Karl Retzlaw

SPARTACUS
Aufstieg und Niedergang

* * *

3. Im Weltkrieg


Im Sommer 1914, als der Krieg ausbrach, war ich achtzehn Jahre alt. Ich arbeitete in einer Schuhfabrik, in der ungefähr neunzig Arbeiter – nur Männer – und zwanzig weibliche und männliche Angestellte beschäftigt waren. Hinzu kamen noch Heimarbeiterinnen, die zu Hause Stoff-Kinderschuhe gegen Stücklohn nähten. Ich war in der Materialausgabe tätig, dabei hatte ich mit allen im Betrieb Beschäftigten, vom Hausdiener bis zum Direktor zu tun. Nur einige Angestellte erhielten in den ersten Tagen des Krieges ihre Gestellungsbefehle. Die Schuhmacher waren fast alle über dreißig Jahre alt, sie glaubten, daß sie keinen Gestellungsbefehl erhalten würden: „Wir brauchen den Affen (Tornister) nicht auf den Buckel zu nehmen, bis Weihnachten ist alles zu Ende“, lautete ihre ständige Redensart, in der sich Angst und Hoffnung gemischt verbargen. Ich kann mich nicht entsinnen, von ihnen einen Protest gegen den Krieg gehört zu haben.

Die Kriegsereignisse unterbrachen den täglichen Trott in der Fabrik nicht. Der Abteilungsleiter war so übellaunig-pedantisch wie immer, er kujonierte besonders die Heimarbeiterinnen nach wie vor, er ließ sie stundenlang warten, ehe er ihnen neue Arbeit gab, obwohl ich für jede das Material fertig zur Ausgabe auf den Tisch gelegt hatte. Ungewöhnlich war nur, daß ich täglich mehrere Male auf die Straße geschickt wurde, um zu schauen, ob es neue gratis-extrablätter mit weiteren Siegesmeldungen gab. Wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, so fällt es mir immer wieder schwer, die im Grunde indifferente Haltung der einfachen Menschen gegenüber dem Krieg zu verstehen. Man sprach über den Krieg wie etwa über ein Erdbeben, man nahm ihn hin wie ein Naturereignis. Unpolitischen Menschen mangelt es an Phantasie und an Wissen, um das Ausmaß des Geschehens aufnehmen zu können. Auch in der Zeit, in der es täglich um Tod und Leben von Tausenden Einzelpersonen und ganzen Völkern geht, gehen die kleinen täglichen Sorgen der eigenen Existenz vor. So diskutierten die Kollegen um diese Zeit mehr über Betriebsfragen, als über den Krieg. Die Fabrikleitung hatte neuartige Zwickmaschinen gekauft. Monteure der Maschinenfabrik und andere ausgebildete Maschinenarbeiter waren mit dem Einbau beschäftigt; mehr als ein Drittel der Belegschaft befürchtete Arbeitslosigkeit. Da die Fabrikleitung es nicht für nötig hielt, die Belegschaft über ihre Pläne zu informieren, ob die Produktion erweitert werden würde oder ob Entlassungen geplant waren, lastete eine quälende Ungewißheit über den Arbeitern. Alle atmeten auf, als Heeresaufträge hereinkamen.

Die kleinbürgerliche Raubgier aber konnte ich schon anderntags erleben. Als ich wie üblich für die Kollegen zum Frühstück einkaufen ging, schlug der kleine Lebensmittel- Ladenbesitzer auf alle Artikel einen Pfennig auf. „Sechserkäse gibts nicht mehr“, sagte die Frau, „er heißt jetzt Sechspfennigkäse“. Dem einen und dem anderen brachte ich nun nichts mit, weil ich nur abgezähltes Geld mithatte. Das gab eine wüste Schimpferei auf mich. Ich konnte feststellen, daß die Teuerung nicht beim Erzeuger begann.

Selbst in diesen schlimmen Wochen lasen die meisten meiner Kollegen im Betrieb kaum Zeitungen – außer montags. Montags brachten die Blätter die Wettberichte der inund ausländischen Pferderennen. Die Wetten waren das Tagesgespräch. Ich durfte nicht „stören“; mir klingt es heute noch in den Ohren: „Halt montags dein Maul von der dämlichen Politik!“

Ich weiß nicht, ob unter meinen Arbeitskollegen Mitglieder der SPD waren, ich habe auch niemals gesehen, daß ein Kollege das Parteiorgan, den Vorwärts, las. Trotzdem war damals die Arbeiterschaft weit mehr mit der Sozialdemokratie verbunden als heute. Man wählte nicht nur sozialdemokratisch, man wollte es auch sein. Jedoch das „Politisieren“ in den Pausen und in den Klosetträumen ging über die Weitergabe von Gerüchten. Extrablattmeldungen und allgemeine Bemerkungen nicht hinaus. Die dabei gebrauchten, meist unflätigen Kraftausdrücke sollten radikal klingen und mehr die Unsicherheit und Unwissenheit verhüllen.

Ich kann mich auch nicht entsinnen, daß jemals ein Kollege die Beschlüsse der Sozialistischen Internationale gegen den Krieg erwähnte. Aber der Ausspruch Bebels, daß er, wenn es gegen den russischen Zarismus gehe, auch das Gewehr ergreifen werde, war beinahe allen bekannt. Mit diesem Ausspruch hatte Bebel bei den Arbeitern unermeßlicher Schaden angerichtet, er war für alle ein Alibi. So war es eine richtige Annahme der deutschen Regierung, daß die erste ihrer Kriegserklärungen gegen den „blut-befleckten Zarismus“ die Zustimmung in der SPD und damit auch in der Arbeiterschaft finden werde. Die Regierung und die Generäle hatten sich ebenfalls den Ausspruch Bebels wohl gemerkt, und sie hatten auch nicht versäumt, sich von dem sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Südekum bestätigen zu lassen, daß dieser Bebelausspruch weiterhin galt.

