Karl Renner

Löst die nationale Autonomie
die Amtssprachenfrage?

(November 1907)


Der Kampf, Jahrgang 1 2. Heft, November 1907, S. 53–60.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die nationale Autonomie ist ein politisches Prinzip wie die »persönliche Freiheit« oder die »Gleichheit vor dem Gesetze« oder die »Trennung der Gewalten«. Vorläufig ist sie nichts als Prinzip, als Idee, ein blosses Programm und noch nicht lebendige Rechtsinstitution, einige schwache Ansätze ausgenommen. Der Weg von der politischen Idee bis zur konkreten Rechtsinstitution ist ein langer, mühsamer; wir werden ihn nur durch schwere geistige Arbeit und schöpferische Tatkraft wirklich gangbar machen und zum Ziele gelangen.

Und dann erst werden wir sehen, dass auch dieses politische Prinzip im harten Raume seine Schranken findet, wie jedes andere sie gefunden hat. Wir werden noch oft genug dazukommen, »die Grenzen der nationalen Autonomie« zu erörtern, wiewohl die Zeit eher drängt, zunächst ihre positiven Einrichtungen zu entwickeln und die Bewährung vor den Zweifel zu setzen. Sicher ist indessen, dass solche Grenzen dort nicht zu finden sind, wo sie Genosse Meissner auf dem Pilsner Parteitage unserer tschechischen Genossen zu finden glaubte, in der Amtssprachenfrage.

Sie ist das Hauptkampfgebiet der bürgerlichen Nationalisten und beherrscht schon durch sechzig Jahre unsere Politik. Nichts kann für den objektiv Urteilenden verwunderlicher sein, als dass gerade die Sprachenfrage der Aemter die unlösbare Schwierigkeit des nationalen Problems sein soll. An sich ist sie doch eine rein administrativ-technische Aufgabe. Als reine Sprachenfrage, für die man sie ausgibt, findet sie ihre Lösung in zwei einfachen Organisationsgrundsätzen : Erstens ist jeder Staatsbürger von den Staatsorganen tunlichst in seiner Sprache zu hören; zweitens ist trotz der so geforderten Achtsprachigkeit die Einheitlichkeit, Uebersichtlichkeit und Oekonomie der Administration tunlichst zu erhalten. Diese zwei Grundsätze sind – solange man die Frage als reine Sprachenfrage behandelt – auf jeden konkreten Fall anzuwenden; es kann dabei in jedem Falle streitig sein, welcher Grundsatz überwiege, denn jeder kann nur nach Tunlichkeit berücksichtigt werden. Ein auswandernder Ruthene zum Beispiel, der in Innsbruck erkrankt und nun die Behörden beschäftigt, kann natürlich als österreichischer Staatsbürger verlangen, von österreichischen Behörden verstanden zu werden; aber ebenso gewiss kann von den Steuerzahlern nicht verlangt werden, dass sie an jedem Ort des Staates, in jedem Administrationszweig so viel Beamte hinsetzen, dass alle acht Sprachen faktisch in allen Aemtern verstanden werden. Wie weit man auch in der Berücksichtigung des Bedürfnisses geht, immer ist die Amtssprachenfrage als solche nur eine Lernfrage der Beamten und eine Kostenfrage.

Die Grundlagen der Staatsverfassung und die Organisation der Aemter berührt sie nicht, solange wir nichts in ihr sehen als die Frage der Sprachen. Und ich möchte schier bezweifeln, dass«die Sprachenfrage der Tschechen jemals so gut gelöst war wie durch das Bachsche Regime, das sehr darauf achtete, dass jeder Staatsbürger in seiner Muttersprache gehört werde und dass die Beamtenschaft möglichst polyglott sei. Ja, diese erstaunliche Polyglottie ist vielleicht in der ganzen Weltgeschichte unerreicht; absichtlich wurden in jedem grösseren Amt Beamte der verschiedensten Muttersprachen zusammengesetzt und ich wette, ein Ruthene in Innsbruck hätte den Behörden keine Verlegenheit bereitet.

Das soll kein Scherz sein. Wollen wir unseren Gegenstand wirklich in ganzer Schärfe erfassen, so müssen wir alles, was er enthält, einzeln fassen und in isolierter Wirksamkeit betrachten. Eine Seite unserer Frage ist gewiss die rein linguistische des Verstehens und Verstandenwerdens, sie ist zugleich die administrativ-technische Seite. Und es ist kein Scherz, sondern Tatsache, dass sie – der damaligen kulturellen Entwicklung entsprechend – in der Bachschen Administration am besten erledigt war.

