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Paul Levi hielt nach der im Moment vorherrschenden Stimmung in der Bevölkerung eine Arbeiterregierung für notwendig und möglich. Er bot den Mehrheits- und Unabhängigen Sozialdemokraten die „loyale Opposition“ der KPD an, falls sie eine Arbeiterregierung bilden wollten. Die Mehrheitssozialdemokraten lehnten nicht nur ab, sondern der neue Reichskanzler Hermann Müller beauftragte sogar einen General, der auf seiten der Kapp-Lüttwitz-Putschisten gestanden hatte, mit der Niederschlagung und Entwaffnung der Arbeiter im Ruhrgebiet, die von einem Tag zum anderen als „aufrührerische rote Banden“ beschimpft wurden. Demgegenüber wurden am Putsch beteiligte Truppenteile und Freikorps ebenso plötzlich wieder in Regierungstruppen umbenannt und nicht entwaffnet.
Die Arbeiterwehren des Ruhrgebietes die zum Teil bewaffnet waren und von denen sich ein Teil „Rote Armee“ nannte, waren von dortigen Arbeitern: Kommunisten, Unabhängigen und Mehrheitssozialdemokraten Angehörigen der „christlichen“ Arbeiterorganisationen und Parteilosen zur Abwehr der Kapp-Lüttwitz-Putschisten gebildet worden. Die KPD Zentrale hatte bei der Schaffung dieser Roten Armee des Ruhrgebiets in Wahrheit keinen Einfluß. Als nach dem Rücktritt der Putschregierung Kapp-Lüttwitz der Generalstreik in Berlin abgebrochen worden war, dauerten die Kämpfe im Ruhrgebiet noch an. Wilhelm Pieck wurde von der Zentrale ins Ruhrgebiet geschickt, um zu versuchen, die Arbeiterwehren unter die Kontrolle der KPD zu bringen. Piecks Vermittlung wurde von den beteiligten Organisationen abgelehnt, seine Unterzeichnung des Kompromisses mit der Preußischen Regierung, der den lokalen Kämpfen ein Ende setzen sollte und als „Bielefelder Abkommen“ in die Geschichte einging, wurde nicht anerkannt. Da die Reichswehr und die Freikorps das Bielefelder Abkommen teils nach ihrem Belieben auslegten, teils gar nicht einhielten, lösten sich auch die Arbeiterwehren nicht auf. Sie wurden bald von der Übermacht der Reichswehr und den Freikorps zusammengeschlagen. Und wie im deutschen Bürgerkrieg üblich, wurden nach der Niederschlagung der Arbeiterwehren mehr als doppelt so viele Arbeiter nachträglich ermordet als im Kampf gefallen waren. Auch in Krankenhäusern liegende Verwundete wurden von den Freikorpsleuten erschlagen. Die wenigen Tage der Kapp-Lüttwitz-Regierung hatten insgesamt über tausend Menschen das Leben gekostet. Die genaue Anzahl wurde niemals festgestellt.
Die sozialdemokratischen Minister, die sich gegenüber den Putschisten als zu blind erwiesen hatten: Reichskanzler Bauer, Reichswehrminister Noske, der preußische Innenminister Heine, ferner auch der Polizeipräsident von Berlin, Ernst, mußten aus ihren Ämtern ausscheiden. Reichskanzler wurde der Sozialdemokrat Hermann Müller, Reichswehrminister der Demokrat Gessier. Diese Regierung blieb nur knapp drei Monate am Ruder.
Paul Levi hatte jetzt nach der Abwehr des Kapp-Lüttwitz-Putsches weniger Schwierigkeiten, die Funktionäre der KPD zu überzeugen, daß nur eine Massenpartei und eine Teilnahme an der Tagespolitik, wie sie Rosa Luxemburg und Jogiches vorgeschlagen hatten, die Arbeiterklasse gewinnen könnte. Kurzfristig wurde ein neuer Parteitag für Mitte April nach Berlin einberufen, der die Beteiligung der KPD an den Wahlen am 6. Juni 1920 zum ersten Reichstag der Weimarer Republik beschloß.
Ich war im Wahlkampf Tag und Nacht in der Provinz Brandenburg unterwegs. Mit den bereits geschilderten primitiven Mitteln war der Wahlkampf der Kommunisten ein erfolgloses Bemühen. Ich brachte nur wenige eigene Wahlversammlungen zustande. Meistens besuchte ich die Versammlungen der anderen Parteien, meldete mich als Diskussionsredner und versuchte unter Lärmen und Drohungen der Gegner, meinen Standpunkt vorzutragen. Die Arbeiterklasse, die in drei Parteien gespalten war, stand einem in seinem Ziel geschlossenen Bürgertum gegenüber, das die Unterstützung der übergroßen Mehrheit der Landbevölkerung hatte. Selbst in Berlin war es trotz der Rednergabe Reuter-Frieslands nicht möglich, ein Mandat zu gewinnen. Mit der Gesamtstimmenzahl in ganz Deutschland wurden nur Paul Levi und Clara Zetkin die ersten Reichstagsabgeordneten der KPD. Die Partei wurde vorübergehend legal.
Ich hatte mittlerweile eine weitere Aufgabe übertragen bekommen, für die ich wohl einige Begabung hatte. Einige Tage nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis hatte Paul Levi mich eingeladen, ihm über den Verlauf des Kapp-Lüttwitz-Putsches in Berlin zu berichten. Ich erzählte ihm Einzelheiten aus den verschiedenen Stadien des Abwehrkampfes. Er war stark beeindruckt von der Aktivität der jugendlichen Arbeiter und Studenten und wünschte, der improvisierte Nachrichtendienst solle beibehalten werden. Die Billigung Levis war die eigentliche Geburtsstunde des „illegalen Apparates“ der KPD, über den in späteren Jahren unendlich viele groteske Schauergeschichten verbreitet wurden. Am Anfang war alles klar und einfach. Wir standen im Zeichen des Vormarsches der Konterrevolution, und die Partei war verpflichtet, sich über den Gegner und seine Absichten zu informieren und über die Sicherheit ihrer Mitglieder zu wachen. Es mußte ein wirksamer Schutz geschaffen werden gegen willkürliche Verhaftungen, von denen die Partei oft erst Wochen später erfuhr, gegen Morddrohungen und Morde; aber auch gegen Spitzel und Provokateure, die die Freikorps und die politische Polizei in die kommunistische Partei hineinzuschleusen versuchte. Nicht nur gegen willkürliche Übergriffe der Staatsmacht mußten wir uns wehren, wenn sie die Rechte, die nach der Verfassung auch den Kommunisten zustanden, mißachtete; es mußten auch Anschläge der rechten illegalen Verbände, die weiter wie Pilze aus dem Boden schossen, abgewehrt werden. Als Ende 1920 die Entente das Verbot der immer zahlreicher gewordenen Freikorps durchsetzte, lösten sich diese nicht auf, sondern wurden halb-“illegal“ und begannen die „Feme“-Mordgruppen und die „schwarze Reichswehr“ zu bilden. Die preußische Polizei unter dem sozialdemokratischen Innenminister Severing war nach rechts hin blind. Sie wußte wohl, was vorging, aber die von der Reichswehr protegierten Organisationen exerzierten auf Truppenübungsplätzen, die die Polizei nicht betrat. Die Zentrale der KPD beschloß jetzt, den Nachrichtendienst und die Spitzelabwehr in der gesamten Partei aufzubauen. Ein Schweizer R., ein Stuttgarter S. (die bald wieder ausschieden) und ich wurden damit beauftragt. In einigen Parteibezirken hatten sich die dortigen Parteileitungen schon selbständig mit diesen Fragen befaßt und die gleichen Maßnahmen beschlossen. So entstand der „illegale Apparat“ der KPD.
