Karl Renner

Oeffentliche Wohnungsfürsorge

(1. Jänner 1911)


Der Kampf, Jg. 4 4. Heft, 1, Jänner 1911, S. 171–178.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Es hat Zeiten gegeben, in denen nur vzenigen das traurige Los beschieden; war, kein eigen Dach ob dem Haupte zu haben, in denen bloss den landfahrenden Leuten, den „Elenden“ – das Wort bedeutete ursprünglich Ausländer – der „eigene Rauch“ versagt war. Nicht bloss der Zunftmeister, auch der Hörige und Leibeigene besass seinen eigenen Herd, Haus und Hof, als notwendige Existenz- und Betriebsmittel. Erst der Kapitalismus hat die übergrosse Mehrheit der Menschen des eigenen Heims enteignet. Noch gibt es kurzsichtige Kleinbürger in der Politik wie in der Theorie, welche die Expropriation durch den Kapitalismus nicht sehen wollen. Gerade in Bezug auf die Behausung der Menschen ist die Expropriation in grösster Ausdehnung schon vollzogen. Das Einfamilienhaus ist bis hinauf in die höchsten Schichten der Mittelklasse heute schon ersetzt durch die Mietwohnung in der Zinskaserne, das eigene Dach und der eigene Rauch sind ersetzt durch die arabische Ziffer der Türnummern, Stiegen und Stockwerke. „Mein Haus ist meine Burg“, sagte der englische Bürger in der Jugendzeit des Kapitalismus; heute aber sind selbst der Handwerker und Händler mit Wohnung, Werkstatt und Laden zinspflichtige Hörige des Häuserkapitals.

Das Häuserkapital ist ein Zweig des gesellschaftlichen Gesamtkapitals. Wie das Alkoholkapital Champagner und Fusel erzeugt und verkauft, so schafft und vermietet das Häuserkapital Luxuswohnungen und Elendsquartiere, beides um des anzueignenden Mehrwerts willen. Innerhalb dieser allgemeinen Gleichheit besitzt diese Kapitalsart auch ihre Besonderheit. Deutlich setzt sie sich zusammen aus zwei Elementen, aus Grundeigentum und Baukapital, und so verbindet sie zwei Ausbeutungsmethoden, die agrarische Methode der Grundrente und die industrielle Methode des Kapitalprofits. Da Häuser mehrere Menschenalter stehen und trotz fortschreitender Baufälligkeit und Veraltung wachsende Zinse ab werfen, so sind sie ein sicheres Objekt für das Leihkapital. Der Hausbesitzer wird so in der Regel noch Hypothekarschuldner, Eintreiber der Zinsen wucherischen Leihkapitals. Und so ist denn das Häuserkapital die Fleischwerdung der kapitalistischen Dreieinigkeit von Profit, Leihzins und Grundrente. Der unverschuldete Hauseigentümer trägt eine dreifache Maske: die Hochmutsfratze der agrarischen Grundherren, die Habgierzüge des Unternehmers und die Raubvogelvisage des Zinswucherers.

In dieser Garderobe wird freilich ein Stück ausgetauscht, soferne der Hauseigentümer nur Eigentümer nach der Falschmeldung des Grundbuches, in Wirklichkeit jedoch nur Zinseintreiber der Hypothekargläubiger ist. Dann paart sich der Hochmut des Grundherrn mit der Verzweiflung des Schuldners, der in Hypotheken ersäuft, dann steigert sich die natürliche Durchschnittshabgier des Unternehmers zum Versuch des Bankrotteurs, sich durch fortgesetzte Erpressung über Wasser zu halten. Der ausgebeutete Ausbeuter mag persönlich unser Mitleid beanspruchen, volkswirtschaftlich und sozial wirkt er schlimmer als der Ausbeuter auf eigene Rechnung.