Jedermann fühlt, dass die Amtssprache noch andere Interessen berührt als die jedes einzelnen Staatsbürgers, zu verstehen und verstanden zu werden, und des Staates, billig zu administrieren. Ja, der rein sprachliche und administrativ-technische Standpunkt berührt uns heute wie eine komische Verkennung der Tatsachen.

Welche Interessen also stecken dahinter: Welche tieferen, geheimnisvollen Gründe bestimmen demnach den Streit um die Amtssprache?

Es ist nun erheiternd, dass die bürgerlichen Streitparteien es geflissentlich vermeiden, zu sagen, was dahinterstecke. Sie argumentieren immer nur sprachlich, die einen warnen, Oesterreich in einen babylonischen Turm zu verwandeln, den man nicht mehr administrieren könne, die anderen beklagen den armen Teufel von Staatsbürger, der in seiner Sprache sein Recht nicht finde. Hie Staat und Staatssprache, hie Individuum, Individualrecht und Muttersprache! Jedermann fühlt dabei genau, dass diese Parolen bei beiden unaufrichtig sind, dass beide anderes wollen, als sie sagen.

Uns Sozialdemokraten ist dies Versteckenspiel nichts Neues. Wir haben doch schon lange gelernt, dass sich unter dem Streit um juristische Formeln, um staatsrechtliche Interpretationen gesellschaftliche Klassenkämpfe verbergen. So hat der Kampf für und wider die Negersklaverei in den Vereinigten Staaten jahrelang vor dem Sezessionskrieg getobt in der Form, dass man die Buchstaben der amerikanischen Bundesverfassung verschieden auslegte: Souveränität der Union oder der Einzelstaaten – das schien die Frage, Lohnarbeit oder Sklavenarbeit lautete sie wirklich. Höchst selten können herrschende Klassen ihre Ziele offen als Klasseninteressen bekennen, weil sie die Massen dadurch offen aufreizen, sie müssen sie in die Formeln historischen oder geltenden Rechtes, religiöser oder nationalistischer Ideologie kleiden. Und eine der wichtigsten Missionen der Vertreter der Unterdrückten ist, diese trügerischen Formeln zu zerpflücken und ihren realen Kern aufzuzeigen.

Sicherlich ist es heute ein Gemeinplatz, zu sagen: Hinter den Sprachenkämpfen stecken Klassenkämpfe, und ein ebensolcher Gemeinplatz ist der Einwand: Ja, es steckt mehr dahinter, sie sind ein Ausfluss des Kampfes der Nationen, sie entrollen nationale Forderungen. Beides liegt auf der flachen Hand. Aber nicht so klar und sinnfällig ist, inwieweit blosse Forderungen von Klassen, inwieweit Lebensbedingungen der Nationen vorliegen, welches Mass den beiden Faktoren zukommt.

Auffallen muss uns da zunächst, dass bei uns die nationale Frage durch Jahrzehnte fast ausschliesslich als Sprachenfrage und diese wieder als Frage der Aemter und höchstens noch der Hochschulen in Erscheinung trat. Die Nationalität erfasst doch das gesamte Zusammenleben der Menschen, das ganze kulturelle und politische Dasein der Massen. Die Nationen sind der Stoff, aus denen die Geschichte Staaten formt, sie sind die eigentlichen Staatenbildner der Neuzeit und der geschlossene Nationalstaat ist das Staatsprinzip des 19. Jahrhunderts. Es ist doch sonderbar, dass Sozialdemokraten und konsequente Marxisten (Bauer und meine Wenigkeit) diese Universalität der Nation in der Theorie wieder entdecken, während unseren lärmendsten bürgerlichen Nationalisten zu gleicher Zeit die grosse Staatsschöpferrolle der Nationen zusammenschrumpft auf die kleinlichen Formeln von Sprachenverordnungen!

Das kann doch nur seinen Grund darin haben, dass die Sozialdemokratie als Vertreterin der Massen die Nation in ihrer Masse, das Nationsganze sieht und ihre gesamten Daseinsbedingungen erfasst, während die bürgerlichen Nationalisten nur einen Teil, nur eine Klasse und ihr Interesse vor Augen haben. Das nötigt uns zur Vorsicht. Nicht unbesehen dürfen wir die »Fragen« der Nationalisten übernehmen, weil sie »auch« national sind. Wir müssen vorerst ihren Wert für das Nationsganze messen, den Grad ihrer Bedeutung genau abschätzen und dürfen die Hauptfragen nicht durch Akzidenzfragen verwirren.

Wir haben also genau festzustellen, inwieweit die Amtssprachenfrage reine Klassenfrage, inwieweit nationale Frage ist.

