Karl Renner

Die Stimme der Intellektuellen

(1. Juni 1911)


Der Kampf, Jg. 4 9. Heft, 1 Juni 1911, S. 400–404.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Unberechenbar wie bei den meisten Wahlen ist auch heute die Haltung derjenigen Kreise, die man die Intellektuellen nennt. Sind sie doch beinahe die einzige Schicht der Bevölkerung, die zu einer umfassenden Organisation, welche wirtschaftlich und politisch zugleich wäre, noch nicht vorgeschritten ist. Politische Indifferenz ist das ungeschriebene Grundgesetz aller sogenannten Standesorganisationen der Intellektuellen. Und so schwanken sie, im ganzen gesehen, von Mann zu Mann, von Tag zu Tag, ein Opfer der wechselnden Stimmungsmache der bürgerlichen Presse, wie innig auch einzelne an ihrer Ueberzeugung hängen mögen.

Der Begeisterungssturm des Wahlrechtssieges hat 1907 einen grossen Teil der Intellektuellen mitgerissen und ihre Stimmen der Sozialdemokratie zugeführt. Dazu kam die Besorgnis vor dem Klerikalismus, der eben in jener Zeit einen Höhepunkt seiner Welienbahn erreicht hatte. Lueger stand auf dem Gipfel seines politischen Lebens, Gessmann streckte seine Hand nach den Universitäten aus, nachdem er in Volksschule und Mittelschule den geistlichen Einfluss zur Herrschaft gebracht hatte. Der Klerikalismus wurde als ihr Hauptfeind von der Intelligenz gewertet und behandelt. Im Kampfe gegen ihn waren nacheinander alle bürgerlichen Parteien durch zerschmetternde Niederlagen beinahe aufgerieben worden – die Sozialdemokratie allein hatte diesem gewaltigen Ansturm der klerikalen Reaktion, dem überstürzten Triumphzug Luegers standgehalten, die Arbeiterschaft war das granitene Bollwerk gegen die römische Flut geworden. Man denkt ja heute allzuwenig an die hinreissende Wucht, an die verbissene Leidenschaft, an die brutale Rücksichtslosigkeit und Skrupellosigkeit jenes Kampfes, den damals die Arbeiterschaft über sich ergehen lassen musste. Im Jahre 1907 war die Erinnerung an den heldenhaften Krieg des Proletariats gegen den Klerikalismus noch in der ganzen Intelligenz lebendig und dankbar quittierte sie ihn mit dem Stimmzettel. Und dass sie keine Täuschung zu besorgen hatte, das beweist ja die Stichwahlparole der Sozialdemokratie von 1907: die Sozialdemokraten stimmen unter allen Umständen gegen den Klerikalen.

Heute neigt, das ist nicht in Abrede zu stellen, ein grosser Teil der Intellektuellen anderen Hoffnungen und Befürchtungen zu. Das Regime Bienerth hat aus der Not des Misstrauens der slawischen Bourgeoisie eine Tugend gemacht und sich als deutsches Regime gegeben. In der martervollen Knappheit der parlamentarischen Abstimmungen stieg jede Stimme des Deutschen Nationalverbandes im Kurs und unmerklich avancierte der von der Neuen Freien Presse geführte Nationalverband zu der Scheinrolle der herrschenden Partei des Parlaments. Die Christlichsozialen als stärkste, in Wahrheit regierende Partei, die wegen der Eifersucht, mit der sie auf ihren Einfluss wacht, nur allzu bekannt ist, gab sich auffälligerweise den Anschein, als ob sie sich „selbstlos“ dem Nationalverband anreihe, ja bescheiden zurücktrete und den Judenliberalen, den Abfallspredigern, den Freimaurern die Leitung des Parlaments überlasse. In ihrem politischen Sanguinismus begann die Intelligenz zu glauben: Dieser Klerikalismus ist das harmloseste Ding der Welt.

Dagegen bewirkte die politische Verlegenheit Bienerths dasselbe Unheil wie seinerzeit der politische Fehlgriff Badenis. Heute steht fest, dass Badeni am Beginn seiner Ministertätigkeit keineswegs den Deutschen feindselig war, dass er im Gegenteil eine deutsch-tschechisch-polnische Entente im Parlament anstrebte und erst durch seine Missgriffe ganz auf die Rechte gedrängt wurde. War aber einmal das System national einseitig, so erzeugte gerade diese Einseitigkeit die ständige Rebellion auf der Linken und schürte so den nationalen Kampf bis zur Siedehitze! Wider Absicht und Voraussicht stiess Bienerth dasselbe zu wie Badeni, nur mit vertauschten Rollen, und so schuf er neuerdings den unheilvollen Riss zwischen der Linken und Rechten des Parlaments, den Riss, den später die bosnische Verwicklung zur unüberbrückbaren Kluft ausweitete und der im letzten Grunde auch das Parlament zerriss.