Hier möchte ich vorwegnehmend einschalten, daß die Lüge vom „Kampf gegen den Zarismus“ in den folgenden Kriegsjahren aufrecht erhalten wurde. Der sozialdemokratische Wirtschaftstheoretiker Parvus-Helphand bekräftigte sie noch in einer Broschüre, die der Parteiverlag im Herbst 1917 kurz vor der bolschewistischen Machtübernahme herausgab. Parvus schrieb:

»Alle Hochachtung vor den Heldenkämpfen der russischen Revolutionäre aber bei dem Sturz des Zarismus haben auch wir mitgewirkt – die Sozialdemokratie der Zentralmächte. Wir zogen dazu in den Krieg und haben unser Ziel erreicht. Ohne die russischen Niederlagen gäbe es jetzt keinen Sieg der russischen Revolution. Wir haben während des Krieges den Kampf gegen das Junkertum aufgeben müssen, weil wir eben einen schlimmeren Feind zu bekämpfen hatten, den Zarismus.«

Obwohl die deutschen Generale den Parteivorstand richtig einschätzten, hatten sie trotzdem – für alle Fälle – Vorbereitungen getroffen, die Partei- und Gewerkschaftsführer, auch Reichstagsabgeordnete, zu verhaften, falls sie Schwierigkeiten machen sollten. Derartige Pläne bestanden geheim schon seit Jahren, teilweise waren sie auch zur Kenntnis der Öffentlichkeit gelangt. Der Aufruf des Parteivorstandes vom 25. Juli war der Regierung und den Militärs zwar in die Glieder gegangen. Doch die Kriegstreiber konnten unbesorgt sein, es blieb beim bloßen Aufruf. Man war patriotisch geworden, in jenem Sinne, in dem ihn Bakunin ein halbes Jahrhundert zuvor verurteilt hatte:

»Angesichts der modernen Erkenntnis, der Humanität und der Gerechtigkeit müssen wir auf Grund der geschichtlichen Entwicklung begreifen, daß der Patriotismus eine üble, unheilvolle Gewohnheit ist, der die Gleichberechtigung und die Zusammengehörigkeit – Solidarität – der Menschen verneint.«

Die nationalistische Presse hatte dafür gesorgt, daß der Krieg „in der Luft lag“, und doch überraschte der Kriegsausbruch die meisten. Die Geheimdiplomatie hatte vollendete Tatsachen geschaffen. Ich las später, daß selbst Lenin die Nachricht über die Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten nicht glauben wollte.

Kam die Verleugnung aller Grundsätze und internationaler Beschlüsse und das Aufgeben der bisherigen Politik durch den Parteivorstand so völlig unerwartet, „wie ein Blitz aus heiterem Himmel“? Das war nicht der Fall. Es hat in der eigenen Reihen Warner gegeben, die seit geraumer Zeit die Entwicklung der SPD sehr pessimistisch sahen.

Der Soziologie-Professor und Marx-Gegner Max Weber hatte die Führung der Sozialdemokratischen Partei noch bissiger beurteilt, als es der linke Flügel der Partei tat. Max Weber hatte bereits im Jahre 1907 in einer Rede vor dem Verein für Sozialpolitik den deutschen Fürsten empfohlen, sich eine Parteitagssitzung der deutschen Sozialdemokratie von der Tribüne aus anzusehen. Sie könnten dabei feststellen, »daß dort das behäbige Gastwirtsgesicht, die kleinbürgerliche Physiognomie so schlechthin beherrschend« seien, daß von dieser Seite keine Gefahr, daß heißt keine Revolution, drohe.

Gastwirte waren auf den Parteitagen – die Programm und Politik der Partei bestimmten – tatsächlich übermäßig stark vertreten. Daß es so war, lag daran, daß sozialdemokratische Wahlvereine oft den Gastwirt – sofern er Mitglied war –,in dessen Lokal sie tagten, als Delegierten wählten, weil aus den Reihen der Arbeiter wenige sich zur Wahl stellten, aus Furcht, ihre Arbeitsstelle zu verlieren. Arbeiterdelegierte erhielten von ihren Firmen keinen Urlaub, eher die sofortige Entlassung. Die Unternehmer kannten weder Toleranz noch Demokratie. Auch Ebert, der spätere Reichspräsident, war eine zeitlang Gastwirt in Bremen. Er wollte ursprünglich Sattler werden, unterbrach aber die Lehre, um für die Partei zu arbeiten. Die Folgen dieser Zusammensetzung des entscheidenden Partegremiums hatte Max Weber jedenfalls richtig vorausgesehen, wie es die Entwicklung bewies.