Dieser Dreifaltigkeit von Bodenbesitz, Baukapital und Hypothek sind die Millionen Proletarierfamilien preisgegeben, die zum Leben eine Diele unter den Füssen und eine Decke über dem Haupte brauchen, für die der alte Urstand der Natur aufgehoben ist, der jedem Getier seine Höhle und jedem Vogel sein Nest zinsfrei garantiert. Aber diese Dreifaltigkeit ist beileibe keine Dreieinigkeit. Der Bodenbesitz der Grossstädte kartelliert sich, wird zum Bodenwucher, der das Baugelände aufkauft und liegen lässt, um seine Preise hinaufzuschrauben – dann schreit das Baukapital Zeter und Mordio, da es keine lohnenden Profite, oft nicht einmal Beschäftigung findet, dann rostet auch das Leihkapital in den Hypothekenbanken und Pfandbriefinstituten und ruft nach zinstragender Anlage. In derlei Nöten verbünden sich Baukapital und Leihkapital als gutbürgerliche Ausbeutungsmethoden gegen die Tyrannei des feudalzeitlichen Grundeigentums, predigen die Verstaatlichung oder Kommunalisierung des Baugeländes und stiften die Sekte der Bodenreformer. Oder aber, Boden ist da, an baulustigen Architekten fehlt es nicht, aber das Leihkapital ist spröde, kokettiert mit australischen Goldminen und ist nicht zu haben, äusser zu unerschwinglichen Zinsen – dann einigen sich Grundbesitzer und Bauspekulant zum Kreuzzug gegen das wucherische Geldkapital, gegen den Giftbaum der Börse und werden Christlichsoziale. Oder endlich: Leihkapital ist da, aber der Grundbesitz und die Bauspekulation sind durch schlechten Geschäftsgang verschüchtert, weil Wohnungen leerstehen, Mieter nicht zahlen können – dann tritt das Leihkapital auf die Tribüne und fordert Belebung der Geschäfte, freie Entwicklung, staatliche Wirtschaftsförderung, kurz eine liberale Welle steigt auf.

Die Dreifaltigkeit ist nicht immer zugleich Einigkeit, in jedem Falle aber ist sie einig in der Sucht, die Masse der Mieter auszubeuten und die Zinse zu schrauben. Der Kapitalismus dieser Art ist es, der dem Volke heute allein die Behausungen beistellt, und zwar im Wege der freien Konkurrenz auf drei Märkten: auf dem Bodenmarkte, auf dem Baumaterialienmarkte, auf dem Kapitalmärkte. Versagt einer dieser drei Märkte, so stockt die Behausungsfürsorge. Bodenspekulation, Bauspekulation und Börsenspekulation beeinflussen, stacheln sie an oder hemmen sie. Ihr einträchtiges Zusammenwirken erzeugt das grösste Uebel für die Volksmassen, die schlimmste Art vielleicht der Teuerung, die Wohnungsteuerung.

Man erkennt deutlich die drei Fragen, die in der allgemeinen Wohnungsfrage enthalten sind: Sie ist erstens eine Bodenfrage – der Bodenwucher, die Terrainspekulation, das private Monopol am Baugelände unterbinden die Wohnungsfürsorge; zweitens eine Baufrage – Kartelle der Ziegeleien, Bauholztruste, kurz das kapitalistische Monopol an Baumaterialien beengen die Bautätigkeit; drittens eine Kreditfrage – Verteuerung des Leihzinses oder Mangel an Leihkapital hemmen, billiger Kredit fördert sie.

Zur allgemeinen Wohnungsfrage kommt noch die spezielle Wohnungsfrage des Proletariats. Auf dem Wohnungsmarkt erscheint der Arbeiter mit seinem Lohne. Mit dem Lohne mietet er, wie hoch sein Lohn ist, wie hoch oder niedrig, wie stetig oder unregelmässig, so seine Miete und so seine Wohnung.

Das Haus steht mehrere Menschenalter – der Lohn wird nach Wochen berechnet und bezahlt, oft auch nicht bezahlt. Des Arbeiters Leben ist auf Wochenraten aufgebaut, der Kapitalismus sieht nicht ein Menschenleben von Jahrzehnten, sondern bloss Lohnwochen ohne Zusammenhang – es bleibt der Kunst des Proletariers Vorbehalten, sich aus solchen Wochen ein Leben zu konstruieren. Diese Aufgabe misslingt natürlich in der Regel. Arbeitslosigkeit, Alter, Krankheit, jede Laune des Chefs oder Werkführers, jede Laune des Schicksals wirft den Lebensbau auseinander und der Arbeiter liegt auf dem Pflaster. Wohl findet sich wieder ein neuer Mieter auf Wochen, auf Monate, erhöhter Mietzins ersetzt dem Hausherrn in der Regel den früheren Schaden, aber immerhin bringt die Verwaltung einer Arbeiterzinskaserne Aerger und Scherereien, denen das solide Kapital aus weicht. Somit ist der Arbeitermieter nur zu oft jenem Pseudokapitalisten, dem ausgebeuteten Ausbeuter, dem verschuldeten Hausherrn ausgeliefert, der herzlos sein muss, weil Pfandbriefe und Hypotheken auch kein Herz besitzen.

Des Arbeiters Lohn ist gering, also ist seine Wohnung klein und schlecht. Des Arbeiters Lohn ist blosser Ein-Mann-Lohn, kein Familienlohn, also leben Arbeiterfamilien in Räumen, die eben noch für eine Person hinreichen würden. Der ausgebeutete Ausbeuter muss vermieten, wie der Arbeiter mieten muss. So wird das Arbeiterwohnhaus kraft Angebot und Nachfrage zum übervölkerten Seuchenherd.