Ich habe später sehr viel Unsinn, Lügen und Fälschungen über angebliche Missetaten des „illegalen Apparates“ gelesen. Diese Berichte stammten teils von ausgeschiedenen Parteimitgliedern, teils von Polizeispitzeln. Auch Ruth Fischer, das ehemalige Mitglied des Zentralkomitees, schrieb in ihrem Buch: „Stalin und der deutsche Kommunismus“ schauerliche Dinge über den „Apparat“. Es geht aber aus den Erzählungen Ruth Fischers nicht klar hervor, in welcher Zeit die von ihr geschilderten Vorgänge passiert sein sollten. Die Geschichten von Manipulieren mit Gift, von Nachtübungen und –märschen, Hausdurchsuchungen usw. des „Apparates“, sind schlicht gesagt unwahr. Der „illegale Apparat“ führte noch kein Eigenleben, er war eher eine Art Botenjunge, ein „Mädchen für alles“. Was sich Jahre später entwickelte, ist ein anderes Kapitel.
Einen „M-Apparat“ (Militärpropaganda) gab es um diese Zeit noch nicht. Der „M-Apparat“ entstand gleichzeitig mit dem „Ordnerdienst“ erst nach der Vereinigung der KPD mit dem linken Flügel der USPD.
Für die Aufgaben dieser Zeit hätte auch ein harmlos klingender Name gewählt werden können. Im Grunde waren es keine „illegalen“, konspirativen Aufgaben, sondern Abwehr von Verfolgungen und Hilfsmaßnahmen, die sich aus der damaligen Situation ergaben. Ich führe einige Beispiele an: In Zeiten des Verbotes der Partei mußten Parteikonferenzen gesichert werden. Die Delegierten aus allen Teilen Deutschlands mußten empfangen und zum Tagungsort geleitet werden. Es mußten Quartiere für die Delegierten beschafft werden; niemand durfte in ein Hotel gehen. Für die leitenden Funktionäre mußten für den Fall einer akuten Verhaftungsgefahr Ausweichquartiere beschafft werden. Sichere Lokale für kleine und größere Tagungen mußten ausfindig gemacht werden u. s. w.
Dazu kam auch die Organisierung der Hilfe für die zahlreichen Flüchtlinge aus den Kämpfen im Ruhrgebiet, Bayern und Mitteldeutschland. Auch kamen Flüchtlinge aus der niedergeworfenen Räterepublik Ungarn und polnische Kommunisten nach Berlin, um hier „unterzutauchen“. Die meisten von ihnen hatten keine Papiere und waren obdachund arbeitslos. In der Millionenstadt Berlin war es uns am ehesten möglich, die Flüchtlinge unterzubringen. Hierbei fanden wir in verschiedenen Kreisen der Bevölkerung tätige Unterstützung, doch sie mußte mühsam gesucht werden.
Die Flüchtlinge benötigten zuerst Ausweispapiere. Mit geborgten Papieren war ein Flüchtling zwar vor einer Verhaftung ziemlich geschützt, aber er konnte damit nicht auf Arbeitssuche gehen. So mußte mit der Herstellung von sicheren Papieren begonnen werden. In Berlin gab es damals Personalausweise ohne Bild, die innerhalb Deutschland gültig waren. Nachdem ich festgestellt hatte, wo diese gedruckt worden waren, erhielt ich von einem Lagerarbeiter der Formulardruckerei einen Rest beschmutzten Papiers, aus dem noch einige hundert Formulare geschnitten werden konnten. Das läßt sich leicht erzählen, aber es erforderte ein wochenlanges vorsichtiges Suchen nach dem Papierhersteller und dem Drucker. Ein Chemigraph, der das Klischee machte, und ein Drucker, der die Exemplare mit einer Handpresse abzog, waren leichter gefunden. Mit diesen Personalausweisen versehen, konnte sich ein Flüchtling in Deutschland Arbeit und Obdach suchen.
Ich wohnte in dieser Zeit in einem „gutbürgerlichen“ Viertel, in einer Querstraße der Potsdamer Straße. Am Tage, nachdem ich die Formulare vom Drucker geholt hatte, wurde die Straße von Militär abgesperrt und Häuser durchsucht. Auch die Wohnung, in der ich mein Zimmer hatte. Es waren nicht Kriminalbeamte, sondern unerfahrene Soldaten, die die Wohnungen durchsuchten. Zwei Soldaten standen an der Wohnungstür, ein dritter durchsuchte das Zimmer, berührte aber nicht das Bett. Das war mein Glück. Ich hatte die Formulare ins Bett gelegt. Die Wohnungsinhaberinnen zwei ältere Schwestern, betraten mein Zimmer nicht. Ich besorgte das tägliche Bettmachen und Aufräumen selbst. Erst eineinhalb Jahre später, als nach der unglücklichen „Märzaktion“ ungefähr 7.000 Kommunisten in Gefängnissen saßen und der Flüchtlingsstrom innerhalb Deutschlands noch stärker angewachsen war, wurde für die Betreuung der Flüchtlinge eine eigene Organisation, die „Rote Hilfe“ gegründet.
Apropos „Apparat“: Die SPD hatte während des „Sozialistengesetzes“ Bismarcks, 1878–1890, in den Jahren der Unterdrückung auch einen „Apparat“, „Vertrauensmänner“ genannt, der die „illegalen“ Arbeiten, Vertrieb der Literatur, geheime Zusammenkünfte, Beherbergung Verfolgter etc., organisierte.
Aus mancherlei Erlebnissen möchte ich ein Beispiel erwähnen, wie aufreizend primitiv Provokateure „arbeiteten“. Im Zuge der Organisation des Nachrichten- und Abwehrdienstes kam ich eines Tages nach Hannover, wo für kurze Zeit Nikolai Rackow Parteisekretär war. Als ich in das Zimmer trat, das als Büro diente, sprach er gerade mit zwei Männern und war offensichtlich sehr erleichtert, als ich hinzukam. „Diese beiden Männer wollen Noske umbringen“, sagte Rackow zu mir gewandt, „sie wollen Geld und Waffen.“ Die beiden Männer bejahten lebhaft. Noske hatte um diese Zeit gerade die fette Pfründe eines Oberpräsidenten von Hannover erhalten. Als ich die beiden Männer fragte, wer sie sind und woher sie kamen, gaben sie ausweichende Antworten, und es stellte sich heraus, daß beide keine Mitglieder der Kommunistischen Partei waren und auch nicht der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei angehörten. Meine Fragen wurden ihnen so unangenehm, daß sie grußlos fortgingen. Sie haben sich nicht wieder blicken lassen.
Nachdem die beiden Männer fort waren, führte mich Nikolai Rackow in seine Wohnung, in der ich eine unvergeßliche Bekanntschaft machte. Ein junger Mann saß lesend am Tisch und Nikolai stellte ihn mir als seinen Bruder Waldemar vor. Das war ein auf den ersten Blick sympathischer Mensch mit offenen, etwas herb wirkenden Zügen. Er schien mir nur wenige Jahre älter als ich zu sein. Wir kamen in ein lebhaftes Gespräch, und er erzählte mir, daß er Weihnachten 1918 mit Friesland-Reuter und Radek aus Rußland gekommen sei, in der Zwischenzeit sei er einige Male wieder dort gewesen und wolle bald für immer nach Rußland zurückkehren, um dort eine leitende Stelk in der Wirtschaft einzunehmen. Auf seinen Wunsch erzählte ich ihm von meiner Tätigkeit in der Kriegszeit; vom Roten Soldatenbund bis zum jetzigen „illegalen Apparat“. Er lobte die frühere Tätigkeit und verriß mit heftigen Ausdrücken die gegenwärtige. Er nannte den „Apparat“ dilettantischen Unfug. Die Partei müsse erst einmal alles nachholen, was von der Sozialdemokratie seit Jahrzehnten versäumt worden war; sie müsse erst eine revolutionäre Massenpartei werden, ohne Sonderorganisationen und ohne Abenteuer. Das wäre eine Arbeit für viele Jahre, und sie dürfe nicht überstürzt werden. Was jetzt gemacht werde, sei zwecklos. Er sprach wie ein Architekt, der einen Wolkenkratzer bauen will, bei dem das Legen des Fundaments die meiste Zeit in Anspruch nimmt. Ich hielt ihm entgegen, daß Lenin der deutschen Partei mit Recht vorwerfe, daß sie die Ermordung Liebknechts, Luxemburgs, Jogiches und anderer nicht habe verhindern können, und ich sagte, daß unser Gegner die Art und das Tempo unserer Parteiarbeit vorschreibe; sicherlich würden weitere Funktionäre der Partei den Mordorganisationen der Rechten zum Opfer fallen, wenn die Partei sie nicht schütze. Wir diskutierten bis in die frühen Morgenstunden und verabredeten ein Treffen in Berlin.
