mit dem Grafen Reventlow, der da gelassen sagt, jeder Kampf gegen die Entente sei unmöglich, solange der innere Feind nicht niedergeschlagen ist. Der innere Feind aber war für Schlageter die revolutionäre Arbeiterklasse. Schlageter konnte mit eigenen Augen die Folgen dieser Politik sehen, als er ins Ruhrgebiet im Jahre 1923 während der Ruhrbesetzung kam. Er konnte sehen, daß, wenn auch die Arbeiter gegen den französischen Imperialismus einig dastehen, kein einiges Volk an der Ruhr kämpft und kämpfen kann. Er konnte sehen das tiefe Mißtrauen, das die Arbeiter zu der deutschen Regierung, zu der deutschen Bourgeoisie haben. Er konnte sehen, wie der tiefe Zwiespalt der Nation ihre Verteidigungskraft lähmt. Er konnte mehr sehen. Seine Gesinnungsgenossen klagen über die Passivität des deutschen Volkes. Wie kann eine niedergeschlagene Arbeiterklasse aktiv sein? Wie kann eine Arbeiterklasse aktiv sein, die man entwaffnet hat, von der man fordert, daß sie sich von Schiebern und Spekulanten ausbeuten läßt? Oder sollte die Aktivität der deutschen Arbeiterklasse vielleicht durch die Aktivität der deutschen Bourgeoisie ersetzt werden? Schlageter las in den Zeitungen, wie dieselben Leute, die als Gönner der völkischen Bewegung auftreten, Devisen ins Ausland schieben, um das Reich arm, sich aber reich zu machen. Schlageter hatte ganz gewiß keine Hoffnung auf diese Parasiten, und es war ihm erspart, in den Zeitungen zu lesen, wie sich die Vertreter der deutschen Bourgeoisie, wie sich Dr. Lutterbeck an seine Henker mit der Bitte wandte, sie sollen doch den Königen von Stahl und Eisen erlauben, die hungernden. Söhne des deutschen Volkes, die Männer, die den Widerstand an der Ruhr durchführen, mit Maschinengewehren zu Paaren zu treiben.

Jetzt, wo der deutsche Widerstand durch den Schurkenstreich Dr. Lutterbecks und noch mehr durch die Wirtschaftspolitik der besitzenden Klassen zu einem Spott geworden ist, fragen wir die ehrlichen, patriotischen Massen, die gegen die französische imperialistische Invasion kämpfen wollen: Wie wollt Ihr kämpfen, auf wen wollt Ihr Euch stützen? Der Kampf gegen den ententischen Imperialismus ist Krieg, selbst wenn in ihm die Kanonen schweigen. Man kann keinen Krieg an der Front führen, wenn man das Hinterland in Aufruhr hat. Man kann im Hinterlande eine Minderheit niederhalten. Die Mehrheit des deutschen Volkes besteht aus arbeitenden Menschen, die kämpfen müssen gegen die Not und das Elend, das die deutsche Bourgeoisie über sie bringt. Wenn sich die patriotischen Kreise Deutschlands nicht entscheiden, die Sache dieser Mehrheit der Nation zu der ihrigen zu machen und so eine Front herzustellen, gegen das ententistische und das deutsche Kapital, dann war der Weg Schlageters ein Weg ins Nichts, dann würde Deutschland angesichts der ausländischen Invasion, der dauernden Gefahr seitens der Sieger zum Felde blutiger innerer Kämpfe, und es wird dem Feinde ein Leichtes sein, es zu zerschlagen und zu zerstückeln.

Als nach Jena Gneisenau und Scharnhorst sich fragten, wie man das deutsche Volk aus seiner Erniedrigung hinausbringen kann, da beantworteten sie die Frage: Nur, indem man den Bauern frei macht – aus der Hörigkeit und Sklaverei der Freien. Nur der freie Rücken des deutschen Bauern kann die Grundlage bilden für eine Befreiung Deutschlands. Was die deutsche Bauernschaft am Anfang des 19. Jahrhunderts war, das ist für die Geschicke der deutschen Nation am Anfang des 20. Jahrhunderts die deutsche Arbeiterklasse. Nur mit ihr zusammen kann man Deutschland von den Fesseln der Sklaverei befreien, nicht gegen sie.