Zur allgemeinen Wohnungsteuerung kommt beim Proletariat noch das Wohnungselend hinzu. Zu kleine, zu dicht besetzte, ungesunde, verpestete Wohnungen, Aftermieter und Schlafstellen, Mischung der Geschlechter, der Familien, Zank, Verirrung, Ehetragödien! Erhöhte Unannehmlichkeiten der Hausverwaltung, gesteigerte Unlust zum Bau von Arbeiterwohnhäusern sind die Folge!

Und wenn Staat und Gemeinde mit Bau- und SanitätsVorschriften eingreifen, wenn sie das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte durch blosse obrigkeitliche Verbote regulieren wollen, wenn sie das Wohnungselend mit Strafbestimmungen zu sanieren sich anschicken, dann kommt endlich auch der ausgebeutete Ausbeuter nicht mehr auf seine Rechnung – er muss ja doppelt rechnen, für sich und für seine Gläubiger – dann werden Arbeiterwohnhäuser überhaupt nicht mehr gebaut, dann tritt Wohnungsmangel ein.

Und dieser Wohnungsmangel verschärft zugleich die Wohnungsteuerung und das Wohnungselend, der Zirkel ist geschlossen, dem das Proletariat nicht entrinnen kann. Der Kapitalismus ist, wie man sieht, ausserstande, seine Sklaven zu beherbergen, wie er sie nicht nähren kann. Weil er sie aber dennoch braucht, so siedelt er sie allenfalls in sogenannten Werkswohnungen an, womit er sie endlich ganz zu seinen Hörigen gemacht hat: die Wohnung wird zu einem Teile des Lohnes – der Arbeiter wohnt nun auch auf W’ochenraten, wie er auf Wochenraten arbeitet, die Ungnade des Herrn macht ihn nunmehr nicht nur brotlos, sondern zugleich auch obdachlos, und die einzig unentziehbare Heimstätte, zu der er immer wieder in allen Krisen des Lebens getreu zurückkehrt, sein Vaterhaus, sein süsses Heim ist – das Strassenpflaster.

* * *

Es gibt auch eine Wohnungsfrage der Mittelklassen, aber für sie kommt der Kapitalismus trotz vorübergehender Störungen immer wieder leidlich auf: Die Wohnungsnot der proletarischen Massen aber kann der Kapitalismus nur verschärfen und niemals lindern. Hier bleibt nur die direkte Hilfe der Gesellschaft übrig, hier hilft nur der Sozialismus.

Wie der Sozialismus im allgemeinen sowohl Endziel der Arbeiterbewegung, zukünftige Ordnung der Gesellschaft als auch lebendige Wirksamkeit in der Gegenwart, wirkende Teilkraft der heutigen Welt ist, so wird der Sozialismus auch heute in der Wohnungsfrage im besonderen wirksam, wenn auch vorläufig in verkümmerter Form. An Stelle der frei organisierten Gesellschaft fungieren der Staat und die Gemeinde, die staatliche und kommunale Wohnungsfürsorge greift in die kapitalistische Ordnung oder Unordnung des Wohnungsmarktes mit obrigkeitlicher Gewalt ein. Der Staat als das Vollzugsorgan der herrschenden Klassen muss dies sogar, er muss das Häuserkapital zügeln und zum Teil ersetzen, da der Kapitalismus den Sklaven, die er braucht, die nötige Behausung nicht sichern kann. Das ist die Begründung und zugleich die Schranke des Staatssozialismus in der Wohnungsfrage. Die bürgerlichen Klassen sehen sich mit Widerwillen gezwungen, in der Wohnungsfrage etwas zu tun – sie wollen nicht und müssen doch also bleiben alle Massnahmen staatlicher und kommunaler Wohnungspolitik gefährliche Halbheit. Die industrielle Bourgeoisie befreundet sich am ehesten mit einer radikalen Bodenreform, die agrarisch-kleinbürgerliche mit einer radikalen Kreditreform, die Bureaukratie mit strenger Wohnungspolizei, welche die Bau- und Sanitätsvorschriften verschärft und durch eine wirksame Wohnungsinspektion ergänzt. Auf diese drei Parolen läuft der Staats- und Munizipalsozialismus in der Wohnungsfrage hinaus.

In den proletarischen Schichten tritt der Sozialismus als Genossenschaftsgedanke auf, als organisierte Selbsthilfe der Arbeiterklasse. Die Arbeiter vereinigen sich zu Baugenossenschaften, die Wohnungen schaffen, beziehungsweise zu Wohnungsgenossenschaften, die den blossen Mieter, das beherrschte Ausbeutungsobjekt des Hausbesitzes, verwandeln in den Mitverwalter und Mitgeniesser genossenschaftlichen Eigentums.

