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Waldemar Rackow und ich saßen in der erwähnten Parteikonferenz von Berlin-Brandenburg am gleichen Tisch. Als ich nicht wieder in die Bezirksleitung gewählt wurde, sagte er mir, daß er mich in den nächsten Tagen in einer „interessanten Angelegenheit“ sprechen müsse. Einige Tage darauf trafen wir uns in Charlottenburg. Seine interessante Mitteilung war, daß er nach Rußland zurückkehren werde, und daß er mich zu seinem Nachfolger bei seinem Chef „James Thomas“ empfohlen habe. Zu diesem James Thomas würden wir jetzt gehen, falls ich zustimme und mich verpflichte, die gestellten Bedingungen zu erfüllen. Er instruierte mich über die Arbeit, die ich bei Thomas auszuführen hätte und über mein persönliches Verhalten. Das erste Gebot sei unbedingte Diskretion gegenüber jedermann, auch gegenüber den Mitgliedern des Zentralkomitees der Partei. Ich dürfe niemals irgendeine kommunistische Schrift, keine Adressen, kurzum nichts bei mir tragen, was bei einer eventuellen Verhaftung einen Hinweis auf meine Arbeit und auf Thomas geben könnte. Das zweite Gebot sei Pünktlichkeit. Sollte ich einmal zu einem Treffen nicht auf die Minute pünktlich sein, so werde mir ein neuer Termin mitgeteilt. Sollte ich aber Thomas einmal zufällig auf der Straßen treffen, so müsse ich, ohne ihn anzusprechen oder zu grüßen, vorübergehen. Die gesamte Arbeit müsse äußerst diszipliniert und konspirativ vor sich gehen.
Nachdem ich zugesagt hatte, daß ich die Arbeit gern übernehmen würde, gingen wir einige Straßen weiter zu einer Buchhandlung, deren sorgfältig dekoriertes Schaufenster wir uns anschauten. Rackow vergewisserte sich unauffällig mit dem wachsamen Spähblick, den auch ich in der „Illegalität“ entwickelt hatte, ob uns niemand gefolgt war, ehe wir eintraten. Wie das Schaufenster vermuten ließ, war die Buchhandlung sehr reichhaltig ausgestattet, auch Lexika und Globen standen auf Regalen und Tischen. Wir schauten uns Bücher an, bis ein Kunde den Laden verlassen hatte, und gingen dann um den Ladentisch herum in den hinteren Arbeitsraum. James Thomas ließ nicht lange auf sich warten. Er war ein mittelgroßer, etwas dicklicher Mann, glatt rasiert, dunkles Haar, etwa Anfang Vierzig. Er trug eine Brille mit schmalem Goldrand, gekleidet war er mit unauffälliger Eleganz. Nach der Begrüßung wiederholte er kurz die konspirativen Regeln, die mir Rackow bereits eingeschärft hatte. Dann umriß er mein Arbeitsgebiet. Ich sollte sein Verbindungsmann zum Zentralkomitee der KPD sein und Verlagsarbeiten ausführen. Er fügte gleich hinzu, daß ich ihn nicht oft sehen werde, daß ich aber seine Sekretärin täglich treffen werde, und ihr solle ich die Arbeiten übergeben. Während Thomas über die Arbeit sprach, kam seine Sekretärin hinzu: Ruth Österreich-Jensen. Ich bekam mehrere verschlüsselte Treffpunkte genannt. Keine Cafés oder Privatadressen, sondern Treffpunkte auf Straßen und Plätzen.
Thomas sprach ein akzentfreies Hochdeutsch. Er sprach langsam und klar. Von seiner eigenen Funktion erzählte er nichts, die hatte mir Rackow angedeutet. Thomas war der ständige bevollmächtigte Vertreter der Exekutive der Kommunistischen Internationale für Westeuropa. Wie mir Rackow gesagt hatte, war Thomas noch nicht lange in Berlin, er kannte aber Berlin schon aus seiner Studentenzeit vor dem Weltkrieg. Das von ihm geleitete „Westeuropäische Sekretariat“ war einige Monate nach der Gründung der Kommunistischen Internationale eingerichtet worden. Es sollte unter anderem auch die unsichere und schwierige Verbindung der westeuropäischen kommunistischen Parteien mit Moskau erleichtern. Deutschland und Rußland grenzten nicht mehr aneinander. Neugebildete Staaten: Estland, Lettland, Litauen, Polen, die aus dem früheren Rußland herausgelöst und deren Regierungen rußlandfeindlich gesinnt waren, bildeten einen Wall offiziell-zynisch „Cordon sanitaire“ genannt, der Rußland vom Westen abschließen sollte. Ich erfuhr bald, mit welchen Gefahren der Weg durch diese Staaten für unsere Kuriere verbunden war, nicht alle kamen durch. Mehrere wurden getötet oder gefangen und jahrelang in Gefängnissen gehalten. Rackow hatten den Weg von Moskau nach Berlin beim ersten Male im Dezember 1918 mit Radek und Reuter-Friesland danach noch mehrere Male allein hin und zurück unversehrt geschafft.
