Karl Renner

Die neue Ordnung des Hauses

(1. Februar 1910)


Der Kampf, Jg. 3 5. Heft, 1. Februar 1910, S. 202–205.
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Dem dröhnenden Lärm der viertägigen Schlacht im Reichsrat ist der Froschmäusekrieg in den Landstuben gefolgt und hat das Interesse ein wenig von den Kernfragen unserer Politik abgelenkt. Doch sind die unmittelbaren Nachwirkungen der Geschäftsordnungsreform zu deutlich fühlbar, als dass der Oesterreicher auf seine Art leicht vergessen könnte. Noch ist die erste Wut der nationalistischen Exaltados und Desperados nicht verraucht, sie tobt in deren Presse fort, sie hat in der Nachwahl von Prag-Neustadt ihr Opfer gefordert. Nicht diese Aeusserungen tobender Ohnmacht, sondern die dauernden Folgen jener grossen Verfassungsreform verdienen eine eingehende Würdigung.

Das ist die zunächst wichtige Bedeutung jener raschen Ermannung des Abgeordnetenhauses : Das ernste Dilemma unserer politischen Entwicklung, das Otto Bauer in der Frage Die starke Regierung oder die starke Demokratie? gestellt hat, ist diesmal endlich, ist seit 1848 zum erstenmal nicht zugunsten der Bureaukratie, sondern zugunsten der Volksvertretung entschieden worden! Die Wahlrechtsrevolution von 1905 hat, wie die Revolution von 1848, allen Nationen Oesterreichs eine entschlossene Vertretung gegeben, aber die volle Aufrollung des nationalen Probems hat diesmal und vorläufig nicht mit der Rückbildung in kontrerevolutionärer, absolutistischer Richtung, sondern mit der Verstärkung und dem Ausbau der Demokratie geschlossen. Dieser Erfolg, der nur von den wenigsten sicher vorhergesehen, von wenigen noch erwartet war, an dem die eifrigsten Mitschöpfer und leidenschaftlichsten Freunde des Volkshauses, vielleicht gerade ob dieses Eifers und dieser Leidenschaft, schon zu verzweifeln begannen, hat jedermann überzeugt, dass heute das allgemeine Wahlrecht tatsächlich mehr als ein formaler Wahlmodus, dass es ein wirkliches Gesundungsmittel des öffentlichen Lebens ist.

Die Demokratie hat gesiegt. Dem Anschein nach freilich nur so, dass das Volkshaus sich die Oktroyierung einer Geschäftsordnung durch den § 14 erspart hat, die sonst unausbleiblich gewesen wäre. Dem oberflächlichen Beurteiler mochte es gleichgültig erscheinen, ob im Monat Februar das Haus unter einer aus kaiserlicher Machtvollkommenheit verhängten oder unter einer vom Parlament gesetzten Ordnung verhandeln würde. Er übersieht nur, dass dieses Ohnmachtsbekenntnis das Haus für alle Zeiten geschändet hätte, dass die parlamentarisch durchgeführte Reform vom Willen einer Dreiviertelmehrheit getragen bleibt, die oktroyierte Ordnung aber dem faktischen Widerspruch beinahe des ganzen Hauses begegnet und also kaum wirksam geworden wäre. Indessen entscheidet dieser nächste, oberflächliche Zusammenhang nicht, die Demokratie hat nicht bloss darin gesiegt, dass sie der Regierung eine unaufschiebbare Arbeit abgenommen und besser verrichtet hat als sie.

Der Sieg liegt in der kraftvollen Selbstbehauptung des Hauses: Es hat zu seiner Erhaltung der Hilfe der Regierung gar nicht bedurft, es hat sich ohne sie, ohne ihr Verdienst, anfänglich sogar gegen sie behauptet, kraft des eigenen Willens und Vermögens zum Leben. Es hat zu dieser Bejahung rasch eine Mehrheit ad hoc, über alle Nationen und Klassen hinweg, aus sich selbst organisiert, eine so seltene, so kraftvolle, entschlossene, in sich geeinte Mehrheit, wie sie nie eine ministerielle Staatskunst zusammengefügt hat, noch je zusammenfügen wird. Und diese Gewissheit bleibt zurück, dass in allen äussersten Existenzfragen des Hauses eine gleiche Mehrheit sich finden, wird und muss: Dieser Präzedenzfall ist in die Geschichte des Hauses einverleibt, er wird Tradition werden und bleiben.