Die zwei Funktionen der Genossenschaft sind dabei wohl zu unterscheiden: Die Genossenschaft als Bauherr übernimmt die Rolle des Häuserkapitals, das heisst sie kauft den Boden, führt den Bau und sucht eine Hypothek. Die Genossenschaft als Wohnungsgemeinschaft übernimmt die Rolle des Mieters, ist eine Mieterorganisation. In den zwei Richtungen arbeitet die Genossenschaft mit sehr verschiedenem Erfolg.

Als Bauherr stösst sie auf die unübersteigbaren Schranken des Kapitalismus: die Genossenschaft der Besitzlosen leidet naturnotwendig an chronischem Kapitalmangel. Mit den grössten Schwierigkeiten vermag sie Bauplätze zu erwerben, aus eigener Kraft findet sie kaum einen billigen Baukredit, höchst selten entgeht sie wucherischer Ausbeutung durch den Bauunternehmer. Diese drei Gründe haben die Baugenossenschaften bisher hoffnungslos erscheinen lassen und die meisten von ihnen zum Konkurs getrieben. Erfolg können sie nur haben, wenn ihnen Staat und Gemeinde entgegenkommen: Der Munizipalsozialismus muss ihnen billige Bauplätze, der Staatssozialismus billigen Baukredit sichern, staatliche, kommunale oder gesellschaftliche Auskunftsstellen, Instruktionsund Revisionsorgane müssen ihnen mit Bauplänen, Ueberprüfung der Voranschläge, Mietpreiskalkulation etc. an die Hand gehen, um sie vor betrügerischer Bauführung oder mangelhafter Verwaltung zu bewahren. Erst unter diesen Bedingungen können Baugenossenschaften gedeihen und darum haben die Genossen Bretschneider und Reumann im Teuerungsausschuss mit gutem Grunde zunächst drei Forderungen gestellt:

  1. Die Vorlage eines Enteignungsgesetzes, durch welches das Recht der Gemeinden, Baustellen und Baurayons zur Errichtung von billigen Wohnungen auf Gemeindegrund zu enteignen, geregelt wird.
     
  2. Die Vorlage eines Reichswohnungsgesetzes betreffend die Schaffung eines Reichswohnungsamtes, einer staatlichen Wohnungsinspektion und kommunaler Wohnungsämter. [1]
     
  3. Die Vorlage eines Gesetzes betreffend die Errichtung öffentlicher Baubanken (Bretschneider), beziehungsweise eines Wohnungsfürsorgefonds (Reumann) zur Kredithilfe für Baugenossenschaften.

Ueber das Schicksal dieser Anträge sprechen wir später, wir haben zunächst die Funktion der Genossenschaft als organisierte Wohn- und Mietervereinigung zu beleuchten.

Das Elend des Arbeiterhaushalts, die Unsicherheit und kurze Dauer der Wohnungsmiete, die häufigen Delogierungen, mit einem Worte, die Wohnungsmisere des Proletariats hat eine sozial empfindende englische Dame, Oktavia Hill, auf die Idee gebracht, ganze Zinskasernen in Verwaltung zu nehmen und diese Verwaltung in sozialem Geiste zu führen. Dadurch ersetzte sie die obrigkeitliche Verwaltung des ausgebeuteten Ausbeuters, von dem wir oben sprachen. Von den eingehenden Mieten machte sie Abzüge für einen Hilfsfonds, um durch Unglück zahlungsunfähigen Mietern über die Krise hinweg zu helfen und die Delogierung zu ersparen. Streitigkeiten zwischen Mietern schlichtete sie durch liebevolle Geduld unter Beiziehung eines Mieterausschusses. Sie erzog die Mieter zur Rein- und Gesundhaltung der Wohnräume, zur Schonung des Hauses und seiner Einrichtungen. Ueberall zog sie als praktische Engländerin die Mieter zur Mitverwaltung heran und erzielte so nachhaltige Erfolge. Der Hausherr war alle Verwaltungsscherereien, der Mieter den Hausherrn los.