Ich bekam Einblick in die gesamte Tätigkeit. Für die Verlagsarbeiten stellte Thomas mir Fachliteratur und Fachzeitschriften zur Verfügung. In Hamburg hatte Thomas die bereits bestehende Verlagsbuchhandlung Carl Hoyn aufgekauft, um durch sie die Herausgabe der Schriften der Kommunistischen Internationale und Übersetzungen der neuen russischen Literatur zu besorgen. Thomas gab auch ein größeres Werk heraus: Gegen den Strom, eine Sammlung von Antikriegsartikeln Lenins und Sinowjews, die während des Krieges in der Schweiz geschrieben worden waren. Später bei der Herausgabe seiner Illustrierten Geschichte der Russischen Revolution kam es zum ersten Konflikt zwischen Thomas und dem neuen Generalsekretär der KPdSU, Stalin. Stalin wünschte, daß seine Rolle in den Revolutionstagen von 1917 mehr hervorgehoben und einige Bilder von ihm gebracht werden sollen. Thomas wußte von der untergeordneten Rolle Stalins in diesen Tagen und lehnte das Ansinnen ab.
Durch die Buchhandlung ließ Thomas wichtige Bücher und Zeitschriften für einige Mitglieder der russischen Regierung einkaufen. Die Bücherpakete für Lenin, Trotzki, Radek, Bucharin und Sinowjew stellte Thomas selbst zusammen.
Thomas war mit den Empfängern persönlich befreundet oder bekannt, er zeigte mir manchmal Briefe von ihnen. Das Interesse dieser führenden russischen Revolutionäre ging über die politische, Wirtschafts- und philosophische Literatur hinaus. Ich hatte außerdem für sie noch täglich je 4 Exemplare der bedeutendsten deutschen Tageszeitungen zu besorgen, aus denen ich die Leitartikel und sonstige wichtige Aufsätze auszuschneiden hatte. Die Bücher und Ausschnitte wurden über Schweden, später nach dem Rapallovertrag mit dem diplomatischen Gepäck nach Moskau befördert. Es war den Russen damals noch nicht möglich die Bücher durch eine Buchhandlung in Moskau zu beziehen. Diese Zeitungsarbeit leistete ich fast ein Jahr lang nebenher, bis Professor Eugen Varga, der frühere Wirtschaftsminister der Räterepublik Ungarn, ein Informationsbüro in der russischen Botschaft einrichtete und die Arbeit großzügiger ausbaute. Eugen Varga wurde später der maßgebende Wirtschaftsberater Stalins.
Mir war nun die Chance gegeben worden, in den Beruf hinein zu kommen, den ich mein Leben hindurch beibehielt: Verlagskaufmann. Thomas war ein begabter Verleger. Er bestimmte Satz, Druck und Einband der Bücher und Broschüren. Wie es bei kommunistischen Druckaufträgen üblich war, mußte die fertige Auflage sofort abgeholt und sichergestellt werden, sie wurde auf mehrere Lager verteilt. Auch in „legalen“ Zeiten war die Verbreitung verschiedener kommunistischer Schriften verboten. Ein Lagerkeller war ungefähr 500 Meter vom Polizeipräsidium entfernt, nach der Bemerkung Lichtenbergs, daß die Fliege am sichersten auf der Nase des Mannes mit der Klappe ist. Von den Kellern aus wurden die Schriften an die Buchhandlungen und Büros der Partei geschickt. Keines unserer Lager ist jemals von der Polizei ausgehoben worden.
Außer der Verlagstätigkeit waren andere Dinge zu erledigen. Es kamen illegale und legale Parteileute aus anderen Ländern nach Berlin, die nach Moskau wollten, deren Papiere aber zur Weiterreise nicht ausreichten oder aus deren Papieren bei ihrer Rückkehr ins Heimatland nicht erkennbar sein durfte, daß sie in Sowjet-Rußland gewesen waren. Für diese Reisenden mußten Papiere und Visa beschafft werden. Später, nach der Wiederaufnahme der deutsch-russischen diplomatischen Beziehungen, gingen Visa- und Unterstützungsgesuche, die an die russische Botschaft in Berlin gerichtet waren, zur Begutachtung an Thomas zurück, der mich in vielen Fällen mit der Prüfung beauftragte. In diesen Angelegenheiten traf ich mich mit dem Botschaftssekretär Mirow.
Die russische Botschaft in Berlins Paradestraße Unter den Linden wurde damals neu eingerichtet. Zur Einstellung des deutschen technischen Personals, Stenotypistinnen, Portiers, Wächter, Boten, suchte ich in der Berliner Parteiorganisation nach geeigneten Genossen. Ich ging auch einige Male in den Prachtbau, der natürlich von der politischen Polizei überwacht wurde, und sicherlich bin ich von den Polizisten gesehen worden. Doch wurde ich niemals behelligt, ich kam und verschwand stets so rasch und unauffällig wie möglich. In der Botschaft ging es damals noch recht gleichberechtigt zu. Als ich einmal zum Essen in die Kantine ging, standen der Botschafter und die Botschaftssekretäre mit ihren Tellern in einer Reihe mit dem Dienstpersonal vor der Essenausgabe.