So kam Saul unter die Propheten, so gewann Bienerth den Charakter eines deutschen Mannes und so erstand der trügerische Schein des deutschen Regimes Bienerth. Die Intelligenz, von Beruf und Erziehung, von ihrer Beschäftigung als „Spracharbeiter“ aus für die nationalistische Denkweise vorgeschaffen, nahm diese Wendung der Politik auf deutscher wie auf slawischer Seite sofort ernst und stürzte sich wieder in den nationalen Kampf, die deutsche, um endlich die Vorherrschaft der deutschen Sprache in Oesterreich dauernd zu begründen, die slawische, um dieses Bestreben zu vereiteln und womöglich das Gegenteil zu erreichen.

Sofort wurden alte Hoffnungen lebendig und rissen diese Klasse aus ihrer Lethargie. Seit länger als einem Jahrzehnt hatten die wirtschaftlichen Klassen das öffentliche Leben beherrscht. Bauer und Grundherr hatten als Agrarier, städtische Kleinbürger als Mittelstandspolitiker die Welt mit ihren Sorgen erfüllt. Die Industriellen bemühten sich, die Politik den kapitalistischen Interessen dienstbar zu machen, die Sozialdemokratie setzte die Not der Arbeiterschaft auf die Tagesordnung – in diesem gewaltigen Ringen der grossen Klassen verhallte die Stimme der Intellektuellen ganz und mit wegwerfendem Tone sprach man von der „Studentenpolitik“.

Mit einem Male war es anders. Der Prager Bummel schob wieder den Studenten m den Mittelpunkt der Erörterungen. Die vordem unpolitisch gewordenen Intellektuellen horchten auf. Wieder erstand vor ihrem Auge die Möglichkeit, nicht bloss einer eigenen politischen Betätigung im Rahmen ihrer Schichte selbst, sondern der Uebernahme der politischen Führung der Nation. Sie sahen sich auf einmal an ihrer Spitze und siehe da: Industrielle und Agrarier, Kapitalisten und Kleinbürger ordneten sich ja offensichtlich der Nation ein, selbst eine deutsche Arbeiterbewegung machte sich bemerkbar und, wenn Intellektuelle à la Weidenhoffer die Sprecher der Bourgeoisie wurden, taten sich die Halbintellektuellen à la Riehl, Jung, Ertl etc. als deutsche Arbeiter bervor. War das nicht Grund genug zu der Hoffnung auf eine politische Renaissance der Intellektuellen ?

In der Grossstadt, wo der ganze Klassenbau der bürgerlichen Gesellschaft gerade der Intelligenz täglich durchsichtiger und überwältigender vor Augen tritt, erfassen diese geliebten Illusionen – und es sind nichts als Illusionen – selten eine grössere Zahl der Studierten. Aber man gehe hinaus in die Mittel- und Kleinstadt, in die kleinen Industrieorte. Jahrelang haben dort die studierten Leute in vollständiger politischer Isoliertheit dahingelebt: Gewerbetreibende und Bauern gingen ihren zünftlerischen und agrarischen Vereinigungen nach. Die grosse Unternehmerschaft fand es inmitten ihrer kaufmännischen und technischen Arbeit des Geldverdienens nicht für erspriesslich, herabzusteigen zu den Leuten, die sie über die Achsel ansieht, denen sie den Bildungsdünkel der Federfuchser nicht verzeiht. Damals verkehrten Intellektuelle nicht ungern mit den Vertrauensmännern der Arbeiterschaft, deren Bildungshunger, deren Respekt vor der Wissenschaft, deren heisser Hass gegen die Dunkelmänner ihnen imponierte. Aber die sozialen Verhältnisse sind mächtiger: Zu stolz, mit der Arbeiterschaft in ständigem Umgang zu bleiben, mit den bürgerlichen Schichten dagegen in ständigem geselligen Verkehr stehend, betrieben sie die Zuneigung zur Sozialdemokratie wie eine verstohlene Liebschaft. Natürlich genügte sie nicht für das jedem Manne innewohnende Verlangen offener organisierter politischer Tätigkeit. Sich offen als Sozialdemokraten zu organisieren aber hiess die Existenz in Frage stellen. Einige haben es gewagt und sind wertvolle Glieder der Partei geworden, die Mehrzahl aber gab es auf, da ja auch ihre Standesorganisation Opfer des politischen Kampfes nicht decken kann oder will.