Sich selbst zu behaupten aber war dem Hause nicht leicht gemacht. Durch Monate war der österreichischen Oeffentlichkeit das Lied von der unbeeinflussten, über allen Parteiungen stehenden Verwaltung gesungen worden, und gerade die sogenannten freiheitlichen Parteien, die als Wächter der Verfassungsmässigkeit sich aufspielen, sangen das Hohelied von dem Geiste, der über den Wassern schwebt, nicht benetzt von den trüben Fluten der Parteileidenschaft, das Hohelied von der makellosen Staatsgewalt. Wenn man die schlauen Berechnungen der Herren nicht kennte, man müsste über ihre Naivität staunen! Der reaktionärste Absolutismus, der Despotismus, bedient sich sonstwo gerade dieser „Gründe“. Heisst doch von allen Parteien unbeeinflusst nichts anderes als vom Volke selbst unabhängig! Weiss doch jedes politische Kind, was diese reine Toga birgt und zudeckt! Wenn bürgerliche parlamentarische Parteien, die doch heute von der Bevölkerung gewählt sind und wiedergewählt werden wollen, im offenen Parlament Minister stellen, nennt das unser Afterliberalismus Korruption; in aller Ordnung scheint es ihm offenbar, wenn Hofeinflüsse, Beichtväter, bureaukratische Cliquen, Adelskoterien, der päpstliche Nuntius hinter den Kulissen „die Krone beraten“. Wenn das Parlament die Verwaltung sich unterwirft, beeinflusst und führt, so zetert man über Korruption; offenbar halten sie es für sittenstreng und heilsam, wenn die Aemter durch empfehlende Visitkarten hoher Herren vergeben werden und nach den Einflüsterungen der Gewaltigen von Ar und Halm, von Bank und Börse verwalten. Fern sei es, die tatsächlich geübten Missbräuche der bürgerlichen Parteien zu decken, welche die Demokratie geradezu kompromittiert haben, fern sei es, die parlamentarische Streberei etwa zu rechtfertigen: Aber für diese Uebel gibt es eine Tribüne und damit die allmähliche Heilung; die Missstände der „unabhängigen Verwaltung“ jedoch bergen sich hinter Kitteln und Kutten, hinter dem gleissenden Mantel der Krone und dem Kartäuserhabit des Amtsgeheimnisses. In diesem politisch unerfahrenen Lande konnte der Chor der durch die Wahlreform an die Luft gesetzten Wahlrechtsfeinde durch eine gefügige Presse die schlechteste Verwaltungsform, die es gibt, die vom Volke und seiner Vertretung unbeeinflusste Regierungsallmacht als wahre Volksforderung ausschreien lassen. Sie sind natürlich nicht so naiv! Es wäre ihnen überaus bequem, das Parlament offen auf die einfache Verwaltungskontrolle und Bewilligungsmaschine zu reduzieren, um Macht und Einfluss im Verborgenen sich selbst und ihren Hintermännern vorzubehalten!