Die Linken in der Partei brauchten die geringschätzigen Hinweise bürgerlicher Beobachter nicht. Rosa Luxemburg hatte 1913 in einem Aufsatz geschrieben, daß das Anwachsen der Partei zu einer Millionenorganisation notgedrungen zur Bürokratisierung führe. Von den örtlichen Vereinsvorständen bis zu den Parlamentariern werde das Leben der Partei von oben bestimmt, die Mitglieder zu Beitragszahlern und Wahlhelfern abgewertet. Ausländische Sozialisten, die an deutschen Problemen interessiert waren, waren für diese Entwicklung auch nicht blind. Der Ende Juli 1914 kurz vor Kriegsausbruch ermordete Führer der französischen sozialistischen Partei, Jean Jaurès, hatte die politische Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie mit kritischem Bedenken verfolgt. Auf dem Amsterdamer Kongreß der Sozialistischen Internationale 1904 rief er der deutschen Delegation, die radikale Resolutionen einbrachte, zu:»ihr versteckt Eure Ohnmacht hinter der Intransigenz theoretischer Formeln, die Euer ausgezeichneter Genosse Kautsky Euch bis an sein Lebensende liefern wird!.«

Jean Jaurès war die Personifizierung des Kriegsgegners in Frankreich, wie es Karl Liebknecht in Deutschland war. Beide erlitten auch das gleiche Schicksal, von Mörderhand gefällt zu werden. Die Doktorarbeit des späteren Philosophie-Professors und Kammerpräsidenten Jaurès behandelte die Anfänge des deutschen Sozialismus. Mehrere Jahre vor dem Weltkrieg sollte Jaurès in Berlin gegen einen – wegen der Marokko-Affäre – drohenden deutsch-französischen Krieg sprechen. Der Reichskanzler Bülow (den Wilhelm II. später „das weggejagte Luder“ nannte) hintertrieb das persönliche Auftreten Jaurès dessen Rede aber verlesen wurde. Jaurès sagte unter anderem:

»Allerdings kann das Chaos eines Krieges die Revolution entfesseln, und die herrschende Klasse in allen Ländern möge dies nicht vergessen. Aber der Krieg kann auch langwierige Krisen der Gegenrevolution bringen, die wütende Reaktion eines erbitterten Nationalismus, wahnsinnige Diktatur, Herrschaft und bedrückenden Militarismus. Wir aber, wir wollen statt des barbarischen Hazardspiels des Krieges eine gerechte Selbständigkeit aller Völker und Volksteile. Deshalb haben wir, französische Sozialisten, ohne dadurch unser Rechtsgefühl zu erniedrigen, für alle Zeiten Verzicht geleistet auf die Idee eines Revanchekrieges gegen Deutschland, was auch die wechselnde Konjunktur des Völkerglücks mit sich bringe. Denn wir wissen, daß ein solcher Krieg der Demokratie, dem Proletariat, endlich auch dem Recht, wie es durch Proletariat und Demokratie verbürgt ist, den größten Schaden antut.«

Wegen dieser Ansicht nannten ihn die französischen Nationalisten deutsch-freundlich. Ihr Organ die Action Française schrieb im Juli 1914: »Jeder weiß es, Jaurès das ist Deutschland«. Am Ende des Artikels standen die Sätze: »Man weiß, daß unsere Politik nicht aus Worten besteht. Die Wirklichkeit der Ideen entspricht dem Ernst der Taten.« Einige Tage darauf wurde Jaurès ermordet.

Und doch war die SPD bis 1914 der Schrecken aller Reaktionäre, vom Kaiserreich über die Guts- und Schlotbarone bis zu den Beamten der Verwaltung, der Polizei und der Kirche. In der Tagespolitik hat die Partei die Interessen des arbeitenden Volkes – dem sie entsprossen war – wahrgenommen. Jetzt, bei Kriegsausbruch, mußte sich herausstellen, ob der Parteivorstand im Sinne der Massen handelte. Die große Mehrheit der Partei stand zur Politik des Parteivorstandes, der die Empfindungen der Massen scheinbar besser kannte als die „Linken“. „Wer den Willen der Massen ausführt, verrät sie nicht.“ Die „einfachen Mitglieder“ aber waren dem Untertanengeist längst nicht entwachsen. Mit der Parteibürokratie hatten sie sich eine weitere Obrigkeit geschaffen.

Zur Rechtfertigung ließ sich der Parteivorstand von seinem Haustheoretiker Karl Kautsky Thesen liefern, die besagten, daß Beschlüsse der Sozialistischen Internationale nicht für Kriegszeiten gelten, sondern nur für Friedenszeiten. Derselbe Kautsky hatte Jahrzehnte hindurch die Auffassung vertreten, daß die Ursache der Kriege im Kapitalismus liege, die politischen Gründe seien nur Vorwände, erst die sozialistische Gesellschaft werde den Krieg überflüssig machen.

Wenn der Krieg im Kapitalismus unausrottbar, der Krieg demnach ein Bestandteil des Kapitalismus ist, dann ist die logische Fölgerung, den Kapitalismus abzuschaffen, also die sozialistische Revolution durchzuführen. Zur Revolution aber hatten die deutschen Arbeiter keine Anleitung vom Vorstand der SPD erhalten. Die meisten der 110 sozialdemokratischen Reichtagsabgeordneten von 1914 hatten nur den Wunsch, in den kapitalistischen Staat schlechthin hineinzuwachsen.