Meiner Tätigkeit als Parteisekretär der Provinz Brandenburg kam ich weiter nach, und ich fuhr weiterhin, so oft es mir möglich war, mit dem Fahrrad durch die Lande. Im Sommer 1920 machte ich die Parteiarbeit einige Zeit allein. Budich war mit Paul Levi nach Petersburg und Moskau zum zweiten Weltkongreß der Kommunistischen Internationale gefahren, und Friesland nahm einige Wochen Urlaub. Meine Arbeit erhielt in dieser Zeit eine besondere Note wegen des polnisch-russischen Krieges, der Mitte Mai mit dem Überfall der polnischen Armee in Verbindung mit dem der ukrainischen Separatisten begonnen hatte. Die Bürgerkriegskämpfe in Rußland und die Blockade der Entente waren Anfang des Jahres beendet worden und Sowjetrußland hatte mit dem Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung begonnen, der jetzt durch den neuen Krieg wieder unterbrochen wurde. Wir befürchteten einen schweren Rückschlag für die Revolution. Nachdem der polnische Vorstoß von der Roten Armee zurückgeschlagen worden war und die Rote Armee sich ihrerseits auf dem Vormarsch nach Warschau befand, kam die französische Regierung den Polen mit Truppen und Kriegsmaterial zu Hilfe. Mitglieder der KPD in der Provinz Brandenburg schrieben, einige kamen persönlich nach Berlin, um zu berichten, daß französische Militärtransporte durch den Bahnhof ihres Ortes gekommen seien. Die Provinz Brandenburg hatte die längste Grenze mit Polen, daher wurden die Transporte, soweit sie nicht über See gingen, durch Brandenburg geleitet. Die deutsche Regierung wußte natürlich von diesen Transporten und duldete sie. Ich vereinbarte mit den Ortsgruppenvorsitzenden zu versuchen, diese illegalen und völkerrechtswidrigen Transporte zu stoppen.
Wir hatten die wohlbegründete Befürchtung, daß Deutschland in einen neuen Krieg hineingerissen werden könnte. Auf den Bahnhöfen in Fürstenwalde und Schwiebus, kurz vor der polnischen Grenze, gelang es den dortigen Parteiorganisationen auch, Transporte durch Streiks und Sabotage aufzuhalten. Wenn die Transporte auch nur für kurze Zeit gestört waren, so war doch jede Stunde Verzögerung von großer Wichtigkeit. Doch gegenüber den Mengen an Menschen und Material, die von Frankreich geliefert wurden, waren unsere Gegenaktionen von geringer Bedeutung. Als die Rote Armee vor Warschau die entscheidende Niederlage dieses Krieges erlitt und wieder zurückweichen mußte, wandte sich die russische kommunistische Partei zum ersten Male an die deutsche Bruderpartei mit dem Ersuchen, Maßnahmen gegen die französischen Militärtransporte zu unternehmen.
Die Parteizentrale hatte mittlerweile auch aus Häfen Nachrichten erhalten, die besagten, daß Truppen und Kriegsmaterial nach Polen und dem Baltikum verschifft würden, besonders von Stettin aus. Anfang August beauftragte mich die Zentrale zusammen mit dem bereits erwähnten Mitarbeiter aus Neukölln, nach Stettin zu fahren, um dort zwei Männer zu treffen, mit denen wir Maßnahmen zur Verhinderung der Transporte durchführen sollten. Die beiden Männer trafen wir in einem Café. Der eine der beiden stellte sich als „Maslow“ vor. Er war Mitglied einer russischen Kommission zur Heimführung von russischen Kriegsgefangenen. Maslow machte Angaben über die Namen der Schiffe, die mit Kriegsmaterial beladen im Stettiner Hafen lagen und nach Polen ausfahren sollten. Er brachte auch den Entwurf eines Aufrufes an die Matrosen und Hafenarbeiter mit, in dem diese aufgefordert wurden, kein Kriegsmaterial zu verladen und auf Schiffen mit Kriegsmaterial keinen Dienst zu tun. Mit Hilfe von Genossen in Stettin ließ ich diesen Aufruf noch am gleichen Tag als Flugblatt drucken. Bei der Verbreitung des Flugblattes im Hafengelände, in den Lokalen und den Heuerbasen, unterstützten uns Stettiner Gewerkschaften. Wir jubelten schon, wenn wir die Abfahrt der Transporte verzögern konnten; verhindern konnten wir sie nicht.
Spätere Debatten über den polnisch-russischen Krieg bewiesen, daß die polnische Armee nicht nur mit der Unterstützung Frankreichs siegte – hier waren der General Weygand und ein Offizier namens Charles de Gaulle am Werk –, sondern daß auch breite Massen der polnischen Bauern und Arbeiter Widerstand leisteten, denen die Furcht vor dem alten zaristischen Rußland noch in den Gliedern saß. Das revolutionäre Sowjetrußland hatte noch keinen freundschaftlichen Geist ausstrahlen können. Die Furcht vor den Russen schlechthin bestand in Polen bis in die Reihen der polnischen Kommunisten hinein.
Von dieser Zusammenkunft in Stettin datiert meine Bekanntschaft mit Arkady Maslow, der bald eine führende Stellung in der KPD einnehmen sollte. Maslow wurde „linker“ Oppositionsführer, Mitglied des Zentralkomitees und Lebensgefährte von Ruth Fischer. Ich traf Maslow im Laufe der Jahrzehnte in Berlin, Moskau, Paris, Marseille und zum letzten Male in Lissabon während des Weltkrieges, als er dort auf das Visum nach Amerika wartete. Einige Zeit später in Cuba wurde er auf einer Straße in Havanna tot aufgefunden.
Er war in Havanna gestrandet, die USA hatten ihm kein Einreisevisum erteilt. Da dem Toten die Brieftasche mit den Papieren geraubt worden war, wurde er als unbekannter Toter beerdigt. Nach den Photographien der Polizei wurde Maslows Leiche von Heinrich Brandler, dem ehemaligen Vorsitzenden der KPD, der auch in Havanna im Exil lebte, identifiziert.
Paul Levi war vom zweiten Weltkongreß der Kommunistischen Internationale politisch anerkannt zurückgekehrt. Er hatte ausführlich mit Lenin sprechen können, den er während des Krieges in der Schweiz kennengelernt hatte. Aber Geld für die Partei hatte er nicht angenommen. Auf der Partei-Delegierten-Konferenz, die sofort nach seiner Rückkehr zur Berichterstattung einberufen worden war, erklärte Levi, daß er jede finanzielle Unterstützung durch die russische Partei zurückgewiesen habe, die Not in Sowjetrußland sei so groß, daß er die Annahme von Geld nicht verantworten könne, weit eher sei die deutsche Partei verpflichtet, zur Unterstützung Rußlands Geld zu sammeln. Der Aufbau der deutschen Partei müsse von den Mitgliedern und Sympathisierenden getragen werden.