Dieser Versuch lehrt, was eine Wohngenossenschaft zu leisten vermag. Ein grosser Teil der Wohnungsmisere, Unordnung, Zank, Vandalismus, Delogierungen können vermieden werden, wenn die Mieter Mitverwalter und Mitgeniesser des gemeinsamen Gutes werden, die sich durch selbstgewählte Organe Ordnung, Frieden, Erhaltung des Besitztums und dauerndes Eigenrecht an der Wohnung sichern. Diese Funktion der Wohngenossenschaft kann ab und zu durch eine überragende Persönlichkeit von oben herab ersetzt werden, der Hausherr selbst, vor allem der verschuldete, kann sie niemals erfüllen. Darum ist es zweckmässig, wenn Arbeiter-Bauassoziationen immer zugleich als Wohngenossenschaften organisiert werden. Sie sollen nur Genossenschafter des Ortes vereinigen, welche sofort oder wenigstens später eventuell darauf reflektieren, in dem Genossenschaftshaus zu wohnen, allesamt an dem sichtbaren nahen Wohnobjekt interessiert sind und dessen Verwaltung persönlich durchschauen und überblicken. Vor Baugenossenschaften, die für ganze Landstriche begründet werden, die nicht so sehr den Mieter und Bewohner organisieren als den Häuserkapitalisten zu ersetzen streben, muss darum gewarnt werden. Den Hausherrn im grossen zu spielen, wird den Genossenschaften schwer gelingen und, wenn es gelingt, für die Wohnweise der Bevölkerung wenig Nutzen schaffen. Ein dem Mieter kaum bekannter Vorstand würde nicht viel anders verwalten als der Hausherr von heute. An sich aber ist die Wohngenossenschaft eine Vorschule jenes sich selbst regierenden Gemeinschaftslebens, das uns als Endziel unserer Bestrebungen gilt und das wir Sozialismus nennen.

* * *

Ein Klassenparlament wie alle anderen Parlamente ist auch unser „Volkshaus“. Wäre jedoch in ihm das Industrievolk wirksam vertreten, dann wäre es doch den Erwägungen der Bodenreformer zugänglicher. In der Tat ist es in erster Linie noch immer ein Parlament der Grundeigentümer und so hat es gehandelt. Da die Mehrheitsparteien die Vorschläge zur Wohnungsreform abzulehnen nicht mehr den Mut hatten, so entschieden sie sich eher für die Kreditreform.

Der Enteignungsantrag Bretschneider wurde durch den Berichterstatter Dr. Adolf Gross in folgender Form dem Hause unterbreitet:

„Das Recht zur Enteignung von Baugeländen zu Wohnzwecken ist gesetzlich in der Weise festzulegen, dass die Möglichkeit gegeben sei, von demselben dort Gebrauch zu machen, wo Mangel an Kleinwohnungen besteht oder Wohnungsteuerung herrscht. Ferner ist die Enteignung zu Wohnzwecken als zulässig zu erklären, wo der Bedarf an Kleinwohnungen vorausgesehen werden kann, wie zum Beispiel bei Anlagen von neuen Fabriken, Wasserstrassen, Strassenbahnen, Bergwerken etc., bei Erweiterung von Unternehmungen u. s. w.

Das Enteignungsrecht ist gegen Sicherstellung des angestrebten Wohnungsbaues nicht nur Gemeinden, sondern auch gemeinnützigen Unternehmungen zuzuerkennen.“

Die bürgerlichen Parteien lehnten die Resolution ab und schädigten dadurch die Wohnungsreform in einem der drei Hauptstücke, in der Bodenfrage. Bleiben die Baugelände der Terrainspekulation vorbehalten – und es gibt gegen diese kein sicheres Mittel als die Enteignung – dann scheitert die Herstellung billiger Wohnungen vor allem schon an den Grundpreisen. Für Genossenschaften insbesondere in Grossstädten, sind grössere Areas in solcher Lage, dass der Arbeiter seine Wohnung mittags erreichen kann, nicht nur unerschwinglich, sondern beinahe unzugänglich.

Zustimmung fand der Antrag auf Schaffung eines Reichswohnungsamtes, der in folgender Fassung beschlossen wurde: „In Erwägung, dass mit der Schaffung eines Wohnungsfürsorgefonds die Wohnungsfürsorge nicht erschöpft sein kann, spricht sich der Teuerungsausschuss für die baldige Errichtung eines eigenen Wohnungsfürsorgeamtes am Sitze des Ministeriums für öffentliche Arbeiten aus.

Das Wohnungsfürsorgeamt hat den Zweck, die Erbauung von Kleinwohnungen zu fördern, indem es dort, wo Mangel an Kleinwohnungen besteht, deren Bau anregt, Baugenossenschaften, gemeinnützigen Bauvereinen etc. den Weg zur Baukreditbeschaffung weist und Instruktionen über die Verbilligung der Baukosten durch technisch und hygienisch unbedenkliche Vereinfachung der Bauausführung erteilt.

Das Wohnungsfürsorgeamt strebt ferner die Regelung der Wohnungsvermittlung an, indem es die Errichtung von Wohnungsnachweisen durch Gemeinden oder sonstige Korporationen zu fördern sucht. Zur Uebersicht über den Wohnungsmarkt und zur Orientierung über den Bedarf an Kleinwohnungen ist eine dem Bedürfnis entsprechende Wohnungsstatistik von dem Wohnungsfürsorgeamt anzulegen.