Die revolutionär gesinnten Linken in der SPD sahen voraus, daß das Verhalten der Arbeiterorganisationen in den Augusttagen 1914 nicht nur die Politik der eigenen Partei, sondern auch die deutsche Regierungspolitik in den nächsten Jahrzehnten mitbestimmen würde. Diese Politik sollte „das Vaterland retten“? Das Lähmendste war, daß der Parteivorstand nicht einmal versuchte, Widerstand zu leisten. Selbst wenn ein Widerstand ohne Erfolg geblieben wäre, so hätte doch der Versuch, dem Morden Einhalt zu gebieten, der Partei und ihren Führern für alle Zeiten höchste Ehre eingetragen. Die Abgeordneten der russischen Arbeiterschaft haben die in der Duma eingebrachten Kriegskredite abgelehnt; sie wurden nach Sibirien verbannt. Die deutsche Sozialdemokratische Partei aber erntete wie so oft den verdienten Hohn der Gegner. Der Historiker Hans Delbrück schrieb:

»Stellen wir uns vor, wir hätten diese großen Arbeitervereinigungen nicht, sondern Millionen ständen dem Staat nur als Individuum gegenüber, so ist es doch sehr wahrscheinlich, daß sich sehr viele unter ihnen finden würden, die, nicht von der allgemeinen Bewegung ergriffen, der Einberufung zur Armee passiven oder auch aktiven Widerstand entgegengesetzt hätten. Vor 1870 haben die Mobilmachungen an nicht wenigen Orten nur mit Gewalt durchgesetzt werden können. Das ist sogar hier und da 1813 vorgekommen; diesmal hat sich auch nicht das Geringste dergleichen ereignet.«

Diese Einschätzung Delbrücks ist verständlich, wenn bedacht wird, daß die Partei ungefähr eine Million Mitglieder hatte, über vier Millionen Wähler, dazu neunzig Tageszeitungen. Die zusammengeschlossenen Freien Gewerkschaften hatten über zwei Millionen Mitglieder, dazu kam die Presse der einzelnen Verbände.

Intellektuelle, die sich für linksstehend hielten, aber nicht Partei nahmen, pflegten von der Sozialdemokratie spöttisch zu sagen, sie sei „die dümmste aller Parteien“. War sie das wirklich? Sollte man von den Vorständen der SPD und der Gewerkschaften mehr erwarten, als von der „Elite des deutschen Geistes“, jenen 93 Wissenschaftlern, Professoren, Theologen, Schriftstellern, die im Herbst 1914 in einem Manifest an die Kulturwelt behaupteten: „Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt“?

Nur allmählich, bruchstückweise, erfuhren wir Tatsachen, die das Verbrecherische der Kriegstreiber und die Minderwertigkeit der sogenannten Staatsmänner und Parlamentarier offenbarten. „Wir sind in den Krieg hineingeschlittert“ behaupten diese Leute später. Als ob das eine Entschuldigung wäre.

Die erste Aufgabe der neu beginnenden Opposition war es, dem Volke die Wahrheit zu sagen. Dazu gehörten Mut, Aktivität, Energie und viel Zeit zur Erforschung aller Vorgänge. Zuerst mußte die Schuld am Kriege festgestellt werden. Nicht nur die allgemeine Schuld der Interessenten, der Rüstungsindustrie, der Militärs, sondern es mußte die spezifische, unmittelbare Schuld an der Entfesselung des Weltkrieges festgenagelt werden. Der Aufruf des Parteivorstandes vom 25. Juli 1914 gab eindeutig der deutschen und österreichischen Geheimdiplomatie und den deutschen und österreichischen Militaristen die Schuld. Die nationalistische Regierungspresse jubelte: „Die ersehnte, heilige Stunde ist gekommen! Es ist eine Lust zu leben!“

Daraus ergaben sich für die Opposition die Schlußfolgerungen, die Beendigung des Krieges zu erzwingen, die Bestrafung der Schuldigen am Kriege zu fordern, den Kampf für eine Gesellschaftsordnung einzuleiten, die Kriege ausschließt. Diese Aufgaben bedeuteten den Umsturz, die sozialistische Revolution.

In den ersten Monaten, als die deutschen Siege an den Kriegsfronten einander folgten, wollte kaum jemand ein kritisches Wort hören. Kriegsberichte füllten die Presse, von der Tätigkeit Liebknechts meldeten sie nichts. An meiner Arbeitsstelle unterhielten sich die Kollegen täglich hinter vorgehaltener Hand darüber, was Liebknecht wohl tun würde. Als ob es selbstverständlich wäre, erwartete man von ihm eine Aktivität gegen den Krieg, ohne sich mit ihm zu solidarisieren.

Nachdem sich Liebknecht am 4. August in der Sitzung des Reichstages der Fraktionsdisziptin gefügt hatte, lehnte er künftig den Fraktionszwang ab und stimmte gegen die Kriegskredite.

In einer schriftlichen Erklärung im Reichstag am 2. Dezember 19 14, die nicht in den stenographischen Bericht aufgenommen wurde, sagte Liebknecht unter anderem:

»... daß diesen Krieg keines der beteiligten Völker selbst gewollt hat. Es handelt sich vom Gesichtspunkt des Wettrüstens um einen von der deutschen und österreichischen Kriegspartei gemeinsam im Dunkel des Halbabsolutismus und der Geheimdiplomatie hervorgerufenen Präventivkrieg. Deutschland, der Mitschuldige des Zarismus ... hat keinen Beruf zum Völkerbefreier. Unter Protest jedoch gegen den Krieg, seine Verantwortlichen und Regisseure, gegen die kapitalistische Politik, die ihn heraufbeschwor, gegen die kapitalistischen Ziele, die er verfolgt, gegen die Annexionspläne, gegen den Bruch der belgischen und luxemburgischen Neutralität, gegen die Militärdiktatur, gegen die soziale und politische Pflichtvergessenheit, deren sich die Regierung und die herrschenden Klassen auch heute noch schuldig machen, lehne ich die geforderten Kriegskredite ab.«

Diese Erklärung Liebknechts war ganz im Sinne des Aufrufs des Parteivorstandes vom 25. Juli; sie war seine Ergänzung. Sie wurde zum Leitgedanken der sich langsam sammelnden Gegner des Krieges.