In jedem Lande, in welchem die kapitalistische Produktionsweise besteht, ist die unmittelbare Herrschaftsausübung der Herrenklasse unmöglich, einerlei ob die Monarchie, Aristokratie oder Demokratie herrscht. Der antike Heerkönig, der feudale Junker, der athenische Bürger gebietet persönlich und unmittelbar. Diese persönliche Herrschaftsausübung ist dem Bourgeois versagt: als Privateigentümer und Produzent hat er seine Privatgeschäfte zu besorgen, er kann nicht persönlich das Gemeinwesen verwalten, er kann höchstens ab und zu einmal wählen. Alle Herrschaft vollzieht sich heute durch Vertreter, durch Repräsentanten, durch Angestellte. Die Zahl der Herrschaftsorgane wächst kolossal, sie bilden zusammen eine von den produktiven Klassen deutlich geschiedene bureaukratische Klasse mit ganz eigenartigen, spezifischen Lebensformen. Sie übt die Herrschaft aus, aber tut dies in der Regel im Namen, Auftrag und Interesse anderer, der ganzen Bourgeoisie und speziell – da sie heute zu ihr zählt – der in der Produktion selbst stehenden Bourgeoisie.

Diese bureaukratische Klasse sitzt im Amte selbst, das Amt ist zugleich ihr ökonomisches Interesse, ihr einziges dazu, da sie ja mit der Produktion selbst nichts zu schaffen hat. Amtsinteresse und Klasseninteresse ist ihr identisch. Die Staatsform selbst ist für ihr Dasein gleichgültig; wir finden sie unter dem Absolutismus, in der konstitutionellen Monarchie, in der Republik. Ihr gehören nicht nur die Staatsbeamten an, sondern auch die Angestellten der autonomen Verwaltung, die Anstaltsbeamten, die liberalen Berufe, die Lehrpersonen und die Offizierskaste. In weiterer Folge können die Unterbeamten und die Amtsdienerschaft zu ihr gezählt werden, soweit die nationale Frage in Betracht kommt.

Zum überwiegenden Teile rekrutiert sich diese Klasse aus ihren eigenen Angehörigen – es ist diese eigene Fortpflanzung ein für die Existenz einer Klasse wesentliches Merkmal – aber zu einem grossen Teil gehen in sie Kinder von Bürgern, Kaufleuten, Handwerkern und Bauern auf, viele Bureaukratenkinder finden in die reiche Bourgeoisie den Weg. Alle Klassen der Bourgeoisie sind dieser Klasse verwandt – aber höchst selten und praktisch belanglos sind die Fälle, in denen Kinder des industriellen Proletariats in diese Klasse aufsteigen: Armeleutkinder sind ihrer viele, Proletarierkinder so gut wie keine. Mehr als andere sind aber diese Armeleutkinder erfüllt von kleinbürgerlich servilen und konfessionellen Vorstellungen und stehen den wirtschaftlichen Klassenkämpfen fern. Man muss mit den Elendsbürgern ebenso vorsichtig sein wie mit den Lumpenproletariern, beide dürfen nicht mit dem Proletariat in einen Topf geworfen werden.

Das bureaukratische Klasseninteresse steigert sich mit der Rangsklasse, es bewirkt in den unteren Stufen den Kampf ums tägliche Brot, in den oberen noch dazu den Kampf um die Macht und Ehre. Dem unmittelbaren Klasseninteresse dieser Schichte entspricht das abgeleitete Mitinteresse jener Schichten, aus denen sie sich rekrutiert. Somit wirkt in der grossen Bourgeoisie, welche die Offiziere und Oberbeamten stellt, deren direktes Interesse die Beamtenschaft im Staate zu wahren hat, dieses Mitinteresse stärker als in der mittleren und in dieser normalerweise stärker als in den unteren Schichten des Bürgertums, das einen schweren wirtschaftlichen Konkurrenzkampf führt und der Beamtenschaft im allgemeinen nicht grün ist. [1]

Für diese bureaukratische Klasse ist der Kampf ums Amt zugleichökonomischer Klassenkampf. Sie ist gezwungen, ihn zu kämpfen, es hat überhaupt keinen Sinn, ihr als Klasse Versöhnung zu predigen, wie einsichtsvoll auch einzelne aus ihr denken mögen. Wenn von zwei Bewerbern nur einer angestellt werden kann, wenn das Dilemma lautet: »Ich oder du«, ist es kindisch, Brüderlichkeit zu predigen. Zweifellos gibt die deutsche Amtssprache den Deutschen, die tschechische den Tschechen einen Vorsprung. Und so ist von jeher und bleibt in alle Zeit das Klasseninteresse der deutschen Intelligenz, dass alle Aemter im ganzen Staatsgebiet deutsch seien, wie jenes der tschechischen, dass ein möglichst grosses Gebiet des Staates tschechische Amtssprache habe. Je weiter die Sprachsphäre der Nation über ihre Wohnsphäre hinausgeht, um so besser für die nationale Intelligenz. Die sprachliche Expansion über das Wohngebiet ist notwendige Klassenpolitik der bureau-kratischen Klasse. Daran ist nichts zu ändern, nichts zu lösen, das ist so.