Mirow und der Botschafter Krestinski wurden später in der Zeit der stalinistischen Verfolgungen erschossen.
Nur einige Mitglieder der Zentrale kannten Thomas. Ich glaube auch nicht, daß sie von der Existenz der Buchhandlung wußten. Zu Thomas Bekannten gehörten Paul Levi, Willy Münzenberg, August Thalheimer, auch Parteilose wie Franz Pfemfert und Wilhelm Herzog. Während seines Aufenthaltes in Berlin von 1919 bis Anfang 1933 hat Thomas niemals ein Parteibüro betreten und auch keine politische Versammlung besucht. Solange ich bei ihm arbeitete, ging ich für ihn zum Zentralkomitee und zu den Konferenzen des „Zentralausschusses“, einer Körperschaft, die aus den Mitgliedern des Zentralkomitees, den Sekretären, den Vorsitzenden der Parteibezirke und den Chefredakteuren der Parteipresse bestand.
Mit der Zeit erfuhr ich von Thomas Einzelheiten aus seinem Leben. Er war geborener Pole und war schon frühzeitig als Student in Verschwörerzirkel gegen den Zarismus hineingekommen. Bei dem Attentat auf den Gouverneur von Warschau, 1905, war er einer der Bombenwerfer. Hierbei war auch sein damaliger Freund Pilsudski, der spätere Staatschef Polens, beteiligt. Thomas konnte in der Panik nach dem Attentat fliehen. Er ging nach Deutschland, Frankreich und in die Schweiz, um weiter zu studieren. Er hatte sich den russischen Sozialdemokraten – Bolschewiki – angeschlossen, und während des Ersten Weltkrieges gehörte er in der Schweiz zur Gruppe um Lenin.
Thomas lebte jedoch nicht „versteckt“, isoliert. Ich entnahm aus gelegentlichen Erzählungen Ruth Österreich-Jensens, daß sie gemeinsam Konzerte, Theater und Kinos besuchten. Sein Hauptinteresse aber galt der Geschichte und der Psychologie. Thomas bereiste auch andere Länder, er war des öfteren von Berlin abwesend.
1928, als ich aus dem Gefängnis kam, lud er mich in seine Privatwohnung ein. Dadurch erfuhr ich überhaupt erst, daß er unter dem Namen Ruhmstein legal lebte. Ich möchte vorwegnehmen, daß Thomas sich nach dem Tode Lenins mit der Opposition gegen Stalin verband. Stalins Einladungen nach Moskau zu kommen, lehnte Thomas ab. Nach Hitlers Machtübernahme ging Thomas via Prag in die USA. Nach dem zweiten Weltkrieg 1950 erhielt ich aus New York ein Paket mit Obst. Die beiliegende Karte enthielt nur die Worte: „Gruß Thomas“. Er hatte irgendwie meine Adresse erfahren. Im Jahre 1954 erhielt ich eine Todesanzeige, daß er einem Herzinfarkt erlegen sei.
Die Sekretärin von Thomas, Ruth Österreich-Jensen war 1933 ins Exil nach Prag und später nach Paris geflüchtet. Bei Kriegsausbruch war sie gerade zu einem Besuch in Belgien und konnte das Land nicht verlassen. Als die deutschen Truppen im Frühjahr 1940 Belgien überrannten, lag sie schwer krank in einem Hospital. Ich erfuhr nach dem Kriege, daß sie der Gestapo denunziert, nach Berlin-Plötzensee gebracht und hier hingerichtet wurde.
Mein Ausscheiden aus der Bezirksleitung Berlin-Brandenburg der KPD bedeutete für mich nicht das Aufgeben der Parteiarbeit. So oft ich es einrichten konnte, war ich nun wieder abends in meinem früheren Stadtbezirk Moabit tätig. Mein Obdach hatte ich weiterhin in den Bezirken Friedenau und Schöneberg.
Die Diskussionen über die Märzaktion dauerten indessen an und auch die unaufhörlichen Verhaftungen von Parteimitgliedern und Arbeitern. In ganz Deutschland waren im Frühjahr 1921 zwischen 5.000 bis 6.000 revolutionär-sozialistische politische Häftlinge in den Gefängnissen. Eines Tages bestellte mich Thomas zur Buchhandlung und gab mir einen Brief, den er mit doppeltem Umschlag versehen hatte. Thomas sagte mir, daß ich diesen Brief Paul Levi in die Hand geben solle. Von dem Brief dürfe niemand etwas erfahren, insbesondere nicht das Zentralkomitee. Ich traf Levi noch am gleichen Nachmittag in seinem Büro an. Levi las den Brief in meiner Gegenwart. Nach dem Lesen fragte er mich, ob ich wüßte, wer der Schreiber des Briefes sei. Ich verneinte, er gab mir daraufhin den Brief. Es war ein Handschreiben Lenins in deutscher Sprache. Lenin schrieb in diesem Brief, daß er Levis Broschüre über die Märzaktion erhalten und gelesen habe. Thomas habe sie ihm geschickt. Lenin bedauerte im Brief nicht die Kritik Levis, sondern nur die Veröffentlichung und den Bruch mit der Partei.