Dagegen hatte die übergroße Mehrheit der sozialdemokratischen Abgeordneten die Erklärung des Reichskanzlers von Bethmann-Hollweg für den Krieg mit Beifall begrüßt und auch den Überfall auf Belgien und Luxemburg gebilligt. Bei dieser Politik blieb es. Im folgenden März bewilligten die Sozialdemokraten zum ersten Male in der Geschichte der Partei auch den Gesamtetat der kaiserlichen Regierung.

Es war Weihnachten geworden; der Krieg war nicht zu Ende. Die Soldaten kamen nicht nach Hause. Nach Hause kamen Krüppel und Kranke und der nach der verlorenen Marneschlacht zusammengebrochene Oberbefehlshaber des Heeres, von Moltke. Nach Hause kamen auch unzustellbare Briefe mit den Vermerken „gefallen“ oder „vermißt“. Das sozialdemokratische Parteiblatt Lübecker Volksbote aber schrieb in seiner Weihnachtsausgabe 1914: »Wenn unsere Braven da draußen für des Vaterlands Freiheit kämpfen, kämpfen sie für des Vaterlands Zukunft; wenn sie fallen, fallen sie für die Voraussetzungen unseres Parteiideals«. Parteiideals? Wurde der Krieg für das „Parteiideal“ geführt? Hier vereinigte sich die Sozialdemokratie mit den Alldeutschen, die jetzt mehr denn je tobten und ihre Pläne verwirklichen wollten, die sie in den letzten fünfzehn Jahren propagiert hatten. Die deutschen Grenzen sollten im Westen von der Küste bei Dünkirchen nach dem Süden zur Rhone und weiter zum Mittelmeer, im Osten von Riga hinunter zum Schwarzen Meer gezogen werden. Die Bevölkerung dieser Gebiete sollte größtenteils vertrieben werden; Holland und Belgien sollten einverleibt, England besetzt werden. Es sollte zwölf Milliarden Mark in Gold zahlen, und Kanada, Teile Ostindiens und alle Kolonien an Deutschland verlieren. Natürlich sollten auch die Juden aus allen deutschen Gebieten vertrieben werden. „Den Besiegten sollen nur die Augen zum Weinen gelassen werden!“ Dichterlinge trugen ihren Teil bei; „Mensch Mieze, wenn Belgien eine deutsche Provinz ist, oder ein Bundesstaat mit einem deutschen Prinzen ist, dann ist wieder Frieden auf der Welt!“ Das wurde belacht, das gefiel auch meinen Proleten-Kollegen im Betrieb. Nicht mehr lachend wurde gelesen:

»O du Deutschland, jetzt hasse! Mit eisigem Blut
Hinschlachte Millionen der teuflischen Brut,
Und türmen sich berghoch in Wolken hinein
Das rauchende Fleisch und des Menschengebein!
O du Deutschland, jetzt hasse! Geharnischt in Erz:
Jedem Feind einen Bajonettenstoß ins Herz!
Nimm keinen gefangen! Mach jeden gleich stumm!
Schaff zur Wüste den Gürtel der Länder rundum!«

Das hat der „Soldatendichter“ Heinrich Vierordt gedichtet. Dieser deutsche Dichter ergänzte sein Gedicht in einem Schreiben über die Schonung der Kunstwerke der belgischen Stadt Löwen:

»Aber freilich, meine Kunstbegeisterung ist nicht so sehr bis ans Ende der Welt reichend, daß ich nicht, wenn ich meinem Volk den Sieg dadurch verschaffen könnte, alle Kathedralen und Rathäuser der Welt kalten Blutes, wenn auch nicht leichten Herzens, vom Erdboden vertilgen würde.«

Die Gewerkschaften folgten dem Weg der Partei. Das Gewerkschaftsblatt Deutsche Metallarbeiter Zeitung brachte am 7. November 1914 einen Artikel, in dem es unter anderem hieß:

»Eine neue Zeit ist angebrochen, andere Menschen hat der Krieg in kurzer Zeit aus uns allen gemacht. Das gilt unterschiedslos für hoch und niedrig, arm und reich ... Sozialismus wohin wir blicken.«

Früher hatte es in der Arbeiterjugend und in der SPD geheißen, Sozialismus sei tätige Menschlichkeit, Freiheit, Friede, politische und wirtschaftliche Demokratie, Arbeit und Brot für alle, und so fort.

Nicht alle Gewerkschaftler ließen sich die chauvinistische Sprache gefallen. Es bildeten sich auch in den Gewerkschaften oppositionelle Gruppen, die mit der Zeit zu begrenzten Aktionen übergingen, von denen die Öffentlichkeit niemals erfuhr. Oppositionelle wurden zu Vertrauensleuten in Betrieben gewählt. Diese gewannen später unter der Bezeichnung „revolutionäre Obleute“ vorübergehend starken Einfluß.

Im Frühjahr 1915 erhielt ich die Aufforderung zur Musterung. Ich wurde „vorläufig zurückgestellt“, wurde aber einige Tage darauf von meiner Arbeitsstelle entlassen mit der Weisung, in einen Metallbetrieb zu gehen. So kam ich in einen der größten Betriebe Berlins, zur AEG in der Voltastraße. Ich wurde in der Werkzeugschleiferei angelernt.