Unendlich possierlich sind diese bureaukratischen Kreise, die befürchtet haben, unter der Herrschaft des gleichen Stimmrechtes müsse ihre Expansionsbrunst erlöschen, und nun merken, dass sie noch immer beim Zeuge sind. Wir haben niemals dieses Erlöschen prophezeit, sondern im Gegenteil erklärt: Weil diese Klasse den Krieg will und sogar wollen muss, kann es keinen Frieden geben, ausser indem man die anderen Klassen zum Richter über sie setzt und sie sich zu vertragen zwingt, indem man sie aus Herren der Allgemeinheit zu ihren Dienern macht.

Und ähnlich verhält es sich mit der nationalen Autonomie. Das Ringen um die Vorherrschaft wird und kann auch sie diesen Klassen nicht aus der Seele nehmen, wie überhaupt Rechtseinrichtungen ökonomische Notwendigkeiten nicht beseitigen. Dass Herrenklassen bleiben wollen, dass sie auch einander die Herrschaft abringen wollen, kann die nationale Autonomie gewiss nicht hindern und insoweit hat Meissner gewiss recht. Das ist eine Grenze der nationalen Autonomie.

Aber zum Glück gibt es auch andere Klassen.

Die ganze Bourgeoisie ist an der Aemterfrage mitinteressiert, indirekt und in abgestuften Graden beteiligt. Ihr Hauptinteresse aber ist wirtschaftlich. Ihr Wirtschaftsinteresse erfordert eine ruhige, geordnete Administration, ja eine starke Staatsgewalt gegen das aufstrebende Proletariat. Sie macht den Amtssprachenrummel mit bis zu einem gewissen Grad, dann aber lässt sie regelmässig seit Jahrzehnten die Intellektuellen im Stich und rettet sich unter den Absolutismus, Feudalismus, Klerikalismus oder auch den § 14 vor ihren studierten Söhnen.

Darum geht der Amtssprachenstreit immer aus wie das Hornberger Schiessen!

Darum gerät ein Herr v. Schönerer, ein Kramař plötzlich an die Spitze der ganzen Nation und ist plötzlich von allem Gefolge und allen guten Geistern verlassen.

Und das gleiche Stimmrecht ist – bürgerlich gesehen – die Form, unter der das vereinigte Spiessertum seine studierten Söhne politisch unter Kuratel gesetzt und die unmittelbare parlamentarische Herrschaft der wirtschaftlichen Klassen hergestellt hat. Die Brotfrage der Studierten wird es noch immer interessieren, mitinteressieren, aber nie so viel als Haferpreis und Arbeitswilligenschutz. Das goldene Zeitalter der politisierenden Exstudenten ist vorbei.

Aber die Amtssprachenfrage ist auch eine nationale Frage. Das heisst sie interessiert unzweifelhaft alle Klassen der Nation und also auch das Proletariat.

Das Proletariat ist kein Schemen, kein Ideal von Selbstlosigkeit, auch diese Klasse verficht ihr Klasseninteresse als ein ökonomisches. Nicht in einer idealistischen Selbstlosigkeit liegt ihre Tugend, sondern in ihrer materiellen Selbstsucht: Weil sie eben heute das selbstische Interesse der überwiegenden Volksmehrheit und für die Zukunft das Nationsganze vertritt, handelt sie national, auch wenn sie dessen gar nicht bewusst ist. Die hohe ethische Mission des Proletariats ist hier wie im allgemeinen keine subjektive Tugendhaftigkeit, sondern objektive Notwendigkeit. Man schmeichelt dem Proletariat durch ihre Betonung nicht ungebührlich, aber man nützt ihm nicht, wenn man den gesunden Instinkt entwicklungfördernder Selbstbehauptung durch ethisierendes Gerede benebelt.

Wenn wir die Amtssprache eine nationale Sache nennen, sagen wir, dass sie zwar auch die bürgerlichen Klassen berühre, aber lange nicht so stark wie das Proletariat.

Aber natürlich kann sie diese Klasse der Gesellschaft nur in ganz anderer Richtung interessieren. Sind Bourgeoisie und Proletariat die Gegenpole jeder modernen Gesellschaft, so müssen auch in dieser Frage die Interessen beider Klassen auseinandergehen wie Süd und Nord.

Wir sehen sofort, dass dem so ist.