Als ich drei Jahre später, im Sommer 1924, in Moskau war, führte mich Rackow im Kreml zu Lenins Arbeitszimmer und zeigte mir in der geschlossenen Abteilung, zu der nur wenige Funktionäre der russischen Partei Zutritt hatten, die Broschüre Levis mit den Randbemerkungen Lenins, die in der Sache Levi beipflichteten. Lenin gebrauchte ungefähr die gleichen Ausdrücke, wie er sie in seinem Brief an Levi geschrieben hatte.
Karl Radek gab auf dem dritten Weltkongreß der Kommunistischen Internationale, der im Juli 1921 in Moskau stattfand, zu, daß die KPD unvorbereitet in den Kampf gegangen war, Radek erklärte unter anderem: „Genossen, die Lehren der Märzaktion zeigen weiter, daß wir einen Apparat haben, der noch nicht auf den Kampf eingestellt ist. Die Organisationen, die besonders für den Kampf gebildet worden sind, die militärisch-politischen Abteilungen, haben sich als eine Illusion erwiesen. Sie existieren in Wirklichkeit noch nicht, und wenn sie irgendwo existiert hatten, so hatten sie die Waffen nur auf dem Papier; das wenige, das vorhanden war, war undiszipliniert. Sie wollten der Partei diktieren, anstatt die Befehle der Partei ausführen. Die Parteiorganisationen als Ganzes erwiesen sich als ein Apparat, der sich noch nicht auf den Kampf einstellen kann.“
Das Unangenehme an Radeks Kritik war, daß er die kritisierten Schwächen vorher gekannt hatte. Er, Bela Kun und andere Vertreter der Kommunistischen Internationale waren vorher über die Situation der Partei unterrichtet worden. Ich glaube, daß Radek vom Inhalt des Briefes Lenins an Levi gewußt hat, denn Radek wiederholte in seiner Rede einige Bemerkungen Lenins. In seiner Zustimmung zum Ausschluß Levis aus der Partei sagte Radek:
„Levi hat weniger durch seine Argumentation als durch die Art, wie er auftrat, gezeigt, daß zwischen ihm und der Partei keine organische Bindung besteht ... Er hätte sich mit der Partei und mit der Exekutive in Verbindung setzen können.“
Die Führung der KPD hatte seit Levis Ausscheiden der Mitbegründer des Spartakusbundes, Ernst Meyer, übernommen. Ich habe ihn gut gekannt, er war ein hochintelligenter, gebildeter Mann, seine Referate zeugten von seinem ungewöhnlichen Wissen, doch sie waren ohne jede Wärme, und er hat weder in Volksversammlungen noch in größeren Versammlungen der eigenen Partei die Überzeugungskraft ausgestrahlt, ohne die nun einmal ein Führer einer revolutionären Partei nicht denkbar ist. Er war damals auch schon von der Tuberkulose gezeichnet, an der er sterben sollte. Ernst Meyer hatte die Witwe des in München erschossenen Eugen Leviné geheiratet. Ernst Meyer war gewiß nicht feige, aber daß Levi mit seiner Kritik recht hatte, gab er nur im engeren Genossenkreis zu.
Der Geist der Kritik Levis an der Märzaktion beherrschte auch den Parteitag der KPD, der im August 1921 in Jena stattfand. Ich war für Thomas anwesend. Der Parteitag beschloß, was Levi zwei Jahre früher verlangt hatte, daß die Partei sich selbst finanzieren müsse. Friesland-Reuter, jetzt Generalsekretär der Partei, verlangte die endliche Durchführung des Beschlusses und erklärte ihn sogar zu einer Lebensfrage der Partei. Friesland-Reuter, der bisher Levi am heftigsten bekämpft hatte, ging jetzt in seinen Forderungen nach finanzieller und daraus folgender politischer Unabhängigkeit über Levi hinaus, er übernahm sogar den von den sogenannten „Ultralinken“ vertretenen Standpunkt, daß Sowjet Rußland durch die „Neue Ökonomische Politik“ Lenins „sich vom Kommunismus entferne“. Friesland-Reuter wurde bald als Generalsekretär abgesetzt. Er hat diese eigens für ihn geschaffene Position nur wenige Monate bekleidet. Er schlug zurück und kritisierte öffentlich die Zerrüttung der KPD und lehnte eine Einladung nach Moskau ab. Eine Woche später verließ Friesland-Reuter die Partei. Im Oktober 1921 war er noch zum Berliner Stadtverordneten gewählt worden, dieses Mandat behielt er.