Ich entsinne mich gut an den Unwillen, den mehrere Funktionäre äußerten, und Wilhelm Pieck protestierte am heftigsten gegen Levis Auffassung und sagte, daß viele dringende Arbeiten, die zum Aufbau der Partei unerläßlich seien, ungetan blieben, weil kein Geld vorhanden sei. Oft könnten nicht einmal Einladungen zu Konferenzen in den Parteibezirken befolgt werden, und oft könnten angeforderte Referenten aus Geldmangel nicht reisen. Der Hauptinhalt des Referats Levis und der Diskussion aber betraf die 21 Bedingungen zum Beitritt zur Kommunistischen Internationale und der bevorstehende Zusammenschluß mit der linken USPD. Levi berichtete, daß er gegen die Zulassung nicht-sozialistischer Organisationen gesprochen habe, daß er die klare Trennung von politischen Parteien und gewerkschaftsähnlichen Organisationen verlange. Deshalb habe er auch gegen die Aufnahme der amerikanischen „Industrial Workers of the World“ gestimmt, obwohl diese im Weltkrieg aktiv gegen den Krieg opponiert hätten und wegen ihrer pazifistischen Haltung während des Krieges von der amerikanischen Regierung unterdrückt worden seien, ferner gegen die Aufnahme spanischer Syndikalisten und auch gegen eine Aufnahme der deutsche Abspaltung, der KAPD, die von den Russen eingeladen waren. Er, Levi, habe auf dem Kongreß verlangt, daß die Programme der Parteien, die sich der Kommunistischen Internationale anschließen wollten, eine klare sozialistische Zielsetzung haben müßten. In dieser Frage opponierte Levi auch gegen die Russen, die möglichst alle revolutionär gesinnten Arbeiterorganisationen oder Teile derselben aufnehmen wollten, sofern diese die Aufnahmebedingungen annahmen.
Auf dieser Konferenz bildete sich eine Fronde gegen Levi, und es wurde über einzelne Abschnitte seines Berichtes abgestimmt. Ich stimmte in allen Punkten für Levi. Diese Konferenz blieb mir auch aus einem anderen Grund besonders im Gedächtnis. Es machte sich eine junge Frau durch Zwischenrufe bemerkbar, die ich hier zum ersten Male sah. Ich sprach mit ihr: sie war die Tochter des Wiener Professors Eisler und mit einem Redakteur Friedländer verheiratet und schon Mutter eines Babys. Sie war erst kürzlich aus Wien gekommen. Sie hatte Wien verlassen, weil nach ihrer Meinung die Zukunft und das Schicksal der europäischen Arbeiterbewegung in Berlin entschieden werde. Sie nannte sich Ruth Fischer.
Hier begann die Karriere dieser bemerkenswerten Frau, die bald eine bedeutende Rolle in der deutschen kommunistischen Partei und in der Internationale spielen sollte. Sie hatte eine erstaunliche Rednergabe und sprach dauernd von der „Macht der Arbeiterfäuste“, ohne daß sie jemals das Wesen der Arbeiterbewegung selbst kennenlernte. Ruth Fischer fand in Maslow einen kongenialen Partner. Da aber Maslow selber die deutsche Staatsbürgerschaft nicht besaß, ging sie eine Scheinehe mit dem Bruder des Werkmeisters Golke ein, von dem ich im Kapitel Spartakus im Weltkriege berichtete. Als Frau Golke war Ruth Fischer deutsche Staatsangehörige und wurde später Reichstagsabgeordnete. Sie starb 1962 in Paris.
Am zweiten Weltkongreß der Kommunistischen Internationale hatten auch die Vertreter der USPD teilgenommen. Die Debatten in Moskau entschieden über den Zusammenschluß mit der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund). Nicht die Freundschaft zum Spartakusbund, sondern die Begeisterung für die russische Revolution, ihr Überleben im Kampf gegen die Konterrevolution und eine feindliche Welt, ließ die Herzen der linken Arbeiter für die Revolution schlagen. Da fast alle Fragen in Moskau geregelt waren, konnte der Vereinigungsparteitag in den Tagen vom 4. bis 7. Dezember in Berlin stattfinden. Am Tage vorher hatten wir noch eine Art Abschiedsparteitag der alten Spartakusmitglieder abgehalten, der in nüchterner, aber doch selbstbewußter Stimmung verlief. Die früheren Spartakusleute hatten einigen Grund, sich stark zu Fühlen, denn, obwohl die Unabhängigen Sozialdemokraten zahlenmäßig ungefähr um das Zwanzigfache überlegen waren, sollten alle leitenden Funktionen paritätisch besetzt werden.
Auf dem Vereinigungsparteitag waren die linken Unabhängigen Sozialdemokraten in ihren Reden weit radikaler als die Kommunisten, und sie legten auch mehr Gewicht auf Organisationsfragen. Das Mitglied des Zentralkomitees der Unabhängigen Sozialdemokraten Wilhelm Koenen forderte sogar, daß das Organisationsbüro Vorrang vor dem politischen Büro haben müsse. Das war der erste Vorstoß der „Kartothekowitsche“ in der Partei. Das Manifest des Vereinigungsparteitages forderte die Sozialisierung der Großindustrie, Teilnahme an den Wahlen zu den verschiedenen Parlamenten, Mitgliedschaft und aktive Mitarbeit in den Gewerkschaften, die um diese Zeit rund neun Millionen Mitglieder zählten. Der Parteitag beschloß auch, daß die Funktionäre keiner Religionsgemeinschaft angehören dürfen, und daß die Parteimitglieder ihre Kinder vom Religionsunterricht abmelden sollten. Damit wurde der Abschnitt des Erfurter Programms über die Religionszugehörigkeit abgelehnt, der besagt, daß Religion Privatsache jedes Einzelnen sei.
Ich habe an beiden Parteitagen teilgenommen.
Nach der Verschmelzung beider Parteien wurde die Mitgliedschaft der „Vereinigten Kommunistischen Partei Deutschlands“ (VKPD) mit rund einer halben Million Mitglieder angegeben. Doch Nachprüfungen ergaben, daß die neue Partei zur Zeit ihrer größten zahlenmäßigen Stärke ungefähr 350.000 Mitglieder zählte. Bei der Registrierung der Mitglieder zeigte sich, daß über hunderttausend, die gefühlsmäßig für die Vereinigung mit der KPD (S) gestimmt hatten, gleichwohl infolge der schweren Aufnahmebedingungen den Beitritt nicht vollzogen. Die Aufnahmebedingungen verlangten ein quasi uneingeschränktes Bekenntnis zum Kommunismus und die Bereitschaft, für die Partei jedes Opfer zu bringen. Es war eine Überschätzung des revolutionären Wollens selbst der linken, radikalen deutschen Arbeiter. In der deutschen Arbeiterschaft hat es immer nur kleine Gruppen revolutionär Gesinnter gegeben, bei der großen Mehrheit überwogen die kleinbürgerlichen Neigungen und die Folgen der militärischen Erziehung und Tradition. Ich habe es oft genug gesehen, wenn ich am Sonntagvormittag zu Arbeitern in die Wohnungen kam, um mit ihnen über die Partei zu sprechen, daß ihr „Eisernes Kreuz“ unter Glas und Rahmen an der Wand hing, daneben oft auch das Kompaniebild aus der Rekrutenzeit mit dem Kompaniehauptmann in der Mitte. „Das hängt nur dort, weil meine Frau es so will,“ sagte der eine und der andere verlegen zu mir, wenn er meinen Blick auf das Bild bemerkte.
So waren die Hauptgründe, daß viele fernblieben, die eben erst für die Vereinigung mit den Kommunisten gestimmt hatten, die materiellen Opfer, die zur Mitgliedschaft gehörten und die Schikanen und Verfolgungen durch die Behörden. Dazu kam die gesellschaftliche Ächtung, besonders in den mittleren und kleinen Orten. Es war für Kommunisten, die als solche bekannt waren, sehr schwer, eine Arbeitsstelle zu erlangen, auch bei der Arbeitslosenunterstützung wurden sie benachteiligt. Es war eine schwere Bürde, die sich jedes Mitglied der KPD selbst aufband. Die KPD war schon vorher als Spartakusbund niemals eine Sekte im geistigen Sinne gewesen. Die Leitung wie die Mitglieder waren weltoffener: aber die neue große Partei blieb selbst als Massenpartei eine Partei der Städte. Trotz aller oft sehr geschickten Propaganda unter den Landarbeitern und Bauern konnte sie unter dem „Landvolk“ nur in seltenen Fällen Anhänger gewinnen. Das war in früheren Zeiten bei der Sozialdemokratie nicht anders gewesen.