Es gibt keine Torheit und Schlechtigkeit, die sich nicht durch die nationalistische Phrase in Tugend umdrapieren liesse. Und so fand sich denn auch eine nationale Begründung für das System: die Verwaltung müsse dem nationalen Zugriff entrückt weiden, die Parteien des Hauses seien Nationalparteien, sie würden die nationalen Gegensätze in die Verwaltung einführen und sie dadurch desorganisieren. Auch das klingt ausserordentlich plausibel. Aber sind denn wirklich die österreichischen Regierungen, solange sie sich unabhängig gaben, wirklich nationslos gewesen? Waren die Ministerien von Schmerling bis Taaffe wirklich national indifferent? Sind alle Erfahrungen vergessen? Haben nicht die Polen und Tschechen, um sich vor dieser Indifferenz zu behüten, alle Anstrengungen gemacht, in ihren Landsmannministern Wachposten aufzustellen? Haben nicht die Deutschen, als sie, durch den Schein dieser Indifferenz lange genug genarrt, ihren Irrtum erkannten, selbst einen deutschen Landsmannminister gefordert? Welche Garantie besitzen sie für die nationale Objektivität eines rein bureaukratischen Ministeriums ? Sie können keine erhalten, aber sie bilden sich aus ganz unerfindlichen Gründen ein, Bienerth sei kein Höfling, sondern ein „deutscher Mann“ und werde die Verwaltung nicht objektiv, sondern für sie und gegen die Slawen führen!

Und so kommt denn diese Weisheit zu ihrem letzten Schluss: Das Volk ist am besten geborgen, wenn es sich selbst aller Macht begibt und sie in die Hände einer über den Wassern schwebenden Regierung legt, wenn die Nationen alle Herrschaftsrechte auf die k. k. Staatsmacht übertragen, um in andächtigen Schauern zu harren, ob diese Regierung und Staatsmacht ihren Gnadenregen nicht doch am Ende just auf die eigene Nation herabgiesse und die anderen Nationen auf dem trocknen sitzen lasse. Und diese Weisheit nennt sich stolz – nationale Politik!

Wendet nun diese Regierung der einen Nation einen Gnadenblick zu – das genügt – dann überstürzen sich deren Vertreter in byzantinischer Knechtseligkeit: das heisst dann nationale Staatsklugheit! – Dann toben die Vertreter der anderen Nationen in erpresserischen Hochverratsdrohungen: das ist dann nationaler Furor! Und da die Nationalisten beides verstehen, leise zu schleichen wie Domestiken und grob zu poltern wie Hausknechte, da diese Wölfe zurückziehbare Krallen haben, so kann ein Ministerium mit den allermässigsten Geistesgaben sie auf den Wink zähmen und loslassen und ein niedliches Spiel mit ihnen treiben, welche Hof- und Staatsaktion dann „ Oesterreichs nationale Wirren“ genannt wird. In diesen Wirren gedeiht das Geschäft der Unverantwortlichen hinter den Kulissen vortrefflich.

Und so hängt denn dieser aufdringliche Hochverrat und dieser zudringliche Byzantinismus, diese staatsfreundliche und staatsfeindliche Demagogie mit dem liebevoll gehüteten Regierungsabsolutismus innigst zusammen, sie können ohne einander nicht bestehen. Und so schreien denn heute die Deutschen nach einem starken System, das den Slawen – objektiv kommen soll, und morgen umgekehrt. Diese Demagogie braucht das Parlament entweder als Erpressungs- oder als Köderungsmittel für eine dritte, über ihm stehende Macht – niemals kann sie ein Parlament wünschen, das für sich selbst Macht, verkörperte Volkskraft ist und durch sich selbst sein und wirken will. Und so übersieht sie, dass die beste sicherste Schutzwehr jeder Nation das Parlament und die Mitregierung im Parlament ist, eine Mitregierung, welche durch die Teilnahme aller Nationen auch deren gleichmässige Berücksichtigung garantiert.

Dieser Zusammenhang offenbart es, dass das Volkshaus in einem über die absolutistischen Tendenzen von oben und über die Demagogie von unten durch die Geschäftsordnungsreform gesiegt hat. Die Freischarenpolitik kleiner Erpresserbanden ist abgetan, damit auch die patriotische Spekulation der Braven mit der Hetze gegen solch schlimme Buben. Für normale Verhältnisse ist auch die Obstruktion gebrochen, die durch Jahre den Tag beherrscht und die Taktik der Regierung wie der Parteien bestimmt hat. Diese Alltagsobstruktion, die traurige Entartung und Nachäffung der grossen geschichtlichen Obstruktionskämpfe, ist mit diesen nicht zu verwechseln; die technische Mutwillensobstruktion als taktisches Hausmittel kleiner Gruppen fällt weg, aber die sachliche Obstruktion ganzer Nationen im Stande der Notwehr ist durch die Reform gar nicht berührt. Weil diese zwei parlamentarischen Erscheinungen grundverschieden sind, weil bloss die demagogische Obstruktion gefallen ist, wäre es vorschnell, aus der Reform für die Zukunft des Parlaments allzu weitreichende Folgerungen abzuleiten.