Nun kam die nationale Welle und schuf ihnen in den nationalen Schutzvereinen bürgerliche, in den nationalen Arbeitervereinen proletarische Organisationen, in denen sie sich politisch frei ausleben können; jene genügen ihren geselligen Bedürfnissen, in diesen glauben sie gewerkschaftlichen Schutz für ihre materiellen Forderungen zu finden. Und so machen sie denn laut und selbstbewusst Politik – so mittendurch zwischen Scharfmacher und Proletarier, zwischen Städter und Agrarier, zwischen dem Lehrer und den hochwürdigen Herrn!

In der Tat – eine reizende Illusion, aber leider nichts als Illusion. Vielleicht kann sie den Studierten geschichtlich nicht erspart werden, vielleicht müssen sie erst ihre Erfahrungen machen, bevor sie ihre neue Stellung in der Gesellschaft begreifen. Fängt doch nahezu jede Klasse ihre eigenartige Politik mit Selbsttäuschungen an. Und dennoch ist höchst verwunderlich, wie diese Illusionen noch möglich sind!

Denn die Lage der Intellektuellen wird immer eindeutiger. Lohnempfänger und Warenkäufer sind sie wie jeder erstbeste Proletarier, nur beziehen sie etwas qualifizierte Löhne und Waren. Ihre ganzen materiellen Interessen können sie nur in und mit der Sozialdemokratie wahren. Merkwürdigerweise verstehen die Leiter ihrer Standesorga-nisationen das besser als die Mitglieder, ja diese wählen selbst in die Vorstände gern Sozialdemokraten aus dem dunklen Gefühle, dass sie scharfsehende und entschlossene Vertreter ihrer Interessen sind. Erfahrungen haben sie genug gemacht:

Sie kämpfen um höhere Gehalte – gegen die „Brotgeber“, gegen den Brotgeber Staat. Die gesamte bürgerliche Welt lehnt sich gegen ihre Forderungen auf. Handelskammern und Industriellenverbände bekämpfen jede staatliche Gehaltsaufbesserung – der Staat dürfe nicht mehr zahlen als die Industrie. Umgekehrt aber sagen sie den Privatangestellten : Die Industrie könne nicht mehr zahlen als der Staat. Und dieser hat für gerinfügige Erhöhung der Bezüge kein Geld – obschon er mehr als eine halbe Milliarde für den Militarismus erübrigt. Der Militarismus ist das Bleigewicht, das gerade die öffentlichen und privaten Gehalte niederdrückt. Aber die nationalistische Intelligenz schwärmt für die Rüstungen!

Die Sozialdemokratie sieht in dem Rechtsschutz der Beamtenstellung (Dienstpragmatik) eine Vorhut für den Rechtsschutz des Arbeitsvertrages. Der entschlossenste Anwalt der Pragmatik im Ausschüsse war unser Genosse Glöckel. Die Scharfmacher dagegen, ob sie nun Banken, Versicherungsanstalten oder Fabriken verwalten, lassen gerne die Dienstverhältnisse im ungewissen, fordern eine strenge Konkurrenzklausel, die den Beamten und Werkmeister zum Hörigen macht, und bekämpfen mit verbissener Zähigkeit das Koalitionsrecht der Angestellten. Davon müssen diese etwas wissen, denn es ist doch nicht anzunehmen, dass sie von den Beschlüssen der Unternehmerverbände nichts erfahren. Sie müssen ja auch wissen, dass das Koalitionsrecht der Beamten überhaupt nur einen Freund im Parlament besitzt, die Sozialdemokratie, während gerade der deutsche Nationalverband sein schlimmster Feind ist. Trotzdem aber unterstützen sie vielfach die gelben Fabrikanten-Schutzorganisationen.

Welche Illusionen! Der Nationalverband bietet Vermehrung der Dreadnoughts statt Erhöhung der Gehalte, er duldet die agrarische Beutepolitik statt die Teuerung zu bekämpfen, er verteidigt die Diensthoheit des Brotgebers statt das Dienstrecht der Beamten, er deckt und übt das schlimmste Protektionswesen statt das Koalitionsrecht zu schützen – trotzdem sind gerade Intellektuelle die eifrigsten Wahlmacher des Nationalverbandes!