Im Laufe der Zusammenführung der Mitglieder, der Ortsgruppen und Bezirke nach dem zentralen Vereinigungsparteitag, erhielt ich die Mitteilung aus meiner Heimatstadt, daß sich sogar dort eine Ortsgruppe der VKPD bilden wolle. So hatte ich Gelegenheit, Schneidemühl wiederzusehen. Ich traf an die zwanzig Männer in dem Vereinslokal, in dem in den Jahren meiner Kindheit der Athleten- und der Radfahrerverein ihre Zusammenkünfte abgehalten hatten. Doch die Ortsgruppe löste sich bald wieder auf; die politische Atmosphäre Schneidemühls duldete sie nicht.
Der Vereinigungsparteitag hatte zwei mit gleichen Rechten ausgestattete Parteivorsitzende gewählt; den Intellektuellen Paul Levi und einen robusten Mann aus dem Volke, Ernst Däumig, der sich vor dem Ersten Weltkrieg durch alle Teile der Welt geschlagen hatte. Nachdem die wichtigsten Ressorts im neuen Zentralkomitee und in der Reichstagsfraktion aufgeteilt waren, beriefen die beiden Vorsitzenden eine Besprechung ein über den Punkt 12 der 21 Bedingungen der Kommunistischen Internationale, welcher lautete:
»Die allgemeine Lage in ganz Europa und Amerika zwingt die Kommunisten der ganzen Welt zur Schaffung illegaler kommunistischer Organisationen neben der legalen Organisation. Das Exekutivkomitee ist verpflichtet, dafür zu sorgen, daß das überall praktisch verwirklicht wird.«
Wie ich bereits erwähnte, hatte die KPD mit diesen konspirativen Maßnahmen bereits begonnen, und als Levi mich Däumig vorstellte, um ihn über die Tätigkeit zu unterrichten, sagte mir Däumig, daß er ebenfalls eine „Geheime“ militärische Organisation habe, und daß wir die Tätigkeit einander angleichen sollten. Däumig lud die Leitung seines „Apparates“ zu einer Besprechung, zu der ungefähr fünfzehn Personen erschienen. Vom bisherigen Spartakusbund kam ich allein. Levi kam wie üblich nicht zu Gesprächen, die sich mit Organisationsfragen befaßten. Meine Gesprächspartner stellten sich als frühere Mitglieder der revolutionären Matrosen und der Republikanischen Soldatenwehr vor. Einige sagten, daß sie auch der „Roten Armee des Ruhrgebietes“ angehört hatten. Alle waren gediente Soldaten und Kriegsteilnehmer gewesen. In diesem Kreis war ich der einzige, der niemals Soldat gewesen war.
Es zeigte sich sogleich, daß wir völlig gegensätzliche Auffassungen von konspirativer Tätigkeit hatten. Die Gruppe legte den Punkt 12 der Bedingungen der Kommunistischen Internationale so aus, daß sie eine eigene Militär-Organisation schaffen wollte, wie sie die Rechtsparteien in den zahllosen Mititärvereinen und im Stahlhelm, der sich von Magdeburg aus über ganz Deutschland ausbreitete, bereits hatten.
Ich berichtete über die Tätigkeit unseres bisherigen Nachrichtendienstes und betonte, daß jeder von ihnen zuerst ein Funktionär der Partei und der Gewerkschaften sei und daneben lernen müsse, wie die Massen durch die Partei revolutioniert und geführt werden könnten. Die Revolution müsse eine Sache des Volkes sein. Grundsätzlich aber könne eine Nebenorganisation nur dann revolutionäre Arbeit leisten, wenn die Gesamtpartei eine revolutionäre Politik betreibt. Im Falle revolutionärer Kämpfe müßten die konspirativen Kader unter Führung der politischen Parteileitung stehen, sie müßten aber auch im Falle einer Niederlage und eines Verbotes der Partei in der Lage sein, die Partei weiterhin zusammenhalten. Andererseits bestehe bei Nebenorganisationen immer die Gefahr des Eigenlebens und sie könnten die Politik der Parteileitung unter Druck setzen.
Wir kamen zu keiner Einigung, aber Däumig stand in allen Fragen auf meiner Seite; Levi war es stets gewesen. Levi und Däumig wünschten jetzt, um politische Schwierigkeiten zu vermeiden, daß die „militärische Organisation“ der bisherigen Unabhängigen Sozialdemokraten in sehr taktvoller Weise aufgelöst werden. (Ich vernahm später, daß die meisten Mitglieder als Verein zusammengeblieben waren, sie machten sich aber nicht bemerkbar).
In den Parteibezirken wurde begonnen, geeignete Genossen zu suchen, um zum bisherigen Nachrichtendienst einen „Ordnerdienst“ und eine „Militärpropaganda“ zu organisieren. Nicht überall wurden geeignete Mitarbeiter gefunden. In mehreren Bezirken unterblieb deshalb auch die Organisation der „Apparate“. Ich begann Militärliteratur zu studieren und las in den folgenden Jahren, auch wenn ich zwischendurch nicht im „Apparat“ war, militärische Schriften, angefangen bei Clausewitz Vom Kriege über Delbrücks umfangreiche Geschichte der Kriegskunst, die Erinnerungen der geschlagenen deutschen Heerführer aus dem Weltkriege bis zum wöchentlichen Studium des „Militärwochenblatts“. Der einzige Gewinn, den ich dabei hatte, war die Einsicht, daß es nichts Widerwärtigeres gibt, als Schlachtenbeschreiberei und –malerei. Es handelte sich für mich gar nicht darum, militär-theoretische Kenntnisse zu erwerben, sondern um Argumente gegen den Militarismus zu suchen. Das Militärprogramm der KPD bestand lapidar in der Forderung nach Bewaffnung der Arbeiterschaft als „Arbeitermiliz“ und Bildung einer „Roten Garde“ zum Schutze der proletarischen Revolution.
Dagegen hieß es im Erfurter Programm der SPD von 1891 unter Punkt drei: „Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere.“ Die deutsche Militärkaste hatte nach den Erfahrungen im Weltkrieg jetzt gegen diese Forderung nichts mehr einzuwenden, sie bedrohte ihre Privilegien nicht.
Die Ungeduld der Kommunistischen Internationale ließ sie nicht einmal die Vollendung der Verschmelzung der beiden Parteien in die lokalen Gliederungen abwarten; die Verschmelzung war ja kein einmaliger Akt wie der zentrale Vereinigungsparteitag, sondern ein Prozeß, der einige Zeit erforderte. Diese Zeit wurde der Partei nicht gelassen. Die Exekutive der Kommunistischen Internationale glaubte bereits unmittelbar nach dem Vereinigungsparteitag vom neuen Zentralkomitee eine aggressive Politik fordern zu können. Dabei wurde sie von einem „linken Flügel“, der sich bereits bildete, unterstützt. Es kamen Beauftragte der Exekutive nach Berlin, die sich an die Mitglieder der Partei direkt wendeten; so Guralski-Kleine, Bronski-Poznanski, dazu Maslow und Ruth Fischer, die mit Friesland in Berlin und leitenden Funktionären im Lande sehr rasch ein Bündnis gegen den Parteivorsitzenden Levi schlossen, Guralski sprach unermüdlich Abend für Abend in irgendeiner Gruppe, auch wenn nur wenige Personen anwesend waren. Seine primitiven Suggestivfragen, ob der Kapitalismus den Krieg verschuldet habe und darum gewaltsam zerschmettert werden müsse, bejahte jeder Anwesende. Diese Bejahung hielt Guralski für den „Radikalismus der einfachen Arbeiter“ und deren Zustimmung zu einer revolutionären Politik, die nach seiner Meinung vom Zentralkomitee nicht begriffen oder gar gebremst werde.