Die bureaukratische Klasse sitzt in den Aemtern. Ist sie der Bourgeoisie ganz fremd wie in Russland, so mag die Bourgeoisie daran denken, sie zu stürzen, zu entfernen und zu ersetzen. Unsere Bureaukratie ist ein Zweig der Bourgeoisie, mit ihr versippt und verschwägert, jener Zweig, durch den sie regiert, mit dem sie die Untertanen züchtigt; die Bourgeoisie sitzt im Amt: nicht das Amt selbst, sondern nur wer drinnen sitzt, ist für sie die Frage.

So weit aber sind wir doch als Sozialdemokraten hoffentlich orientiert, dass wir wissen: Nicht die Proletarier sitzen im Amt, sondern andere; das Proletariat gerade ist das Objekt, das leidende, misshandelte oder zum mindesten regierte Objekt des Amtes.

Wir sehen das Amt von unten und von aussen, von innen aber sehen wir höchstens die Gefängnisse.

Wir und damit die Nationen als Gesamtheiten besitzen das Amt nicht, haben überhaupt keinerlei Recht auf das Amt, keinerlei faktische Macht über dasselbe.

Und also ist unsere erste Frage die nach dem Recht auf das Amt, im einzelnen und im gesamten. Und wenn wir jetzt an dem bureaukratischen Sprachenstreit der Aemter ohne weiteres teilnehmen wollten, käme mir das so vor, wie wenn ein Obdachloser, der nicht eine Hundshütte besitzt, sich darüber erhitzen wollte, ob man ein Palais besser im Empirestil oder sezessionistisch einrichtet.

Das Proletariat aber ist amtspolitisch obdachlos und darum hat es mit Recht die Amtssprachenfrage nicht beachtet und aus gutem Instinkt nie verstanden – einzelne Seiten der Frage ausgenommen, über die ich später mich äussern werde.

Es sind nur wir Intellektuelle in der Partei, die wir bis jetzt zu diesen Dingen ein Verhältnis haben. Und gerade wir haben einen doppelten Grund, vorsichtig zu sein. Das oben nachgewiesene spezifische Klasseninteresse der Intellektuellen kann in uns leicht unbewusst nachwirken, also müssen wir uns zweifach strenge prüfen. Und zweitens besteht immer die Gefahr, dass auch in den Reihen der Sozialdemokratie die »Repräsentanten« eine Gruppe mit Sonderinteressen bilden wie die Bureaukratie innerhalb der Bourgeoisie. Haben wir nicht die sittliche Kraft – und hier tut sie not – dieses Sonderinteresse zu überwinden, so ersteht zwischen uns selbst das Konkurrenzinteresse, also ein nationaler Gegensatz unter den Repräsentanten, trotz der Internationalität der Repräsentierten. Diese zweite Gefahr ersteht natürlich nicht nur für Intellektuelle in der Partei, sondern für alle Vertrauensmänner. Und ich stehe nicht an, vorher zu warnen und auf die Klippe hinzuweisen, an der die Internationalität des Proletariats gelegentlich scheitern kann. Das Proletariat selbst muss hier die Augen offenhalten.

Weil aber das Proletariat und damit die Nation als reiner Untertan ausserhalb des Amtes steht, ist es gezwungen, die Amtsfrage überhaupt und im ganzen aufzurollen, das heisst also, sie als Verfassungsfrage zu stellen, bevor es sich in ein Detail einlässt.

Wie kann dem Volk das Recht auf das Amt zuteil werden?

Oder geht es ohne Amt, ohne Beamte, ohne Bureaukratie, im Wege der unmittelbaren Demokratie? Das ist ausgeschlossen, für lange Zeiten ausgeschlossen. Solange die Massen nicht ganz organisiert und solange sie neun und mehr Stunden täglich arbeiten, können sie nicht wie der athenische Bürger persönlich in der Agora alles entscheiden.

Wir müssen uns also für jetzt und auf lange Zeit hinaus mit jenen Formen der Verwaltungsorganisation begnügen, welche die Bourgeoisie entwickelt hat – wir vergessen dabei nicht, dass sie alles eher als der Weisheit letzter Schluss sind.

Die Aemterorganisation geht heute auf zwei Grundtypen zurück, die ich zunächst als den englischen und französischen Typus unterscheiden will. Bei beiden wird zwischen Beschlussfassung (Legislative) und Durchführung (Exekutive) unterschieden, beide beruhen auf dem Grundsatz: Beschlussfassen ist die Sache vieler oder aller, Durchführen ist Sache des einzelnen. In beiden Fällen ist der Durchführende Bureaukrat. Der Unterschied liegt im folgenden:

1. Die Verfassung kann so geordnet sein, dass alle Wünsche und Bestrebungen der Staatsbürger, alle ihre Klagen und Beschwerden, ihr ganzes politisches Recht zusammenfliessen in einem einzigen Organ, der Volksvertretung. Nur auf sie hat der Staatsbürger unmittelbaren Einfluss – auf die Aemter keinen. Der Gesetzgebungskörper ist gleichsam der eine Brennpunkt des ganzen Staates, wo aller Wille der Staatsbürger zusammenstrahlt und sich zum Gesetz verdichtet. Damit ist die Kraft des Staatsbürgers erschöpft. Alle paar Jahre einmal ein Stimmzettel, alle paar Jahre einmal ein Staatsorgan – der Rest ist Untertan.