Ich hatte ihn des öfteren aufgesucht, und wir hatten uns auch in Parteiversammlungen gesprochen. Er sagte offen, daß er sich nicht beiseite stellen lasse, sondern dort arbeiten werde, wo er nützlich sein könne. Er machte kein Hehl daraus, daß für ihn die revolutionäre Epoche beendet sei. Daher war auch die Mitgliedschaft in der von Levi gegründeten KAG (Kommunistische Arbeitsgemeinschaft) nur von kurzer Dauer. Friesland-Reuter trat noch vor Paul Levi und seiner Gruppe zur Sozialdemokratischen Partei über.
In der Biographie Reuters von Willy Brandt und Richard Löwenthal wird als weitere Ursache des Zerwürfnisses und des endgültigen Bruches mit der KPD die „Nebenregierung Helene Stassowas, der früheren Sekretärin Lenins“ und Vorgängerin Stalins im Sekretariat des russischen Zentralkomitees angegeben. Hier ist den Verfassern ein Irrtum unterlaufen: Helene Stassowa war um diese Zeit noch nicht in Berlin. Als sie nach Berlin kam, habe ich sie oft gesprochen. In der Partei trat sie wenig hervor, öffentlich überhaupt nicht. Sie mischte sich nicht direkt in die Politik des Zentralkomitees der Partei ein, sagte aber jedem, der sie über die politische Situation fragte, unverblümt ihre Meinung.
Das Ausscheiden Levis, Däumigs, Friesland-Reuters und anderer war sicherlich auch durch die gleichzeitige Wendung in der Politik Sowjet-Rußlands bedingt. Es kam jetzt auch ein fremder Stil in die Partei hinein. Wir Parteigenossen hatten bisher empfunden, daß die Partei „eine große Freundschaft“ sein müsse. Dieses freundschaftliche Verhältnis der Mitglieder untereinander erkaltete. Man redete mehr von der „Sache“ und der „Zukunft“ und verlor das persönliche und private Interesse aneinander.
Die Diskussionen und Zerwürfnisse innerhalb der KPD hatten eine sehr reale Grundlage. „Kommt es nicht zur Revolution, so wird die Reaktion siegen,“ war der Tenor. Lenin und Trotzki hatten seit Anbeginn der russischen Revolution die Auffassung vertreten, daß die russische Revolution zu Grunde gehen werde, wenn die Revolution in den westeuropäischen Ländern ausbliebe. Die Arbeiterrevolution im industriellen Westen war für die russischen Führer demnach die Lebensfrage der eigenen Revolution. Die russischen Revolutionsführer trieben nicht zum „Putschismus“, um deutsche Arbeiter zu opfern, aber sie überschätzten das revolutionäre Wollen der deutschen Arbeiterbewegung, wie sie schon seit Jahrzehnten die Partei Bebels überschätzt und große Dinge von ihr erwartet hatten. Doch die kämpferische Partei Bebels war längst die Partei der „kleinen Vorteile“ geworden, die in der „Weimarer Republik“ im Grunde die Politik des 4. August 1914 fortsetzte. Tatsächlich war es in erster Linie das Ausbleiben der deutschen Revolution, das Lenin zum Zurückstecken der sozialistischen Pläne zwang; ein Rückzug, der als „Neue Ökonomische Politik“ bezeichnet wurde. Die Konsequenz dieses Rückzuges im Inneren führte zur neuen auswärtigen Politik, so auch zum Vertrag von Rapallo. Das Schicksal der russischen Revolution hatte sicherlich einige Zeit zu einem großen Teil bei der KPD gelegen. Nachdem jede Hilfe von seiten der internationalen Arbeiterklasse ausblieb, gingen die Russen ohne Rücksichtnahme auf die Arbeiterparteien anderer Länder ihren eigenen Weg.
Thomas bestellte mich gegen Mitte März zur Buchhandlung und fragte mich, ob ich einen ebenso vertraulichen wie vielleicht gefährlichen Auftrag übernehmen wolle. Aus Moskau werde eine Delegation über Berlin nach Genua reisen. Diese müsse vor Anschlägen weißrussischer Emigrantenorganisationen geschützt werden. Die Delegation reise nicht „illegal“, sie werde auch mit der deutschen Regierung verhandeln und diese werde bestimmt auch die politische Polizei mit der Überwachung beauftragen. Doch der deutschen politischen Polizei sei nicht zu trauen, die weißgardistischen Organisationen hätten ihre Vertrauensmänner in der Polizei, und die Reise der russischen Delegation sei ihnen sicherlich bekannt. Natürlich sagte ich sofort zu, und ich suchte aus früheren Mitarbeitern des Nachrichtendienstes vier brauchbare, der Polizei unbekannte Genossen aus. Erster Mann war der bereits erwähnte Gustav Wricke aus Oberschöneweide, bei dem ich in den Tagen des Kapp-Lüttwitz-Putsches gewohnt hatte. Wir stiegen an der ostpreußischen Grenze in den Zug der Delegation aus Moskau ein. Die Nacht hindurch standen wir an den Wagenenden des Schlafwagens des fahrplanmäßigen Schnellzuges. Niemand von uns war bewaffnet, wir hätten bei einem eventuellen Attentatsversuch nur warnen und den Attentätern in die Arme fallen können. Der Zug kam ohne Zwischenfall in Berlin an, und wir verschwanden unauffällig vom Bahnhof, als die Delegation empfangen wurde. Die Russen blieben einige Tage in Berlin und führten hier schon Verhandlungen mit Beauftragten der deutschen Regierung. Wir überwachten inzwischen den Anhalter Bahnhof, von wo aus die Delegation weiterreisen sollte. Meine vier Genossen fuhren bis zur Schweizer Grenze mit, ich blieb zurück.