Bronski-Poznanski arbeitete anders. Fr erläuterte in Seminargruppen, an denen ich auch teilnahm, die politische Situation Rußlands, sein Verhältnis zu den kapitalistischen Ländern und die 21 Bedingungen der Kommunistischen Internationale. Wir hatten zu diesen Seminaren Kollegzimmer unter dem Namen „Gesellschaft zum Studium der Weimarer Verfassung“ in Restaurants gemietet, die sonst nicht von Parteimitgliedern besucht wurden, und jeder Teilnehmer mußte die Verfassung von Weimar vor sich auf dem Tisch liegen haben, um eine eventuelle Polizeikontrolle zu täuschen. Bronski war in seinen Formulierungen und in seinem Auftreten zurückhaltender als Guralski, aber der Zweck seiner Seminare war natürlich der gleiche: die Radikalisierung der Partei zu beschleunigen.
Levi war gegen die Fraktionsbildung nicht blind, aber sie interessierte ihn wenig. Er war wohl zu wenig ehrgeizig, er wollte gar nicht unbedingt Vorsitzender der Partei bleiben. Natürlich hatte er auch seine Freundeskreise in Berlin und anderen Orten. In Berlin gehörte auch der berühmte Kunsthistoriker und Schriftsteller Eduard Fuchs dazu, ferner der Historiker Valeriu Marcu, Fritz Schönherr, Joseph Bomstein und andere. Diese habe ich niemals in Parteibezirken sprechen hören, sie diskutierten die Fragen untereinander. Levis Haltung zu Rußland war entschieden positiv. Er wollte, daß die russischen Menschen jetzt, nach der Selbstbehauptung der Revolution an den äußeren und inneren Fronten, eine Pause erhalten sollten. Die Interventionen Englands, Frankreichs, Japans waren zurückgeschlagen, die Ukraine und Ostsibirien zurückerobert, die Armeen der konterrevolutionären Generäle im Innern waren zerschmettert worden. Nun sollte gearbeitet werden, um die Zerstörungen und die Not zu überwinden. Da die russische Regierung den Vertrag von Versailles nicht anerkannt hatte, die deutsche Republik ebenfalls von den Westmächten noch geächtet war, schlug Levi ein Bündnis Deutschland-Sowjet-Rußland vor und unterstützte gleichzeitig die Bemühungen der Sowjet-Regierung, Handelsbeziehungen zu den westlichen Ländern, besonders zu England anzuknüpfen. Levi vermied dabei jeden Anklang an frühere „nationalbolschewistische“ Tendenzen eines Kriegsbündnisses. Levis Leitgedanke war, Sowjet-Rußland müsse aus der Isolierung heraus. Die Oppositionellen, Friesland, Maslow, Ruth Fischer, dagegen waren der Meinung, daß die Revolution der einzige Exportartikel sei, den Sowjet-Rußland der Welt anzubieten habe, und daß ein Bündnis Sowjet-Rußland-Deutschland es erst nach dem Siege der proletarischen Revolution in Deutschland geben könne.
Von der ersten Auseinandersetzung zwischen Paul Levi und dem Mitglied der Exekutive der Kommunistischen Internationale, Karl Radek, über die jetzt einzuschlagende Politik der VKPD, erfuhr ich zufällig von Waldemar Rackow. Radek war, obwohl er erst vor einigen Monaten von der deutschen Regierung gegen in Sowjet-Rußland inhaftierte Deutsche ausgetauscht war, wieder illegal nach Deutschland gekommen. Waldemar Rackow war für die Dauer des Aufenthaltes Radeks in Deutschland dessen Sekretär. Am Tage nach dem Streitgespräch Levi-Radek traf ich mich mit Rackow, der mir erzählte, daß Levi in der Aussprache die Verlegung der Exekutive der Kommunistischen Internationale nach Kopenhagen gefordert und auch angedeutet habe, daß er den Vorsitz der Partei niederlegen wolle. Rackow machte mir gegenüber kein Hehl daraus, daß er Levis Einstellung für richtig hielt, aber er lehne ihn als Parteiführer ab. Er wünsche als Parteiführer einen Arbeitertyp; Levi sei ihm zu intellektuell und an der Parteipolitik im engen Sinne zu uninteressiert. Clara Zetkin schätzte er höher ein.
Wir saßen in einem Café in der Friedrichstraße und Rackow erzählte mir nun auch einiges aus seinem Leben und von der russischen Revolution. Er war in Rußland als Sohn eines deutschen Werkmeisters oder Ingenieurs geboren und dort aufgewachsen. Er sollte ebenfalls Ingenieur werden und hatte die Technische Hochschule besucht. Hier hatte er schon russische Sozialdemokraten kennengelernt und sich dem bolschewistischen Flügel angeschlossen und aktiv an der Organisierung des Oktoberaufstandes teilgenommen. Während der ersten Jahre des Bürgerkrieges war er trotz seiner Jugend politischer Kommissar in der Roten Armee gewesen.
Um diese Zeit hatten auch die bisher selbständigen Parteibezirke Groß-Berlin und Brandenburg ihren Vereinigungsparteitag abgehalten und sich dabei zu einem Bezirk Berlin-Brandenburg zusammengelegt. Ein neues Sekretariat war gebildet worden, dem ich nicht mehr angehörte. Auf Antrag Frieslands und Maslows war ich als „Levit“ abgewählt worden. Ich blieb aber noch Mitglied des neuen Bezirksvorstandes. Meine Anhänger in Brandenburg waren auch noch stark genug, mich als Kandidaten für die Wahl im ersten Preußischen Landtag aufzustellen. Ich wurde mit der Erledigung aller Formalitäten und der Einrichtung der Kandidatenliste beauftragt. Aus Vorsicht, um zu verhindern, daß Kandidaten von der Polizei verhaftet oder von Rechtsorganisationen bedroht werden könnten, reichte ich die Kandidatenliste erst in den letzten Stunden vor Anmeldeschluß ein. Das staatliche Wahlprüfungskomitee strich meine Kandidatur, weil mir nach dem Wahlgesetz noch drei Wochen zum wählbaren Alter fehlten.
Die Wahl zum Landtag in Preußen wurde für die VKPD eine schwere Enttäuschung. Die Mehrheitssozialdemokraten erhielten mehr Stimmen als die VKPD und die Rest-USPD (die die Vereinigung mit den Kommunisten abgelehnt hatte) zusammen. Die größte Enttäuschung bereiteten uns die Massen der Stadt Berlin. Hier kam die VKPD von den drei Arbeiterparteien erst an dritter Stelle hinter den Mehrheits- und den Rest- Unabhängigen Sozialdemokraten. Die Vereinigung der Kommunisten mit dem linken Flügel der USPD hatte also weder einen neuen revolutionären Aufschwung noch die erhoffte Unterstützung in der Arbeiterbevölkerung gefunden. Paul Levi nahm den Wahlausgang als Warnung auf, die Kraft der VKPD nicht zu überschätzen. Für die linke Opposition aber war maßgebend, daß die Anhänger der Partei in den Betrieben, also unter den Männern, weitaus stärker waren, als in der Gesamtheit der wahlberechtigten Bevölkerung, in der die Frauen und die Landbewohner den Ausschlag gaben. Die Stärke der VKPD in den Betrieben zeigte sich besonders im industriellen Mitteldeutschland. Im Gebiet Halle-Merseburg erhielten die Kommunisten die dreifach höhere Anzahl Stimmen als die Mehrheits- und ebenfalls fast die dreifach höhere Stimmenzahl als die Rest-Unabhängigen Sozialdemokraten. Die Kommunisten waren demnach in diesem Industriegebiet fast doppelt so stark wie die beiden sozialdemokratischen Parteien zusammen. Ich erwähne dieses Wahlergebnis im mitteldeutschen Industriegebiet ausdrücklich, weil hier bald Ereignisse folgen sollten die die noch längst gefestigte Partei fast bis zur Zerstörung erschüttern sollten.