Diesem Brennpunkt gegenüber tritt ein anderer: der Kaiser oder Präsident der Republik mit seinem Ministerium. Das Gesetz springt von einem Brennpunkt auf den anderen über, der Chef der Exekutive übernimmt es, das Gesetz durchzuführen. Von diesem zweiten Brennpunkt strahlt nun der herrschende Wille auseinander auf Mittel- und Lokalstellen der Verwaltung, auf die Aemter. Sie sind blosse Hilfsmittel des Chefs der Exekutive, er allein verfügt über sie, niemand hat ein Recht auf das Amt als er, niemand ernennt Beamte als er – direkt oder mittelbar durch Ernannte. Das Volk ist den Aemtern aller Stufen gegenüber reinei Untertan, der Chef der Exekutive alleiniger Amtsherr.

Man sieht, dass dieses System, das wir den französischen Typus nennen, ebenso funktioniert in der französischen Republik wie in Russland, Die Frage : Republik oder Monarchie ist für dasselbe gleichgültig. Charakteristisch ist ihm die vollständige Monopolisierung des Imperiums, der Regierungsgewalt durch eine vom Zentrum bis in die Lokalstelle und bis auf den einzelnen Staatsbürger unmittelbar einwirkende Bureaukratie. Die Regierungsgewalt ist monopolisiert – was nicht hindert, dass in der blossen Verwaltung zum Teil Selbstverwaltungskörper mitwirken.

2. Die Regierung kann auch in ganz anderer Weise eingerichtet sein.

Die Menschen sind über den Staatsboden nicht ausgestreut wie lose Körner, sie gliedern sich in örtliche und persönliche Verbände. Die Ortsverbände sind insbesondere durch die Ansiedlung gegeben: Ortschaft, Stadt, Bezirk, Kreis, Land.

Wie nun, wenn jeder Verband sich selbst regiert? Jede Gemeinde wählt ihren beschlussfassenden Körper, nach dessen Willen die Gemeinde regiert wird, ganz und ohne Vorbehalt! Natürlich können die Gemeindebürger dies nicht unmittelbar, denn jeder geht seinem Berufe nach. Sie bestellen eine beschlussfassende Körperschaft, die das volle Imperium besitzt. Beschliessen ist Sache aller, Durchführen Sache des einzelnen. Somit bestellt diese Körperschaft einzelne als Beamte, sie verfügt über ihre Beamten und niemand anderer hat ihnen zu befehlen. Andere Aemter aber gibt es in dei Gemeinde nicht, sie hat das Imperium vorbehaltlos.

Das hindert nicht, dass sie den Beschlüssen des nächsthöheren Verbandes unterworfen ist und ihre Durchführung nicht verweigern kann. Der Kreisverband ist genau so organisiert, auch er hat vorbehaltlos das Imperium, seine eigene Bureaukratie, die ihm allein untersteht. Und so ordnet sich Verband an Verband, bis der höchste eben den ganzen Staat ausmacht, der in gleicher Weise aus einer beschlussfassenden Körperschaft (house of commons) besteht, die zur Durchführung ein Komitee aus eigener Mitte bestellt (das englische Kabinett), welches wieder einzelne bureaukratische Organe ernennt.

Dies der Grundgedanke des englischen Systems. Es ist nicht notwendig demokratisch. Auf jeder Stufe kann ein enger Kreis Privilegierter den Verband zusammensetzen, er kann also aristokratisch oder plutokratisch gestaltet sein, die Staatsverfassung kann dabei monarchisch oder republikanisch sein, all das ist für die Grundidee dieser Behördenorganisation gleichgültig.

Und doch unterscheiden sich beide Organisationsformen fundamental.

Bei dem letzteren Typus hat jeder vollberechtigte Staatsbürger ein unmittelbares gleiches Recht auf alle Aemter vom Lokalamt bis zum Ministerium. Er trägt das gesamte Imperium mit, das er selbst durch sein Stimmrecht im Verein mit allen Mitbürgern ausübt. Es ist seine Sache, das eine Imperium entsprechend entweder in der Ortschaft oder im Bezirk oder im Kreis oder im Staat auszuüben. Er wird natürlich alles, was möglich ist, in der nahen Gemeinde erledigen, den höchsten Verband nur mit den höchsten Aufgaben belasten und nur mit jenen, die alle angehen. Keinem Amte gegenüber ist er blosser- Untertan, alle Aemter sind zugleich seine Aemter, alle Bureaukraten in gleicher Weise seine Diener.