Der Grund dieser Illusionen aber ist ein grosses Missverständnis. Man meint, dass die wirtschaftlichen Gruppen faktisch ihre wirtschaftlichen Interessen zurückgestellt haben, dass die Industriellen nicht länger Industrielle, die Agrarier nicht länger Agrarier, die Zünftler nicht länger Zünftler, sondern alle auf einmal Deutsche, nichts als Deutsche sind! Und doch benützt die Kapitalistenklasse offensichtlich das ehrliche Nationalgefühl der Intellektuellen, um diese um ihre wirtschaftlichen und rechtlichen Forderungen zu prellen. Gerade diese Kapitalistenklassen missbrauchen den Begriff der Nation und machen aus ihr „die Nacht, in der alle Kühe schwarz sind“, um Vorrecht und Vormacht des Kapitals zu sichern.

Und dabei wird die materielle Lage der Intellektuellen immer kümmerlicher. Ein rauschender Strom von Reichtum hat sich in den letzten Jahren über die grosse Unternehmerwelt ergossen, die Börse schäumt über von Werten, eine halbe Milliarde Kronen ist binnen kurzer Zeit kotiert worden – durchaus Unternehmerprofite. Dabei hat den Angestellten die rapide Teuerung die kargen Aufbesserungen aus den Händen geblasen.

Und immer zahlreicher wird die Zahl der Stellensuchenden, der intellektuellen Reservearmee, die die Bezüge niedrig zu halten erlaubt. Die Proletarisierung der Intellektuellen wächst mit jeder Reifeprüfung. Es sind harte Tatsachen, an denen – so sollte man meinen – alle Illusionen zerflattern müssen. Aber die Mehrzahl der Intellektuellen hofft noch immer auf die kapitalistischen Parteien!

Und die gleiche Unvertrautheit mit den wirtschaftlichen und politischen Tatsachen erklärt allein, wieso sich die Intelligenz in ihren antiklerikalen Gesinnungen einlullen lassen konnte. Sie nimmt den Klerikalismus harmlos, sie hat aufgehört, die Christlichsozialen zu fürchten, und fördert das Zusammengehen mit ihnen. Sie vergisst ganz, wie sehr der Jesuitismus der Katze gleicht, die scharfe Krallen, aber auch weiche Pfoten hat.

Der Klerikalismus der scharfen Tonart hat sein Werk vollbracht, er hat Kleinbürger und Bauern sich dienstbar gemacht. Nach unten zu fand er an dem Proletariat eine unersteigliche Mauer – diese stürzte weder unter dem tosenden Lärm der Luegerei zusammen, noch war sie durch die schleichende List des christlichen Sozialismus zu nehmen. Blieb also nur die Eroberung nach oben. Dort aber verfängt die Korybantentaktik nicht. Zum Glück sind die Katzenkrallen zurückziehbar und so nähert sich denn der Klerikalismus oben auf den weichen Sohlen eines selbstlosen Dieners für die wirtschaftlichen Interessen der herrschenden Klassen: Ihnen den Katholizismus, das Kirchenlaufen, den Gewissenszwang aufzunötigen, fällt ihm nicht ein. „Ach, seid Freigeister wie ihr wollt, bleibt bei eurer Judenpresse, aber helft uns, die Religion zu erhalten – dem Volke, denn das ist ja euer eigenster Nutzen!“

So hören es natürlich die Nationalverbändler gerne und so werden sie, die zu führen meinen, die Gefangenen der Klerikalen. Sie haben den Schein der Herrschaft, sie haben ihre Stölzels und Sylvesters, die dürfen Anträge für Wahrmund stellen, und die Christlichsozialen stimmen sogar dafür, erklären sich für die Lehrfreiheit – aber faktisch muss Wah rmund weichen und ist heute abgetan.

Die Liberalen dürfen sogar den Unterrichtsminister Stürgkh beistellen, aber verwalten muss er nach Wunsch cler Klerikalen.

Und so geht es fort, so endigen die Affären der Lehrer Hoinkes, Weber und Peer, so endet jeder Vorstoss der Klerikalen: Ein formaler Erfolg des Nationalverbandes – ein materieller Sieg Gessmanns!

Und dabei haben die Herren Unternehmer sich allmählich gewöhnt an die christlichsoziale Politik, sie finden sie ganz in Ordnung, unterstützen natürlich, wie der Sekretär Raunig im Cihulaprozess sagte, alle Parteien, welche für Gott, Kaiser und den Herrn arbeiten. Sie haben sich mit dem Klerikalismus ausgesöhnt und innig verbündet – bei dieser Paarung hat der Nationalverband den liebenswürdigen Kuppler gespielt, den man natürlich, wenn es so weit ist, als lästigen Zeugen fortschickt.