In diesem Großbetrieb ging es lebhafter zu, als bei den Schuhmachern. Mein Arbeitsplatz war eine riesige Halle, in der Tausende Arbeiter in Tag- und Nachtschichten schafften. Der Lärm, den die tausend Maschinen verursachten, verschmolz hier zu einem gewaltigen Getöse, das kein Gespräch zuließ; man verständigte sich durch Zurufe.

Hier arbeitete ich eineinhalb Jahre lang täglich oder nächtlich elf Stunden, außerdem jeden zweiten Sonntag, in Tag- und Nachtschichten. Mit den Kollegen verstand ich mich gut; ich war auch gleich zum Metallarbeiterverband übergetreten. Die Arbeit beanspruchte meine ganze Kraft. Dazu kam die weite Hin- und Rückfahrt, für die ich mit dem Fahrrad je eine halbe Stunde brauchte. Es blieb mir nicht sehr viel Zeit zum Studium sozialistischer Schriften.

Alle meine Gedanken beschäftigten sich mit dem Krieg. Ich bin während des Krieges – und einige Jahre danach – niemals in einem Kino, Theater oder Konzert gewesen. Nur zu Anfang des Krieges besuchte ich einmal mit Freunden einen Biergarten am Weinbergsweg. Eine Sängerin hatte gekrächzt: „... wie einst Bismarck sprach, unsern Leutnant, unsern Leutnant, den macht uns keiner nach ...“ Danach empfand ich kein Bedürfnis mehr nach derartiger Unterhaltung oder Zerstreuung.

Ich bekam im Betrieb Berichte und Briefe über Greueltaten der deutschen Truppen in Belgien und Frankreich, über die Erschlagung von Verwundeten und Gefangenen zu esen. Immer, bis auf den heutigen Tag, bedrückt mich das Schicksal der Opfer der kleinen belgischen Stadt Dinant, in der deutsche Truppen wahllos Kinder, Frauen und Männer erschossen haben. Solche Berichte wurde von der Presse als gegnerische Greuelpropaganda abgeleugnet, teilweise jedoch als „militärische Notwendigkeit“ zugegeben. Mittlerweile waren auch frühere Betriebsangehörige, die wegen Verwundung oder Krankheit beurlaubt waren, und „Reklamierte“, die bereits im Kriege gewesen waren, zu ihrer Arbeitsstelle zurückgekommen. Sie erzählten von der grausamen Kriegsführung in einem erschreckend unbeteiligten Ton, wie Menschen von schweren Arbeits- oder Straßenunfällen erzählen.

Die Diskussionen über die Erlebnisse führten nicht zur Besinnung und klärender Aussprache.

Es nahte der 1. Mai 1916, und wiederum änderte sich die Situation rasch. Die Kollegen fragten einander, ob es wieder eine Maifeier geben werde. Von Vorbereitungen der SPD und der Gewerkschaften war nichts zu vernehmen. Auch der Kassierer meiner Gewerkschaft wußte nicht, ob eine Feier geplant sei. So kam der Vorabend des 1. Mai, an dem Kollegen einige Flugblätter der „Spartakusgruppe“ mitbrachten, die nicht zur üblichen Maifeier, wohl aber zur Demonstration gegen den Krieg auf dem Potsdamer Platz aufriefen. Da die Arbeiterorganisationen sich passiv verhielten, hatte die Spartakusgruppe selbständig gehandelt, obwohl sie damals noch eine Fraktion innerhalb der SPD war. Der Aufruf war ein leidenschaftlicher Appell gegen den Krieg, in der Sprache des Zornes, wie die Situation es verlangte.

Mein Nachbar am Arbeitsplatz, der in der Nachtschicht arbeitete, war auf dem Potsdamer Platz gewesen, und er erzählte anderntags von den Tausenden Demonstranten und beinahe ebensovielen Polizisten, die auf die Demonstrierenden eingeschlagen hatten, von der Ansprache Liebknechts' seiner Verhaftung und der Verhaftung zahlreicher anderer Teilnehmer. Im Betrieb war der Tag auch sehr unruhig gewesen, und am Abend standen an vielen Stellen auf den Straßen Gruppen von Arbeitern, die erregt über den Krieg und die Demonstration sprachen. Der Ruf am ersten Mai 1916 kostete Liebknecht die Freiheit, dessen mitreißende Kraft nun für die Dauer des Krieges ausgeschaltet wurde. Rosa Luxemburg war schon seit Monaten im Gefängnis, und von hier hatte sie noch schreiben können:

»Die Weltverbrüderung der Arbeiter ist mit das Heiligste und Höchste auf Erden, sie ist mein Leitstern, mein Ideal, mein Vaterland; lieber lasse ich mein Leben, als daß ich diesem Ideal untreu werde!«

Nach diesem ersten Mai rissen die Diskussionen nicht mehr ab, jetzt kam auch die Enttäuschung und die Erbitterung offener zum Ausdruck. In den Pausen und in den Klosetträumen wurde diskutiert, geflüstert, geschimpft. Ältere Arbeiter sprachen von ihren Söhnen oder anderen Angehörigen, die sie verloren hatten. Sie waren nun gar nicht mehr stolz auf deren Heldentod. Vergrämt, verbittert fragten sie, warum Krieg sei. Die Militärdienstpflichtigen und die „Reklamierten“ stellten täglich die Frage, wann weitere Einberufungen kämen, wann der Krieg zu Ende gehe. Man empfand und zeigte jetzt Sympathie für Liebknecht und seine Forderungen. Mich mahnte der Maiaufruf zur Betätigung, lesen und grübeln genügten nicht. Ich suchte Anschluß an eine aktive Gruppe.