Levi wollte sich nicht zu einer Politik drängen lassen, die er für falsch und für die Partei zerstörend hielt. Er legte den Vorsitz nieder. Ich war in der Konferenz, in der Levi zurücktrat, anwesend. Der Mitvorsitzende Ernst Däumig und Clara Zetkin folgten ihm. Sang- und klanglos verschwand der Parteivorstand, der erst wenige Wochen zuvor von den Delegierten von angeblich einer halben Million Parteimitgliedern einstimmig gewählt worden war. Nicht die fruchtlosen Diskussionen mit den neuen „linken Berlinern“ in der Partei war der Anlaß zu diesem Schritt, diese hatte Levi so überlegen abgewehrt wie vorher die „Nationalbolschewisten“, sondern Levi erkannte richtig, daß er einer neuen politischen Richtung, die von der Exekutive der Kommunistischen Internationale gefördert wurde, im Wege stand. Ich möchte am folgenden, scheinbar belanglosen Beispiel zeigen, wie sich die politische Einstellung der Leitung der Kommunistischen Partei wandelte. Zu Anfang des Jahres wurden in ganz Deutschland, besonders in Berlin, von den rechtsstehenden Parteien eine mehrere Wochen lang dauernde nationalistischverlogene Bildplakatpropaganda durchgeführt, die von der Reichsregierung und den Länderregierungen mitfinanziert wurde. Die Bildplakate zeigten hungernde und frierende Kinder, Frauen und Kriegskrüppel mit Unterschriften, die behaupteten das seien die Folgen des Versailler Vertrages. Diese Plakatpropaganda wurde anläßlich der „Londoner Konferenz“ von Anfang März 1921 die zur Festsetzung der deutschen Reparationszahlen einberufen worden war, betrieben. Levi schlug dem Zentralkomitee vor, Streifen zum Überkleben der Plakate drucken zu lassen mit dem Text: „Das tat der Krieg des deutschen Militarismus Imperialismus!“ Die Mehrheit des Zentralkomitees lehnte den Vorschlag Levis mit der Begründung ab, das Überkleben wurde sehr unpopulär sein, die Bevölkerung wurde eine solche Richtigstellung nicht verstehen. Das Zentralkomitee nahm hier schon Rücksicht auf nationalistische Stimmungen. Ich hatte Levi auf seine Frage hin zugesichert, daß die meisten Parteimitglieder, und besonders der „Apparat“, seinen Vorschlag gern ausführen würden.
Eigentlich kann ich die Opposition gegen Paul Levi nicht als „Linke“ bezeichnen, es war eine „Berliner“ Richtung, die revolutionäre Aktivität beinahe um jeden Preis forderte. In dieser Zeit stand die Arbeiterschaft in ganz Deutschland täglich in Arbeitskämpfen, es gab Streiks und Aussperrungen. Die Entwertung des Geldes wurde drückender, ein Brot kostete bereits 12 bis 15 Mark und es war erkennbar, daß Spekulation und Schiebertum die Hauptursachen der Teuerung waren. Die VKPD unterstützte natürlich die Forderungen der Arbeiter, die Führung der Kämpfe um Lohn und Brot lag jedoch bei den Gewerkschaften. In Berlin wurde der Streik der Elektrizitätsarbeiter von dem kommunistischen Betriebsratsvorsitzenden Wilhelm Sült geführt. Daß Sült nach seiner Verhaftung im Gefängnis von dem gleichen Polizeibeamten hinterrücks erschossen wurde, der auch Leo Jogiches ermordet hatte, erwähnte ich bereits.
Noch einmal mögen es über hunderttausend Menschen gewesen sein, die Sült das letzte Geleit zum Friedhof gaben, und ich glaube, die Rede Frieslands am Grabe Sülts war sicherlich die gequälteste und ergreifendste Rede seiner ganzen Laufbahn.
Levi entnahm aus dem Verhalten und den Forderungen der Arbeiter und der Gewerkschaften in Berlin, daß diese nicht einmal zu großen einheitlichen gewerkschaftlichen Kämpfen bereit waren. An bewaffnete Kämpfe dachte Levi nicht, für ihn war die Zeit der bewaffneten Kämpfe vorüber. Die junge Partei sollte sich erst eine breite politische Basis in der arbeitenden Bevölkerung schaffen, um die führende Arbeiterpartei zu sein. Die innerpolitische Opposition dagegen war der Auffassung, daß die Partei am ehesten durch Aktionen zusammenwachsen und lernen könnte. „Wir müssen die Machtfrage aufrollen,“ riefen Ruth Fischer und Maslow in fast jeder Parteiversammlung.
Levi hat mich immer in der Ansicht bestärkt, daß, wie eine Handvoll verbrecherischer Menschen einen Krieg herbeiführen könne, so eine Handvoll Menschen den Krieg verhindern könne – vorausgesetzt, diese Menschen brächten die gleiche Energie auf wie die Kriegstreiber und wenden die zweckmäßigen Mittel an. Im Grunde war Levis politische Einstellung zutiefst pessimistisch. Er wiederholte des öfteren, daß der Weltkrieg keine Probleme gelöst habe, und daß der Kapitalismus neue Kriege suche, und daß wir daher auch einen zweiten noch verlustreicheren Weltkrieg erleben würden, wenn das Proletariat keine Macht zu entwickeln in der Lage sei, die den Kapitalismus abschafft. Die Schrecken der Konterrevolution ständen noch vor uns, und ... „jede Konterrevolution wiederholt die Sünden der vorrevolutionären Zeit gründlicher und systematischer,“ sagte er immer wieder. Ebenso pessimistisch äußerte er sich über eine mögliche Entwicklung in Rußland. „Wenn die westeuropäische Arbeiterschaft den Russen nicht zu Hilfe kommt, so wird sich in Rußland die härteste Diktatur entwickeln.“
Bevor Levi eine private Auslandsreise antrat, hielt er ein Referat, das mir unvergeßlich blieb, oder besser gesagt, das mir zwanzig Jahre später wieder ins Gedächtnis kam. Es war in einer der periodischen Sekretär-Schulungskonferenzen, die stets mehrere Tage dauerten und in denen mit Mitgliedern des Zentralkomitees über politische Fragen diskutiert wurde. Levi, der mehrere Sprachen beherrschte und wohl täglich die erreichbare ausländische Presse las, referierte über Außenpolitik und über das Verhältnis der Großmächte zueinander, um dann ausführlich über einen kommenden Konflikt zwischen Japan und den USA zu sprechen Levi stellte die These auf, daß Japan sehr wahrscheinlich zu einem günstigen Zeitpunkt Pearl Harbor angreifen und versuchen werde, die USA aus dem mittleren Pazifischen Ozean zu verdrängen. Auch mit dieser Meinung stand er gegen die Auffassung der Russen, die an einen Konflikt England–USA glaubten. Levi belegte seine Thesen mit Zitaten aus Büchern, Zeitschriften und Zeitungen, die er, aus den Originalen übersetzend, vorlas. Auf Zurufe sagte er lachend, daß er kein Datum vorhersagen könne, wann dieser Überfall passieren würde. In London im Dezember 1941, als ich in den Zeitungen vorn japanischen Überfall auf Pearl Harbor erfuhr, sah ich in meinen Gedanken Levi vor mir, wie er über den kommenden japanischen Angriff sprach. Ich halte nichts von politischen Prophezeiungen. Aber durch Studium der Geschichte, durch zuverlässige Informationen über die handelnden politischen, militärischen und wirtschaftlichen Interessen und Personen, ist es sehr wohl möglich, bestimmte Tendenzen zu erkennen, die zu den vermuteten Resultaten führen.