Betrogen sind dabei nur jene Intellektuellen, welche die Freiheitlichkeit des Nationalverbandes ernst genommen haben.

Betrogen sind sie in ihrem Nationalismus von den Christlichsozialen, welche jetzt den nationalen Kampf mitmachen. Für die Christlichsozialen ist dabei die Nation sicherlich die Nacht, wo alle Kühe schön allmählich – schwarz werden!

Die dritte aber und die tragischeste der Illusionen, der so viele Intellektuelle heute erliegen, ist die nationale Illusion. Sie vermeinen, dass das Regime Bienerth deutsch sei; sie glauben treuherzig, dass Fabrikanten und Agrarier zur nationalen Idee zurückgekehrt sind! Sie glauben das, weil sie die Vorgänge im Parlament nur so kennen, wie sie Moritz Benedikt und die Schriftleiterpresse darstellt.

In Wahrheit haben deutsche usd tschechische Agrarier in treuer Bundesbruderschaft durch vier Jahre miteinander und für die Regierung gestimmt, so oft es gegen die Interessen der Konsumenten ging. In Wahrheit haben in allen Ausschüssen und im Plenum tschechische und deutsche Bourgeoisvertreter alle Standesforderungen der Angestellten, alle Klassenforderungen der Arbeiter einmütig niedergestimmt. Durchaus international gingen sie an allen Werktagen der realen Politik vor, nur an Paradetagen gaben sie den national denkenden Intellektuellen eine Festvorstellung – das war just dann, wenn es sich um Ministerposten handelte oder wenn sie eine ihrer krassen Volksverrätereien durch nationalen Lärm zu vertuschen den Anlass suchten. Dann haben sie eine nationale Feindschaft agiert, die sie längst nicht mehr fühlen.

Viel Scharfsinn gehört wahrhaftig nicht dazu, um zu erkennen, was sie jetzt planen.

Glombinski hat in Prag aus der Schule geschwätzt. Das Ministerium Bienerth sieht ein, dass es auf dieser schmalen Basis die Geschäfte nicht fortführen kann, dass es so nie zu Steuern kommt und des Ansturms der Sozialdemokraten gegen die Zollpolitik sich so nicht erwehren kann.

Diese Wahlen sind für Bienerth persönlich Liquidierungswahlen: Er will sein „deutsches Regime“ liquidieren und von vorne anfangen, er will den Faden dort aufnehmen, wo er 1908 von den Tschechen abgeschnitten worden ist. Also fort mit dem alten Haus und herbei ein neues! Vorher aber soll die nationale Intelligenz noch einmal ihre Mohrenpflicht tun, sie soll im Namen der nationalen Hochziele die Sozialdemokratie niederwerfen helfen und gut kapitalistische, gut agrarische, gut klerikale Abgeordnete ins Haus schaffen: Dann hat der Mohr seine Schuldigkeit getan, dann lässt sich auf der Ministerbank endlich die ersehnte Regierungsinternationale nieder und liefert die Zölle und Steuern! Mit der deutschen Vorherrschaft, mit der Kreiseinteilung in Böhmen hat es dann gute Wege!

Das sind die politischen Tatsachen – sie sehen anders aus, als wie sie sich im Himmel der Einbildungen vieler Intellektueller widerspiegeln. Gerade sie braucht man diesmal als Vorspann gegen die Arbeiter, gerade sie will man bei diesen Wahlen wirtschaftlich, kulturell und national hinters Licht führen! Wir wissen nicht, ob unsere Warnung an ihr Ohr kommt. So müssen wir uns denn mit dem Bewusstsein begnügen, sie rechtzeitig gewarnt und damit unsere Pflicht erfüllt zu haben. Sollte es, wie in Deutschland 1908, gelingen, sie durch eine liberal-konservative Paarung, durch eine bürgerliche Blockparole irrezuführen, so können wir ihnen heute schon sagen: Keine drei Jahre werden ins Land gehen und sie werden, so wie heute in Deutschland ihre Standesgenossen, sich in grimmiger Enttäuschung von ihren dermaligen Führern abwenden. Mögen sie das eine wohl beachten: Jenseits des Riesengebirges – da sitzen heute die Niedergerittenen von gestern hoch zu Rosse!


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024