Endlich kam für mich die entscheidende Begegnung. Etwa Mitte Mai, als ich eines Abends von der Arbeit kam und vor dem Hause vom Fahrrad stieg, stand da eine Gruppe junger Menschen, Mädchen und Jungen. Man sprach lebhaft über den Krieg und über Liebknecht. Ich beteiligte mich am Gespräch und wurde von einem Mitglied der Gruppe zum nächsten Tag zu einer Aussprache eingeladen. Wir trafen uns und sprachen über die Dinge, die uns zusammenbrachten; Krieg und Sozialismus. Er nannte seinen Namen, Paul Nitschke, und erzählte mir aus seinem Leben. Ich erfuhr, daß er zwei Jahre älter war als ich und von Beruf Zeichner in einem technischen Büro war. Er sagte, daß er bereits im Felde gewesen sei. Infolge einer Beinverletzung sei er nach der Lazarettzeit vorläufig beurlaubt. Seine Wiedereinberufung müsse er jederzeit erwarten. Er fügte hinzu, daß er entschlossen sei, sie nicht zu befolgen. Paul Nitschke erzählte mir noch, daß seine Eltern seit zwei Jahrzehnten Sozialdemokraten seien, und daß er im Glauben an die Befreiung der Arbeiterklasse, das heißt an den Sozialismus, aufgewachsen sei. Er sei auch bereits Funktionär der SPD und Vorsitzender des Jugendbildungsvereins, von dem ich einige Mitglieder am vergangenen Abend gesehen und gesprochen hatte.

An einem der folgenden Abende schon nahm ich an einer Versammlung des Jugendbildungsvereins teil und wurde als Mitglied aufgenommen. Die Gruppe hatte wohl fünfzehn Mitglieder. Ich war aber in einen recht aktiven Verein geraten. Die Mitglieder versammelten sich in der Woche einmal und machten außerdem an freien Sonntagen Wanderungen in die Umgebung Berlins. Sie hielten gute Freundschaft zueinander und besuchten sich auch in den Wohnungen der Eltern. Alle standen in Arbeit; sie waren Büroangestellte oder noch Bürolehrlinge, Lehrlinge in der Metallindustrie, einige, wie ich, Arbeiter. Die meisten Vereinsmitglieder hatten an der Demonstration am 1. Mai auf dem Potsdamer Platz teilgenommen. Die beiden Mädchen, Hermine Strey und Liesel Trobach, die sich auf die Polizisten gestürzt hatten, um die Festnahme Liebknechts zu verhindern, mit ihm verhaftet worden waren und zur Zeit im Gefängnis saßen, gehörten diesem Verein an. Die Versammlungen fanden in einem Lokal in der benachbarten Rostokker Straße statt, dessen Wirt Sozialdemokrat war. In diesem Lokal brauchte der Verein nur eine geringe Nutzungsgebühr und das Licht zu bezahlen; wir waren alle Abstinenzler und Nichtraucher. Einige Tage darauf, Anfang Juni 1916, wurde ich von Paul Nitschke zur Monatsversammlung „Zahlabend“ der SPD, Berlin Moabit, eingeladen und dort sogleich in die Partei aufgenommen.

Paul Nitschke war erst seit kurzer Zeit Vorsitzender des Jugendbildungsvereins. Der bisherige Vorsitzende, Willi Rodominski, saß wegen Teilnahme an der Jugend-Spartakus-Konferenz in Jena, Ostern 1916, im Gefängnis. Ich hatte Paul Nitschke von Tolstoi und Dostojewki erzählt, daher übertrug er mir schon für die nächste Versammlung ein Referat über russische Literatur. Dieses mein erstes Referat war sehr anstrengend für mich. Ich hatte mich an den vorhergehenden Abenden bis spät in die Nächte hinein fleißig vorbereitet und konnte über die Hauptwerke und das Leben der großen russischen Schriftsteller berichten und Fragen beantworten. Dazu las ich einige Stellen vor aus Dostojewskis Novellen „Bei nassem Schnee“ und vom obdachlosen Knaben in Petersburg, der in einer Weihnachtsnacht erfror, als er durch das Fenster einer Wohnung der Weihnachtsfeier einer wohlhabenden Bürgerfamilie zuschaute. In der folgenden Versammlung, in der ich über die Todesstrafe sprach, beteiligten sich alle Anwesenden lebhaft an der Diskussion. Es ging uns dabei nicht allein um Recht, Rache, Unrecht, sondern auch darum, ob es erlaubten und unerlaubten Mord gäbe; ob Soldaten, die einen Menschen töten, Mörder seien. Ich war erfreut, daß die Mitglieder des Jugendbildungsvereins meine Auffassungen guthießen. An weiteren Abenden wurde über Programmfragen gesprochen, und ich konnte feststellen, daß für alle das „Erfurter Programm“ mit den Kommentaren von Karl Kautsky und Bruno Schönlank nach wie vor als das offizielle Parteiprogramm galt und daß es gemeinsam mit dem Kommunistischen Manifest ihr „Evangelium“ bildete. Sozialismus und Kommunismus waren uns identische Begriffe, und wir nahmen das Programm wörtlich. Wir fanden, daß die Ereignisse die Prognosen des Programms bestätigt hatten.

Paul Nitschke und ich wohnten nur einige Häuser voneinander entfernt in der damals sehr zahlreich bevölkerten Beusselstraße. Schnell hatten wir volles Vertrauen zueinander und trafen uns fast täglich, und da noch mehrere Mitglieder unseres Vereins nahebei wohnten, waren die meisten recht bald beisammen.