Es hat die Gemeinden anzuregen, ihren Besitz an Grund und Boden zu wahren und für dessen Vermehrung zu sorgen, damit die Gemeinden Kleinwohnungen, wenn ein tatsächliches Bedürfnis dazu vorhanden ist, erbauen können.“

Entschliesst sich die Regierung diesem Beschluss gemäss zur Errichtung einer Sektion für Wohnungsfürsorge im Arbeitenministerium, so ist ein Zentralorgan in der Staatsverwaltung geschaffen, das bei entsprechender Ausgestaltung manchen Anstoss geben und den Genossenschaften dienlich werden kann. Die bestehende private Zentralstelle für Wohnungsreform ist darum noch lange nicht überflüssig. Sehr zu begrüssen ist, dass die Partei im Verein mit dem Verband der Konsumvereine daran geht, eine Auskunftsstelle für Baugenossenschaften einzurichten.

Wenn also auch die Arbeiterbaugenossenschaften mit der Schwierigkeit der Erwerbung von Baugrund dauernd zu rechnen haben werden, so finden sie, zumal wenn die Regierung die Beschlüsse des Hauses ausführt, Rat und Hilfe bei ihrer Einrichtung, bei der Beschaffung und Ueberprüfung der Pläne, bei der Rentabilitätskalkulation, welche schwierig und äusserst verantwortungsvoll ist [2], in allen Krisen der Geschäftsführung, sie finden endlich durch den Wohnungsfürsorgefonds den nötigen Kredit billig und ausreichend. Damit ist wenigstens die dritte Hauptfrage der Wohnungsreform in Oesterreich gelöst, und zwar früher als in anderen Ländern und in beispielgebender Form. Wenn dieser Gesetzentwurf sanktioniert wird, hat die Teuerungsbewegung einen Erfolg errungen, der allein hinreichen würde, diese harten Kämpfe zu belohnen.

Der Grundgedanke des Gesetzes ist Kredithilfe für den Bau von Kleinwohnungen an gemeinnützige Körperschaften mit Ausschluss des Privatkapitals.

Nach § 4 ist der Wohnungsfürsorgefonds bestimmt: an Selbstverwaltungskörper (Bezirke, Gemeinden und dergleichen), öffentliche Körperschaften und Anstalten, ferner an gemeinnützige Vereinigungen, als Baugenossenschaften, Baugesellschaften, Bauvereine, Stiftungen und dergleichen Kredithilfe zu leisten, und zwar: a) zum Zwecke des Baues von Kleinwohnungen sowie des Erwerbes der hierzu bestimmten Grundstücke, ferner b) zum Zwecke des Erwerbes von Häusern mit Kleinwohnungen, beziehungsweise zum Zwecke des Erwerbes von Häusern, die zu Kleinwohnungen umgestaltet oder umgebaut werden sollen, endlich c) zur Ablösung von Hypotheken in nicht erster Rangordnung, die auf solchen, von einer der vorgenannten Vereinigungen bereits vor Inkrafttreten dieses Gesetzes erbauten Häusern lasten.

Worin soll diese Kredithilfe bestehen? Zwei Wege öffnen sich. Entweder fungiert der Fonds wie eine öffentliche Baubank, die selbst und direkt aus ihrem Vermögen Darlehen gewährt. Wollte der Fonds einzig diesen Weg einschlagen, dann müsste er

über gewaltige Kapitalmassen verfügen. Es würde eine Million Kronen etwa für 300 Kleinwohnungen ausreichen; wie viele Millionen wären daher notwendig, um nur in Wien oder nur in einem der Kronländer Nennenswertes zu leisten! Eher führt der andere Weg zum Ziel. Die Baugenossenschaften und Gemeinden wenden sich an Sparkassen, kumulative Waisenkassen, Hypothekenanstalten, Banken etc., kurz, an das Privatkapital um Darlehen wie bisher. Der private Kapitalmarkt ist natürlich unendlich leistungsfähiger als je ein staatlicher Fonds, aber er verschliesst sich einer Anlage in Arbeiterwohnhäusern aus den oben entwickelten Gründen: wegen der Unsicherheit der Anlage und wegen der Lästigkeit der Verwaltung. Gewährt er Kredit, so nur gegen hohe Zinsen (die erste Hypothek für 50 Prozent des Bauwertes zu 4¼ bis 5 Prozent, die zweite Hypothek für die nächsten 30 Prozent [50 bis 80 Prozent] des Bauwertes zu 6 bis 8 Prozent, dritte und vierte Hypotheken zu wucherischen Zinsen). Um das Privatkapital für den Bau von Kleinwohnungen flüssig zu machen, übernimmt der Wohnungsfürsorgefonds die Bürgschaft für die Verzinsung, Amortisation oder Rückzahlung der Darlehenssumme. Der Staat ist ein sicherer Bürge, die darleihende Anstalt riskiert nichts mehr und wird sich nicht sträuben, zu leihen.