Später, in Moskau, erzählte mir Rackow, daß der frühere sozialrevolutionäre Terrorist Boris Sawinkow in seinen weiteren Erinnerungen, die er im Gefängnis in Moskau geschrieben habe – ich weiß nicht, ob diese jemals veröffentlicht wurden –, erwähnt, daß er auf dem Anhalter Bahnhof einen Anschlag geplant hatte. „Es trieben sich junge Leute herum, die mich störten,“ soll Sawinkow geschrieben haben, „die Burschen kamen mir dauernd in die Quere, daß ich nervös wurde und nicht dazu kam, meinen Plan auszuführen.“ Sawinkow und seine Leute müssen sich so unauffällig benommen haben wie wir, denn ich hatte auf dem Bahnhof nichts Verdächtiges bemerkt.
Bei einem täglichen Treffen sagte mir Ruth Österreich-Jensen, daß Thomas mich dringend sprechen möchte. Als ich bei ihm war, begann er sofort, ich solle prüfen, ob eine Möglichkeit bestehe, Max Hoelz zu befreien. Ich erwähnte Max Hoelz bereits. Er war eine in Deutschland einmalige revolutionäre Gestalt. Max Hoelz war im westlichen Sachsen, in Falkenstein im Vogtland zu Hause, einer kleinen Stadt mit Textilindustrie, die in der Hauptsache Heimarbeiter beschäftigte. Hier lebten die Ärmsten der Armen immer am Rande des Verhungerns und wenn es einmal Fleisch gab, so war es Hundefleisch. Im Vogtland gab es nämlich noch Hundeschlächtereien. Hoelz war damals 31 Jahre alt. Er war ein Rebell nach dem Herzen der armen Bevölkerung, „tapfer und sagenumwoben, ein stattlicher Mann“. Am Ende des Krieges war Hoelz zum Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrates gewählt worden und hatte seine eigene Organisation gebildet. Er ließ in Falkenstein Lebensmittel an die arme Bevölkerung verteilen, die die Stadtverwaltung und wohlhabenden Bürger und Unternehmer bezahlen mußten. Während des Kapp-Lüttwitz-Putsches beherrschte Hoelz das Vogtland. In seinem Machtbereich wurden alle bürgerlichen Einwohnerwehren und die Polizei, sofern diese sich ihm entgegenstellten, entwaffnet. Putschende Truppen kamen nicht ins Vogtland. Es kam daher auch nirgends zu Blutvergießen. Hoelz war aber nicht nur der Schrecken des Bürgertums, sondern auch der Bürokraten der Arbeiterparteien, weil er jede Parteieinmischung zurückwies.
Nach Beendigung des Kapp-Lüttwitz-Abenteuers wurde das Vogtland von Reichswehr und Freikorps umstellt, einzelne Dörfer wurden mit Artillerie beschossen und zahlreiche Einwohner getötet. Hoelz flüchtete in die Tschechoslowakei. Eine Auslieferung lehnte die tschechische Regierung ab, da keinerlei kriminelle Vergehen vorlagen.
Ein Jahr später, zu Beginn der sogenannten Märzaktion, kam Hoelz aus dem Exil zurück und ging ins Kampfgebiet Mitteldeutschland. Er bildete rasch wieder eine eigene Kampforganisation, die selbständig an den Kämpfen teilnahm. Bei der Besetzung eines Gutshofes wurde der Gutsbesitzer erschossen. Wer den Schuß abgegeben hatte, ist niemals geklärt worden. Hoelz als Anführer der Gruppe wurde zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Anführer von Freikorps, die während des Kapp-Lüttwitz-Putsches zahlreiche Menschen erschossen oder erschlagen hatten, wurden nicht vor Gericht gestellt. Die KPD erklärte daher Max Hoelz als ein Opfer der Klassenjustiz. Hoelz war Mitte April 1921 in Berlin verhaftet worden, einige Häuser vor der Buchhandlung Franz Pfemferts, den er besuchen wollte. Die Buchhandlung wurde von der politischen Polizei überwacht. Von der Amnestie, die nach der Ermordung Rathenaus von der Reichsregierung erlassen wurde, wurde Hoelz ausgenommen. (Auch Bayern lehnte eine Amnestierung der an der Räterepublik Beteiligten ab.)