Zugleich aber – und das übersieht man bei uns so gern – besteht doch eine reichgegliederte Bureaukratie, welche faktisch verwaltet. Das Volk hat sich die Regierung vorbehalten und bestellt zur Verwaltung geschulte Fachleute. Auf dem Kontinent hat man dieses System so gründlich missverstanden, dass man die Regierung den Bureaukraten vorbehalten und an der Verwaltung Laien hat teilnehmen lassen, was man »Selbstverwaltung« nennt. Man hat also den Bock zum Gärtner und den Gärtner zum Gebieter über die Schafe gemacht und wundert sich über die gärtnerische und züchterische Unfruchtbarkeit des Gedankens.

Diese Bureaukratie ist aber nicht hierarchisch geordnet. Die Beamtenschaft der Gemeinde, der Grafschaft und der Ministerien sind voneinander ganz unabhängig. Der Chef eines Lokalamtes kann höhere Bezüge haben als der eines Zentralbureaus. Jeder wird bezahlt nach seiner Leistung und die Bureaukratie fühlt sich dabei weitaus wohler als bei uns. Sie hat viel zu arbeiten, reichlich zu leben und nichts zu befehlen.

Jeder Verband also der Amtsherr seiner Aemter, der Beamte weder absoluter Gebieter des Volkes noch rechtloser Botmässiger ferner Vorgesetzten, sondern geachteter Diener seiner Körperschaft, die seinen Rat braucht und sucht, und weit und breit keine Möglichkeit einer bureaukratischen oder autokratischen Herrschaft – das ist jenes Amtssystem, für das die Ausdrücke Monarchie und Republik, Aristokratie und Demokratie unzulänglich, die üblichen staatsrechtlichen Kategorien unbezeichnend sind und das doch allein das Recht des Volkes auf das Amt garantiert. Es ist nicht Selbstverwaltung – dieser Name entspringt einem Missverständnis und drückt eine Missbildung aus – sondern Selbstregierung, Selfgovernment, Autonomie.

Diese Autonomie schwebt uns Sozialdemokraten vor, auch wo wir nicht von nationalen Dingen reden, sie ist einfach unser Organisationsprinzip in der Partei wie im Staate. Und die nationale Autonomie ist nur ihr Spezialfall, eine konsequente Anwendung des allgemeinen Grundsatzes, der dem Proletariat eingeboren ist, auf eine besondere Materie, auf die spezifisch nationalen Verbände. Die Selbstregierung der Nationen ist uns eine Selbstverständlichkeit gewesen seit jeher!

Die Nation wohnt geschlossen in Ortschaften, Städten, Bezirken, Kreisen und Ländern. Da sie auf allen Stufen über alle Aemter verfügt, ist es selbstverständlich, dass sie, autonom geworden, nur diejenigen bestellt, die ihr genehm sind. Die Sprachenfrage kann im geschlossenen Sprachgebiet gar nicht auftauchen. Wo dabei die Nationsgenossen viel mit Fremden verkehren, weiden sie selbst Wert darauf legen, im Amte Leute zu haben, die die Sprache der Fremden verstehen – da sie diese Leute vollständig in der Hand haben, kann ihnen auch keine Gefahr daraus erwachsen. Für neun Zehnteile unseres Staatsgebietes ist unter der Herrschaft der Autonomie die Entstehung eines Amtssprachenstreites ausgeschlossen.

Bleiben die gemischtsprachigen Gebiete, wo unter allen Umständen gemischte Aemter bestehen müssen. Von selbst, automatisch löst das System der Autonomie natürlich hier die Frage nicht. Hier erst treten die zwei Elemente in Erscheinung, die wir oben entwickelt haben.

Die Sprachenfrage im Amt ist, abgesehen von ihrer Bedeutung für das Nationsganze, 1. eine sprachliche oder administrativ-technische, 2. die ökonomische Klassenfrage der Angestellten.