Die Kredithilfe erfolgt nach § 4, somit

  1. in erster Linie durch Uebernahme der Bürgschaft für von den genannten juristischen Personen anderweitig aufzunehmende Darlehen und deren Verzinsung (mittelbare Kredithilfe);
     

  2. durch unmittelbare Darlehensgewährung an die oben angeführten juristischen Personen (unmittelbare Fondsdarlehen).

Damit die Kreditinstitute volle Sicherheit haben, erklärt § 11 des Gesetzbeschlusses: „Die Darlehen, für welche der Fonds Bürgschaft leistet, sind als mündelsichere Anlagen zu behandeln.“

Selbstverständlich kann die Fondsverwaltung eine so ernste Bürgschaft nur leisten, wenn sie die finanzielle Grundlage der Genossenschaft geprüft und sicher befunden hat. Die Genossenschaft wird dem Ansuchen um Bürgschaftsleistung anschliessen müssen 1. das Statut zum Beweise, dass sie eine gemeinnützige, nicht auf Gewinn berechnete Assoziation ist, 2. den Nachweis, wie viele Einlagen gezeichnet und wie viele bar eingezahlt sind, 3. die detaillierten Baupläne mit Baukostenvoranschlag, eventuell zur Sicherung gegen Ueberschreitungen die Bauvergebung und die Summe der Baukosten, 4. den Nachweis, dass die eingezahlten Genossenschaftseinlagen zum mindesten 10 Prozent der Baukostensumme betragen. Der Fonds wird sich auch die Ueberwachung der Bauführung wie der Geschäftsgebarung, die Nachprüfung der Mietzinskalkulation vorbehalten. Die näheren Bestimmungen hierüber wird das im Verordnungswege zu erlassende Statut treffen (§ 4, Absatz 3).

Hat der Wohnungsfürsorgefonds das konkrete Bauprojekt der konkreten Genossenschaft als solid befunden, so verbürgt er die Belehnung. Für 50 Prozent des Bauwertes ist eine solche Bürgschaft unnötig, sie werden ohnehin pupillarsicher von jeder Sparkasse belehnt. Es handelt sich also in der Regel um die Bürgschaft für den zweiten Satz. Der Fonds darf zweite Sätze bis zu 40 Prozent des Hauswertes verbürgen [3], wenn es ganz aus Kleinwohnungen besteht.

Als Kleinwohnungen (§ 6) gelten insbesondere:

  1. Familienwohnungen, sofern das Ausmass der bewohnbaren Fläche jeder einzelnen Wohnung 80 Quadratmeter nicht übersteigt;
     
  2. Ledigenheime. Dieselben müssen so eingerichtet sein, dass jeder Wohnrarm in der Regel nur von einer, höchstens aber von drei Personen bewohnt werden kann. – Einzelstehende Personen verschiedenen Geschlechtes dürfen nur in vollkommen gesonderten Abteilungen untergebracht werden.
     
  3. Schlaf- und Logierhäuser, das sind solche Gebäude, welche zur Beherbergung von einzelstehenden Personen in gemeinschaftlichen, mit der erforderlichen Zahl entsprechender Einzellagerstätten ausgestatteten Schlafsälen bestimmt sind. [4]

Belehnung suchende Bauten dürfen nach dem Gesetze auch Geschäfts- oder gewerbliche Betriebsräume enthalten, was gewiss das Bauen erleichtert, da Geschäftsräume höhere Zinse erzielen. Doch dürfen die Geschäftsräume höchstens ein Drittel und müssen die Kleinwohnungen mindestens zwei Drittel der bewohnbaren Fläche ausmachen (§ 7). [5] In die Bürgschaft des Fonds werden jedoch diese Räume nicht einbezogen. (§ 7 und 8.) Als anrechenbarer, verbürgbarer Wert gilt: 1. der Wert des Grundstückes, 2. der Wert des aus Kleinwohnungen bestehenden Hausteiles, 3. bei landwirtschaftlichen Arbeitern auch der Wert der Wirtschaftsräume samt angemessenem Gartengrund und 4. der Wert der Kleinbetriebsstätten der Heimarbeiter. [6]

Auf Grund der vom Wohnungsfürsorgefonds übernommenen Bürgschaft sucht die Genossenschaft vor dem Bau um die Zusicherung einer zweiten Hypothek bei einem Geldinstitut an. Da auch dieses Darlehen pupillarsicher ist, wird es gegen denselben Zinsfuss (etwa 4¼ bis 5 Prozent) gewährt. Im Besitze dieser Zusicherung (Promesse) findet die Genossenschaft auch vor der Fertigstellung und Uebergabe den Kredit zum Bauen. Ist der Baumeister selbst kapitalskräftig, so wird er den Bau ohneweiters übernehmen, schlüsselfertig herstellen, die Schätzungskommission schätzt den Wert und das Kreditinstitut leistet gegen hypothekarische Sicherstellung das Darlehen, aus welchem der Baumeister bezahlt wird.