Thomas sagte mir, daß er sich bereits an Mitglieder des Zentralkomitees der Partei gewandt habe, doch diese hätten erklärt, daß die Partei keinen Weg wüßte, Hoelz freizubekommen. Ein Wiederaufnahmeverfahren sei schon eingeleitet, aber es könnte jahrelang dauern und sein Ausgang sei ungewiß.
Ich organisierte den Befreiungsversuch sehr sorgfältig. Hoelz saß um diese Zeit im Gefängnis Berlin, Alt Moabit. Er konnte jeden Tag abtransportiert werden. Die Sache eilte also. Ich hatte als beste Möglichkeit eine Vorführung des Gefangenen zum Wehrminister in der Bendlerstraße erwogen. Es kam öfters vor, daß in bestimmten Verfahren Gerichtsoffiziere sich Gefangene zu Vernehmungen in die Bendlerstraße vorführen ließen. In diesen Fällen wurden die Gefangenen von zwei Kriminalbeamten mit einem Vorführungsbefehl zur Bendlerstraße und wieder zurück gebracht.
Den Wortlaut des Vorführungsbefehls und den Briefbogen des Wehrministeriums besorgte mir der Leutnant, den ich bereits erwähnte. Die Zimmernummer entnahm ich dem Telefonbuch, und das Aktenzeichen lautete „Hoelz“ und die Jahreszahl.
Aus dem „Ordnerdienst“ der Partei hatte ich fünf Genossen ausgesucht, die sofort begeistert bereit war, mitzumachen. Zweien gab ich je einen Ausweis, die noch Noskes Unterschrift trugen und je eine Kriminalbeamten-Marke. Zwei Genossen sollten die gemieteten Autos fahren. Das eine Auto fuhr mit zwei „Kriminalbeamten“ vor dem Gefängnis Alt Moabit vor und wartete in Richtung Westen stehend, das zweite hielt einige hundert Meter weiter an der Ecke Stromstraße. In diesem Wagen wartete ich. Hoelz sollte hier umsteigen.
Zur Zeit der Vorsprache der beiden „Kriminalbeamten“ beim Gefängnisvorsteher hatte es der Leutnant in der Bendlerstraße so eingerichtet, daß er von 10 bis 11 Uhr vormittags in der Nähe des Telefons sein konnte. Der Leutnant hatte selbst den Tag und die Uhrzeit als die am besten geeignete angegeben. Er konnte um diese Zeit allein im Zimmer sein, falls der Gefängnisvorsteher anrufen sollte, um sich zu vergewissern, daß die Vorführung in Ordnung gehe. Da Hoelz schon verurteilt war, war der Untersuchungsrichter nicht mehr zuständig.
Alles funktionierte auf die Minute. Der Vorsteher rief nicht an. Er gab die Einwilligung und geleitete die beiden „Kriminalbeamten“ zur Zelle Hoelz. Hoelz wurden Handschellen angelegt, auch „echte“, und er wurde mit der vorgeschriebenen Formel darauf aufmerksam gemacht, daß er keinen Fluchtversuch machen dürfe. Auch der Vorsteher verwarnte Hoelz noch einmal, keine Schwierigkeiten zu machen. Hoelz hatte seine Zelle im sichersten Parterreflur, nur wenige Zellen von der ersten Gittertür entfernt, hinter der Tag und Nacht ein Wächter saß. Diese Gittertür war die erste Tür im inneren Flügel, nach dieser Tür mußten noch mehrere Türen passiert werden. Hoelz ging erst schweigend mit, die Hände nach vorn in Handschellen, zu beiden Seiten gingen meine „Kriminalbeamten“.
Einige Schritte vor dem Gitter ließ sich Hoelz der Länge nach zu Boden fallen, erfaßte die Gitterstäbe und begann zu schreiten: „Ich bin Hoelz, man will mich auf der Flucht erschießen.“ Er schrie so laut, daß es durch den ganzen Flur schallte, die beiden Genossen versuchten vergeblich, seine Hände vom Gitter zu lösen, und redeten auf ihn ein, mitzukommen. Hoelz war ein athletischer Mann von großer Kraft, er war stärker als jeder der beiden „Kriminalbeamten“. Es gelang ihnen nicht, seine Hände vom Gitter loszureißen. Hoelz schrie währenddessen immer wieder, „Man will mich ermorden!“ Andere Häftlinge in den Zellen begannen unruhig zu werden, sie pfiffen und schlugen an die Zellentüren. Es entstand ein großer Lärm in dem Gefängnis.