In dieser politisch erregten Situation kam es im mitteldeutschen Industriegebiet Halle- Merseburg-Leunawerke-Mansfeld zu umfangreichen Streiks. Die preußische Regierung ließ durch den Oberpräsidenten der Provinz Sachsen, Hörsing, militarisierte, mit Geschützen und anderen schweren Waffen ausgerüstete Polizei in das Industriegebiet einmarschieren. Reichswehrtruppen folgten. Die VKPD rief nun zum Generalstreik und bewaffneten Widerstand auf. Nachdem aber die Kämpfe sich ausdehnten, verlor die Partei zum größten Teil die Leitung. Max Hoelz kam aus seinem tschechischen Exil zurück. Er konnte zwar nicht die Gesamtleitung übernehmen, aber führte Aktionen durch, die der Polizei schwer zu schaffen machten. Vom Zentralkomitee der Partei war Eberlein in diesen Tagen im Kampfgebiet. Die kämpfenden Arbeiter, die auch Betriebe besetzt hatten, wurden in einigen Tagen niedergeworfen. Es gab zahlreiche Tote, deren genaue Zahl auch niemals festgestellt wurde. Mehrere tausend Arbeiter wurden jahrelang in Gefängnissen gehalten, davon waren die meisten Mitglieder der KPD. Das war die sogenannte „Märzaktion“ von Ostern 1921 über die unendlich viele unwahre Geschichten verbreitet wurden. Offiziell wurde behauptet, die Kommunisten hätten losschlagen wollen, die Polizei sei ihren Plänen zuvorgekommen. Tatsache ist, daß erst der Einmarsch der militarisierten Polizei und auch der Reichswehr, der von den Offensivtheoretikern herbeigesehnte Anlaß zur Parole „Generalstreik und bewaffneter Aufstand“ war. Trotz der „Offensivtheorie“ des Zentralkomitees war der Aufstand nicht vorgeplant; ich war in vielen Sitzungen zugegen und hätte dank meiner Funktion bestimmt davon erfahren.
Kürzlich las ich in den Memoiren des Schriftstellers Franz Jung, daß Bela Kun, der frühere ungarische Ministerpräsident, die Kämpfe persönlich geleitet habe. Er beschreibt, wie Bela Kun im Gebiet Halle-Merseburg „an der Arbeit“ gewesen sei. Er habe sogar ein Gewerkschaftshaus mit 300 Funktionären in die Luft sprengen wollen, etc. Jedes Wort davon ist frei erfunden; ich kann bezeugen, daß Bela Kun in dieser Zeit überhaupt nicht in Mitteldeutschland gewesen ist. Ich hatte während dieser Tage vom Zentralkomitee den Auftrag, mit einigen Mitgliedern des „Apparates“ in Berlin, in der nördlichen Friedrichstraße, eine Woche lang eine Wohnung zu überwachen und die Verbindung der Bewohner mit der Parteileitung zu halten. Ich kannte keinen der drei Männer, mit denen ich natürlich auch mehrere Male über die Ereignisse in Deutschland sprach. Erst Wochen später, nach der Abreise der Männer erfuhr ich von Rackow, daß ich mit Bela Kun, Matias Rakosi und Pogany, den führenden Mitgliedern der ungarischen Räteregierung zu tun gehabt hatte. Ich sah Bela Kun und Rakosi 1922 in Moskau wieder.
Ebenso groschenromanhaft erzählt Franz Jung, daß Friesland in Berlin zu ihm gekommen sei und ihn beschworen habe, einige Dynamitattentate auszuführen. Jung schreibt: „nicht viele Leute haben in meinem Leben mich so dringend und flehentlich um etwas gebeten.“ Jung war Mitglied der KAPD, die trotz Protestes Paul Levis in die Kommunistische Internationale als sympathisierende Partei mit beratender Stimme aufgenommen worden war. Die KAPD war demnach eine „Bruderpartei“, daher hatte Jung Verbindung mit Funktionären der VKPD.
Paul Levi war in Wien, als er in der Presse von den Kämpfen in Mitteldeutschland las. Er kehrte nach Berlin zurück und protestierte heftig gegen die „Märzaktion“, wie die Kämpfe jetzt genannt wurden. Das Zentralkomitee der Partei rief für Anfang April den Zentralausschuß nach Berlin ein. In verschiedenen Geschichtswerken über die Kommunistische Partei wird behauptet, Levi sei zu der entscheidenden Zentralausschußsitzung, in der sein Ausschluß beschlossen wurde, nicht zugelassen worden. Das stimmt nicht. Levi war eingeladen, ich hatte ihm die Adresse des Lokals gebracht und er wollte dort das Referat halten, das er dann als die Broschüre Die Märzaktion veröffentlichte. Levi, oder vielmehr der Taxifahrer, fand das Konferenzlokal nicht. Ich stand an dem Morgen an einer Ecke in der Nähe des Lokals, um auf Levi zu warten. Die Konferenz war streng geheim, denn gegen viele der Konferenzteilnehmer waren Haftbefehle erlassen, sie durften nicht gefährdet werden. Die Taxe, in der Levi saß, fuhr an mir vorüber und verschwand um die nächste Ecke. Dann kam sie aus einer Seitenstraße zurück; es war im alten Neukölln, in dem Gewirr der kurzen Straßen um den Richardplatz. Ich winkte dem Taxifahrer, der aber weiterfuhr, wahrscheinlich im Glauben, ich wolle seine besetzte Taxe mieten. Er fuhr am richtigen Lokal vorbei, um wieder um die nächste Ecke zu verschwinden. Ich lief hinter der Taxe her und sah sie noch einige Male in den Nachbarstraßen entlang fahren, dann verschwand sie endgültig. Nachdem ich Pieck von dem Mißverständnis berichtet hatte, eröffnete er die Konferenz, ohne weiter zu warten. Da Levis Referat ausfiel, beschränkte sich die Konferenz darauf, die Anträge gegen Levi zu behandeln. Die Konferenz nahm ein vorzeitiges Ende. Ich sah Maslow einige Male im Schankraum telefonieren; ich machte Pieck darauf aufmerksam und sagte ihm, daß ich die Verantwortung für die weitere Sicherheit der Konferenz ablehne. Pieck teilte dies den Anwesenden mit, die für sofortigen Abbruch der Verhandlungen waren und das Haus verliessen. Levi sagte mir einige Tage später, daß er mich nicht gesehen habe. Er habe sich auf den Taxifahrer verlassen, dieser habe das Lokal nicht gefunden. Er, Levi, habe auch beim vergeblichen Herumfahren den Eindruck gewonnen, daß man ihn irreführte, daß die Zentrale sein Referat nicht wünschte. So verfocht er seine Kritik durch die Herausgabe der Broschüre, die schon einige Tage nach der Sitzung des Zentralausschusses erschien.
In der theoretischen Zeitschrift der Kommunistischen Partei Die Internationale vom 29. März 1921 hatte ein Mitglied des Zentralkomitees geschrieben:
»Seit zwei Jahren gab es keinen Zeitpunkt, wo die Regierung so geschwächt war wie jetzt ... Die Regierung kann durch einen einigermaßen starken Stoß gestürzt werden ... Besteht also die Möglichkeit zu solchem Stoß, dann muß eine revolutionäre Partei ihn führen. Unter diesen Umständen beschloß die VKPD die Offensive zu ergreifen.«
Diese Nummer der Internationale erschien erst zwei Wochen nach Beendigung der Kämpfe in Mitteldeutschland. Das Zentralkomitee der Partei hatte sich völlig geirrt. Es hatte leichtfertig zu einem Kampf aufgerufen, auf den die Partei gar nicht vorbereitet war. Die politischen Folgen und die Verluste konnte die KPD niemals überwinden.
Ich machte aus meiner Sympathie für Levi kein Hehl; wo ich mit abstimmen konnte, stimmte ich für ihn. Daraufhin wurde ich aus der Bezirksleitung Berlin-Brandenburg der VKPD rausgewählt und auch aus meiner bisherigen Tätigkeit entlassen. Aus der Partei wurde ich nicht ausgeschlossen; das widerfuhr damals nur denen, die mit ihren abweichenden Thesen an die Öffentlichkeit gingen. Ich konnte das als „Illegaler“ sowieso nicht.
Zuletzt aktualiziert am 11. Januar 2023