Die nationalistische Demagogie, der chauvinistische Exzess ist überwunden, aber die nationalen Gegensätze der Bourgeoisien bestehen fort. Mehr noch: „Je wirksamer die Demokratie im Parlament nach Beseitigung seiner chronischen Störung wird, desto ernster und wuchtiger tritt der wahre Inhalt des nationalen Problems hervor.“ Austerlitz hat recht, wenn er (oben S. 52) betont, dass der nationale Kampf erst in seinem ganzen Umfang und in seiner vollen Wucht aufgerollt wird. Die sachliche Obstruktion unter Windischgraetz und Badeni hat die dankenswerte historische Funktion gehabt, sinnfällig zu machen, dass in Hinkunft weder die Deutschen über die Tschechen noch diese über jene herrschen können, sie hat die negative Seite der nationalen Autonomie bewährt: Keine Nation in Oesterreich wird einer anderen mehr Herr. Die technische Obstruktion als chronisches Parlamentsübel hat deutlich gemacht, dass auch die Regierung als dritte Macht über den Nationen und ausserhalb derselben nicht einmal die laufenden Geschäfte dauernd fortführen kann, sie hat diesen Zustand geoffenbart und doch zugleich verhüllt, weil sie den Glauben erweckte, dass die Geschäftsordnungsreform das Uebel heilen könnte. Nun fällt auch diese Ausflucht weg. Nun wird bald sichtbar sein, dass weder eine Nation oder nationale Koalition gegen die anderen, noch auch die Regierung gegen oder über alle Nationen hinweg die Geschäfte führen kann. So erübrigt nur der langsame, experimentelle Erweis, dass die Nationen neben- und miteinander sich selbst regieren können und müssen. Dies das Problem der Staatskunst, das dem Parlament gestellt ist. Sie muss die positive Seite der nationalen Autonomie verwirklichen, das aber fordert nicht nur eine Aende-rung der Taktik, nicht eine Teilreform, das erfordert fundamentale Verfassungsreformen, gesetzgeberische Ideen und Arbeiten nebst dem äussersten taktischen Geschick. Wir standen bisher erst im Vorhof der österreichischen Staatsprobleme, in ihr Inneres treten wir jetzt erst ein. Welche Schwierigkeiten sich dabei den österreichischen Nationen aufbürden werden, lässt sich heute noch nicht absehen; aber zwei Dinge können wir Sozialdemokraten nicht ohne Stolz den Nationen zurufen: Wir haben euch eine Vollvertretung erkämpft, die euer Schicksal in eure eigenen Hände legt – was ihr aus euch und diesem Staatswesen macht, werden ihr selbst vollbringen oder verschulden – und wir haben dieser eurer Vertretung die Arbeitsmöglichkeit miterrungen. Wir haben zweitens alles für die Gleichberechtigung der Völker, für ihr Recht und ihren Frieden getan, was in unseren Kräften stand; wir haben dem völkerverhetzenden Chauvinismus ohne Ansehen der Opfer im Sturme der Volksversammlung getrotzt und die Massen des Proletariats dem Geiste der brüderlichen Eintracht aller Nationen erhalten. An uns hat es also nicht gefehlt und wird es nicht fehlen; aber noch ist unsere Stunde nicht gekommen, noch beherrschen uns die nationalen Bourgeoisien, ihnen fällt die Führung in dem neugeordneten Hause zu und sie werden die Verantwortung dafür tragen, welche Blüten und Früchte dem jungen Spross unseres demokratischen Volkshauses beschieden sein werden.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024