Vom Kampf sprechen die Genossen Schlageters an seinem Grabe. Den Kampf weiterzuführen, schwören sie. Der Kampf richtet sich gegen einen Feind, der bis auf die Zähne bewaffnet ist, während Deutschland zermürbt ist. Soll das Wort vom Kampfe keine Phrase sein, soll er nicht in Sprengkolonnen bestehen, die Brücken zerstören, aber nicht den Feind in die Luft sprengen können, die Züge zum Entgleisen bringen, aber nicht den Siegeszug des Ententekapitals aufhalten können, so erfordert dieser Kampf die Erfüllung einer Reihe von Vorbedingungen. Er fordert von dem deutschen Volke, daß es bricht mit denen, die es nicht nur in die Niederlage hineingeführt haben, sondern die diese Niederlage, die Wehrlosigkeit des deutschen Volkes verewigen, indem sie die Mehrheit des deutschen Volkes als den Feind behandeln. Er erfordert den Bruch mit den Leuten und den Parteien, deren Gesicht wie ein Medusengesicht auf die anderen Völker wirkt und sie gegen das deutsche Volk mobilisiert. Nur, wenn die deutsche Sache die des deutschen Volkes ist, nur wenn die deutsche Sache im Kampfe um die Rechte des deutschen Volkes besteht, wird sie dem deutschen Volke tätige Freunde werben. Das stärkste Volk kann nicht ohne Freunde bestehen, desto weniger ein geschlagenes, von Feinden umgebenes Volk. Will Deutschland imstande sein, zu kämpfen, so muß es eine Einheitsfront der Arbeitenden darstellen, so müssen die Kopfarbeiter sich mit den Handarbeitern vereinigen zu einer eisernen Phalanx. Die Lage der Kopfarbeiter erfordert diese Einigung. Nur alte Vorurteile stehen ihr im Wege. Vereinigt zu einem siegreichen, arbeitenden Volk, wird Deutschland imstande sein, große Quellen der Energie und des Widerstandes zu entdecken, die jedes Hindernis überwinden werden. Die Sache des Volkes zur Sache der Nation gemacht, macht die Sache der Nation zur Sache des Volkes. Geeinigt zu einem Volk der kämpfenden Arbeit, wird es Hilfe anderer Völker finden, die um ihre Existenz kämpfen. Wer in diesem Sinne den Kampf nicht vorbereitet, der ist fähig zu Verzweiflungstaten, nicht fähig aber zum wirklichen Kampfe.

Dies hat die Kommunistische Partei Deutschlands, dies hat die Kommunistische Internationale an dem Grabe Schlageters zu sagen. Sie hat nichts zu verhüllen, denn nur die volle Wahrheit ist imstande, sich den Weg zu den tief leidenden, innerlich zerrissenen, suchenden nationalen Massen Deutschlands zu bahnen. Die Kommunistische Partei Deutschlands muß offen den nationalistischen kleinbürgerlichen Massen sagen: Wer im Dienste der Schieber, der Spekulanten, der Herren von Eisen und Kohle versuchen will, das deutsche Volk zu versklaven, es in Abenteuer zu stürzen, der wird auf den Widerstand der deutschen kommunistischen Arbeiter stoßen. Sie werden auf Gewalt mit Gewalt antworten. Wer aus Unverständnis sich mit den Söldlingen des Kapitals verbinden wird, den werden wir mit allen Mitteln bekämpfen. Aber wir glauben, daß die große Mehrheit der national empfindenden Massen nicht in das Lager des Kapitals, sondern in das Lager der Arbeit gehört. Wir wollen und wir werden zu diesen Massen den Weg suchen und den Weg finden. Wir werden alles tun, daß Männer wie Schlagerer, die bereit waren, für eine allgemeine Sache in den Tod zu gehen, nicht Wanderer ins Nichts, sondern Wanderer in eine bessere Zukunft der gesamten Menschheit werden, daß sie ihr heißes, uneigennütziges Blut nicht verspritzen um die Profite der Kohlen- und Eisenbarone, sondern um die Sache des großen arbeitenden deutschen Volkes, das ein Glied ist in der Familie der um ihre Befreiung kämpfenden Völker. Die Kommunistische Partei wird diese Wahrheit den breitesten Massen des deutschen Volkes sagen, denn sie ist nicht die Partei des Kampfes um ein Stückchen Brot allein der industriellen Arbeiter, sie ist die Partei der kämpfenden Proletarier, die um ihre Befreiung kämpfen, um die Befreiung, die identisch ist mit der Freiheit ihres gesamten Volkes, mit der Freiheit all dessen, was arbeitet und leidet in Deutschland. Schlageter kann nicht mehr Wahrheit vernehmen. Wir sind sicher, daß Hunderte Schlageters sie vernehmen und sie verstehen werden. (Allgemeiner Beifall der Erweiterten Exekutive.)


Zuletzt aktualiziert am 8.8.2008