In den folgenden Tagen brachte die Presse Meldungen, daß das Kriegsgerichtsverfahren gegen Liebknecht bevorstehe. Das wurde jetzt unser Hauptthema. Im Prozeß gegen Liebknecht ging es nicht allein um die Mai-Demonstration, sondern auch um den Protest Liebknechts gegen die drohende Ausdehnung des Krieges gegen die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Die Regierung der USA hatte am 20. April 1916 der deutschen Regierung eine Note überreicht, in der die Einstellung des verschärften U-Boot Krieges verlangt wurde. Liebknecht hatte daraufhin Ende April die sofortige Einberufung des Reichstages und eine Aussprache über die U-Boot Note beantragt. Mit dieser Aussprache im Reichstag wollte Liebknecht die Öffentlichkeit informieren und verhindern, daß die deutsche Geheimdiplomatie das deutsche Volk in eine Erweiterung des Krieges gegen die USA hineinstieß. Auf diese Gefahr hatte Liebknecht auch in seinem Maiaufruf hingewiesen. Die Regierung und alle Parteien bemühten sich nun mit allen Mitteln, Liebknecht aus dem Reichstag auszustoßen.

Am 28. Juni 1916 wurde Liebknecht zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Am Abend vor dem Prozeß waren wir, die Mitglieder des Jugendbildungsvereins, geschlossen durch die Moabiter Straßen gezogen, unablässig laut rufend: „Hoch Liebknecht, nieder mit dem Krieg!“ Frauen und Männer auf den Straßen schlossen sich uns an. Alarmierte Polizisten zu Fuß und zu Pferde eilten herbei und versuchten, die Demonstranten zu zerstreuen. Wir liefen auseinander und sammelten uns wieder. So ging es einige Stunden bis Mitternacht hin und her. Von unseren Mitgliedern wurde niemand gefaßt. Am anderen Morgen fuhren wir wie üblich zur Arbeit, bis am Nachmittag die Nachricht von der Verurteilung und gleichzeitig der Ruf zum Streik in meine Arbeitsstelle drang. In meiner Abteilung waren alle Kollegen sofort zum Streik bereit. Wir schalteten die Maschinen ab und verließen das Werk. Zahlreiche Kollegen blieben mit mir auf der Straße vor den Eingängen und warteten auf die Arbeiter der Nachtschicht. Diese kehrten auch sofort um, als ihnen die Parole, Protest gegen Liebknechts Verurteilung, gesagt wurde. Wenn auch die gänzliche Stillegung der AEG-Betriebe nicht erreicht wurde so streikten doch an die zehntausend Arbeiter. Die technischen Angestellten, Ingenieure, Meister und Vorarbeiter, waren zwar am Arbeitsplatz, sie konnten aber nur ratlos herumstehen.

Ich erzähle hier nur von meiner Arbeitsstelle, der AEG Volta-Straße im Norden von Berlin. Eine Streikleitung habe ich nicht gesehen und erfuhr auch nicht, ob es überhaupt eine gab. Meine Gewerkschaft führte den Streik nicht, im Gegenteil, die Gewerkschaftskassierer und Vertrauensleute erhielten von der Gewerkschaftsleitung die Weisung, sich zurückzuhalten. Diese Kollegen gingen zwar nicht an ihre Arbeitsplätze, sie ließen sich aber auch nicht bei den Streikenden sehen.

Es ging alles recht nüchtern zu, verbissene Gesichter, nichts „Heldenhaftes“.

Doch die Streikenden setzten ihre Existenz ein, fast alle hatten Familien zu ernähren. Die Streikenden kamen morgens und abends zu den Schichtzeiten, standen zu Tausenden in der Voltastraße und im Humboldshain In den Straßen um den ausgedehnten Fabrikkomplex herum standen Polizisten in Gruppen, mit umgeschnallten Revolvern und gezogenem Säbel. Alles Männer in den mittleren Jahren, teils behäbige, teils schneidige Typen in blauer Uniform und mit Pickelhaube. Maschinengewehre hatten sich nicht. Maschinengewehre gegen streikende Arbeiter wurden erst später eine „Errungenschaft“ der Weimarer Republik.

Abends beim Treffen der Freunde vom Jugendbildungsverein, berichteten wir einander über die Ereignisse, und ich erfuhr von Streiks und Protesten in anderen Betrieben.

Ich hatte meinen ersten Streik erlebt. Es war ein Streik, in dem es nicht um Verbesserung des Lohnes und der Arbeitsbedingungen ging, sondern um eine ideelle, eine politische Forderung. Es ging um die Freiheit eines Kämpfers für den Frieden. Die Streikenden bekundeten den Willen nach Beendigung des Krieges, und sie nahmen die drohenden Repressalien auf sich. Viele der Streikenden wurden zum Heeresdienst einberufen und alle erlitten einen empfindlichen Lohnausfall. Das Ziel des Streiks, Liebknecht die Freiheit zurückzugeben, wurde nicht erreicht.

Die Nachricht von diesem Proteststreik der deutschen Arbeiter gelangte in alle Länder der Erde und wurde als hoffnungsvolles Signal für einen baldigen Frieden gewertet. Doch die deutsche Militärkaste hatte durch den Streik nur einen Faustschlag erhalten, sie zog die Zügel noch brutaler an. Der Krieg ging weiter.

 


Zuletzt aktualiziert am 11. Januar 2023