Unzweifelhaft liegt es im Interesse des Nationsganzen, auch im gemischtsprachigen Gebiete Beamte ihrer Nation zu haben, sie ist mitinteressiert am Klassenkampfe dieser Angestellten, daran, dass sie angestellt werden. Aus der Konkurrenz mehrerer Nationen ergibt sich, dass Beamte jeder der Nationen angestellt werden, und ohne das kann sich keine Nation im Kampfe beruhigen. Welches kann dann der denkbare Abschluss dieses Kampfes sein? Doch nichts anderes als die als die Anstellung von Angehörigen beider Nationen, nach dem Machtverhältnis der Nationen, das in einer sozialistischen Gesellschaft nur das Verhältnis der Volkszahl sein kann. [2] Zweifellos ist, dass die bureaukratische Klasse hauptsächlich in gemischtsprachigen Gebieten an die nationale Expansion, an Entnationalisierung denkt, ebenso ausgemacht ist es unter Sozialdemokraten, dass das Nationsganze an solcher Expansion kein Interesse hat. Nur so weit deckt sich das Klasseninteresse der bureaukratischen Schichte mit dem Nationsinteresse und so weit löst die verhältnismässige Beamtung die nationale Seite der Amtsfrage. Es bleibt also noch die sprachliche, sie ist rein technischer Natur, eine Lernfrage für die Beamteten und eine Kostenfrage für den Amtsherrn. In jedem Falle kann da statt zweier einsprachiger ein zweisprachiger Beamter gesetzt werden und es ist absolut nicht abzusehen, warum die Nation von dem Beamten, nachdem sie ihm die Anstellungsmöglichkeit gesichert hat, nicht die Erlernung einer zweiten Sprache fordern dürfte. [3]

Im ganzen Staatsverbande und später einmal in der grossen Internationale stossen viele Idiome zusammen. Auch hier bleiben die zwei Elemente der Frage wirksam. Die Verhältnismässigkeit in der Beamtung und Repräsentation verhindert jede nationale Zurücksetzung, sprachlich aber kompliziert sich die Aufgabe. Hier hilft nur die möglichst vielsprachige Erziehung einerseits und die Festsetzung einer Vermittlungssprache anderseits.

Aber dieses Privileg der Sprache kann bei der festgesetzten verhältnismässigen Teilnahme aller an der öffentlichen Gewalt nicht mehr zu einem Privileg einer Nation oder einer nationalen Klasse ausschlagen.

Ich finde also den Punkt nicht, wo das Prinzip der nationalen Autonomie für die Sozialdemokratie, für uns und unser Programm, in der Amtssprachenfrage versagen würde. Für anderes aber als für uns selbst sind wir nicht verantwortlich. Und das ist taktisch wichtig! In den gemischtsprachigen Gemeinden zum Beispiel herrscht eine Zensusclique, eine Minderheit über eine fremdsprachige Mehrheit. Und aus dem grossen politischen und sozialen Unrecht folgt das kleinere sprachliche. Hierin speziell Partei zu nehmen und den besonderen Sprachenkrieg in seiner Isolierung allein mitzuführen, ist nicht unsere Aufgabe, wenn wir nicht das Proletariat politisch und sozial irreführen wollen. Mögen sich die anderen um die Sprache des Amtes streiten, wir kämpfen um das Amt selbst, um die Aemterordnung, um die ganze nationale und internationale Organisation des Staates selbst und dem nationalistischen Kläffer rufen wir zu: Was kannst du, armer Teufel, bieten ?

Ich habe diesmal nur die allgemeine prinzipielle Seite der Amtssprachenfrage erläutert und konnte auf das Gewirr von Einzelfragen nicht eingehen, die aus unserem staatlichen Chaos entspringen. Auch dafür wird Gelegenheit sein und in den konkreten Einzelheiten wird sich zeigen, wie sich das Interesse des Proletariats an der Geschäftssprache des Amtes abstuft, wie recht die Sozialdemokratie hat und wie geistesarm der bürgerliche Nationalismus selbst in jenen Fragen ist, die seit Jahrzehnten den Inhalt seiner Politik ausmachen. Wir können ihn auf allen Gebieten in die Schranken fordern, wir haben nichts zu fürchten!

* * *

Fussnoten

1. Nationen mit fortgeschrittener industrieller Entwicklung bilden eine kommerzielle, industrielle und technische Bureaubeamtenschaft aus, es mangelt bei ihnen leicht an Anwärtern auf die Bureau-kratie. Umgekehrt bei Nationen, deren kulturelle Reife oder politische Macht der wirtschaftlichen Entwicklung voraneilt. Sie erziehen Bureaukraten über die Nachfrage hinaus. Es gibt auch eine bureaukratische Reservearmee.

2. Die Verhältnismässigkeit in der Teilnahme an der öffentlichen Gewalt ist ein gesicherter alter Grundsatz jeder Demokratie. Genosse Meissner hat recht, wenn er meint, dass dieser Fall nicht erst durch das Prinzip der nationalen Autonomie gelöst wird.

3. Die Zweisprachigkeit der Beamten ist der Zweisprachigkeit des Amtes vorzuziehen, bei welcher Beamte verschiedener Sprache nebeneinander amtieren.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024