Sonach genügt es, im äussersten Falle, wenn die Genossenschaft 10 Prozent des Gesamtwertes des Hauses besitzt. Im äussersten Falle – denn noch sind die Geschäftsunkosten der Genossenschaft selbst (Einrichtung der Buchführung, des Bureaus etc.) in Anschlag zu bringen. Diese 10 Prozent sind also ein Minimum, in der Regel müssen die Einlagen mehr ausmachen. Man kann dieses Minimum so berechnen: In einem grossen Wohngebäude hat eine Wohnung mit Zimmer, Küche und Nebenräumen durchschnittlich einen Kapitalwert von 3.600 K. 10 Prozent davon, das ist 360 K, muss die Einlage für jede zu erbauende Wohnung mindestens betragen. Nach diesem Schlüssel kann die Leistungsfähigkeit der Genossenschaft berechnet werden. [7]

Einlagen in dieser Höhe sind in absehbarer Zeit von dauernd beschäftigten Arbeitern gewiss aufzubringen, also ist dieses Gesetz für die Arbeiterschaft brauchbar. Der Genossenschaftsbewegung ist somit ein neues Feld nützlicher Betätigung geboten und sie wird es auch bestellen. So kann der Wohnungsfürsorgefonds im Verein mit der genossenschaftlichen Selbsthilfe der Arbeiterklasse allmählich den Wohnungsmangel mildern, der fortschreitenden Mietsteigerung einigermassen entgegenwirken und die Wohnverhältnisse da und dort verbessern. Die Kredithilfe von 25 Millionen in zehn Jahren bedeutet angesichts der allgemeinen Wohnungsmisere herzlich wenig, aber immerhin etwas. Die Hauptsache allerdings fehlt: das Enteignungsgesetz und damit seine zielbewusste Ausnützung durch die Gemeinden. Solange das Dreiwahlkörpersystem für die Gemeindevertretungen aufrecht bleibt, ist die Bodenfrage, dieses Haupthindernis zielbewusster Behausungspolitik, unlösbar. Und so zeigt uns das Wenige, das erreicht ist, erst recht, wie vieles uns noch zu erringen übrig ist!

* * *

Anmerkungen

1. Als Hilfsorgan für Baugenossenschaften dient einstweilen die von bürgerlichen Wohnungsreformern begründete „Zentralstelle für Wohnungsreform“, Wien, I., Stubenring 8, welche bereit­willigst an Genossenschaften Auskünfte erteilt. Der Zentralstelle gehören auch die Abgeordneten Reumann und Winarsky an.

2. Schon jetzt machen bürgerliche Arbeiterbaugenossenschaften für sich Reklame unter Versprechungen, die absolut undurchführbar sind und deren Erfüllung den sicheren Bankerott der Genossenschaften bedeuten würde! Jede Propaganda, die billiger als das Privatkapital zu bauen verspricht, ist schwindelhaft. Die Genossenschaft kann nicht billiger bauen, sie kann nur zunächst zu mässigen Durchschnittspreisen vermieten, diese Mietpreise aber durch 50 Jahre festhalten und dadurch der fortschreitenden Verteuerung einen Riegel vorschieben, sie hilft dem Wohnungsmangei ab und sie garantiert aber vor allem ein gesundes, sicheres, unabhängiges Wohnen im mitbesessenen und mitverwalteten Hause. Nichts wäre gefährlicher für die Wohnungsbewegung als marktschreierische Uebertreibungen.

3. Der § 8 bestimmt nämlich: „Auf Grund dieses Gesetzes gewährte oder verbürgte Darlehen dürfen in keinem Falle über 90 Prozent des anrechenbaren Wertes der zu belehnenden Liegenschaft hinausgehen.“ 90 Prozent, das sind etwa 50 Prozent erste und 40 Prozent zweite Hypothek.

4. Den Gewerkschaften wird demnach die Errichtung-von Herbergen erleichtert, wenn sie den Bestimmungen des § 4 (Gemeinnützige Vereinigungen) genügen.

5. Die Betriebsstätten der Heimarbeiter (§ 8, Punkt 4) zählen als Kleinwohnung, nicht als Geschäftsraum.

6. In der Zulässigkeit der Belehnung der Wirtschaftsräume und Hausgärten sowie der kleingewerblichen Betriebsstätten liegt eine Konzession an Agrarier und Zünftler, die ihnen das Gesetz annehmbar machen sollte.

7. Darnach kann eine Genossenschaft mit 100 K Mitgliedsbeitrag nur Wohnungen für den vierten Teil der Mitglieder, mit 200 K bereits Wohnungen für die Hälfte derselben, mit 400 K Wohnungen für alle Mitglieder herstellen.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024