Dem Gefängnisvorsteher kamen jetzt Bedenken, er rief mehrere Wächter von den Fluren herbei und ließ Hoelz in die Zelle zurückführen. Meine beiden „Kriminalbeamten“ schilderten mir nachher, daß sie in Schweiß gebadet und nervös waren. Der Vorsteher ersuchte die beiden, dem Vernehmungsoffizier zu bestellen, er möge Hoelz hier im Gefängnis vernehmen. Meine beiden „Kriminalbeamten“ erhielten ihren Vorführungsbefehl zurück und wurden hinaus geleitet. Sie kamen mit dem Wagen zur verabredeten Ecke und erzählten mir die ganze Geschichte. Sie zitterten noch am ganzen Körper vor Aufregung. So mußte ich allein zu der Wohnung fahren, in der Thomas wartete.
Anderntags ging ich zu der Fabrik, in der Frau Hoelz arbeitete und erwartete sie nach Arbeitsschluß. Ich erzählte ihr von dem mißlungenen Befreiungsversuch und erklärte ihr, daß es nicht möglich gewesen war, sie vorher einzuweihen.
Ich kann nicht sagen, ob der Gefängnisvorsteher sich nachträglich erkundigt hat, als kein Offizier zur Vernehmung kam. Der Leutnant blieb unbehelligt. Es kam auch nichts in die Presse. Hoelz wurde aber einige Tage später in das Zuchthaus in Münster/Westfalen überführt und einige Zeit darauf wurde er wiederum umquartiert und kam ins sicherste Zuchthaus nach Breslau.
Es blieb nicht bei diesem ersten erfolglosen Versuch, Hoelz zu befreien, zwei weitere Versuche mißglückten ebenfalls.
Einige Wochen später sagte mir Thomas, daß er die Sache Hoelz noch einmal mit mir besprechen müsse. Er ließ mich einige Briefe lesen, die Hoelz im Zuchthaus Breslau an den Moskauer Sowjet und an die russische Regierung geschrieben hatte. Frau Hoelz hatte diese Briefe herausgeschmuggelt und sie der russischen Botschaft abgegeben. Hoelz wandte sich niemals an die Zentrale der KPD. Er war gar nicht Parteimitglied.
Die Russen liebten diesen Typ des aktiven Revolutionärs, von dem sie selbst sagten, daß er in der ersten Phase der Revolution unschätzbare Dienste leiste, in der zweiten Phase aber sehr schädlich sei, weil er sich nicht in den nun notwendigen Aufbau einfügen kann oder will. Sie ernannten Hoelz zum Ehrenmitglied des Moskauer Sowjets. Als Ehrenmitglied des Moskauer Sowjets adressierte er seine Briefe direkt an diesen und an die russische Regierung. Die Briefe waren in den gröbsten Ausdrücken geschrieben und enthielten absurde Beschuldigungen gegen das Zentralkomitee der KPD. „Sie lassen mich im Stich, weil sie mich fürchten“, schrieb er. In einem Brief hieß es: „Die Zentrale weiß, daß ich sie absetzen werde, wenn ich frei komme, darum läßt sie mich im Zuchthaus umkommen.“ In einem weiteren Brief verlangte Hoelz die „Kriegserklärung an die deutsche Regierung, falls diese ihn nicht freilasse“. Es war offensichtlich, daß Hoelz den „Gefängniskoller“ hatte. Hoelz war geschickt genug, in seinen Briefen nur die Mitglieder des deutschen Zentralkomitees anzugreifen und nur sie der Feigheit und Uninteressiertheit zu beschuldigen. Gleichzeitig betonte er in den Briefen seine Ergebenheit gegenüber dem revolutionären Rußland. Das machte anscheinend Eindruck auf Moskau. Der Moskauer Sowjet und die Regierung aber gaben die Briefe Hoelz an das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale mit der Weisung, sich positiv mit der Sache zu befassen. Das Exekutiv wiederum schickte die Briefe an Thomas. Die Sowjet-Regierung hatte zur Zeit keine „Austauschgefangenen“ vorrätig, und schließlich war Hoelz deutscher Staatsbürger.
Ich fuhr zu Hegewisch, dem Rechtsanwalt von Max Hoelz, zeigte ihm einige Kopien der Briefe Max Hoelz. Hegewisch, der ebenfalls ein überzeugter Sozialist war, hatte auch einige Briefe im gleichen Stil von Hoelz erhalten und er sagte, daß Hoelz ihm gegenüber bei einem Besuch im Gefängnis die gleichen Vorwürfe und Forderungen erhoben habe. „Mit Recht“, rief Hegewisch, der plötzlich in Zorn geriet und zu meinem Erschrecken Hoelz in allen Punkten Recht gab und auf das Zentralkomitee der KPD zu schimpfen begann. Er kannte einige Mitglieder persönlich, er war auch schon einige Male beauftragt, Mitglieder der Partei vor Gericht zu vertreten. Die Sache Hoelz schien den Anwalt sehr mitgenommen zu haben. Es sollte noch schlimmer kommen.
Ich vereinbarte mit dem Anwalt, zusammen nach Breslau zu fahren und zu Hoelz ins Gefängnis zu gehen. Wir trafen uns einige Tage später in Breslau in einem Hotel und berieten, wie es einzurichten wäre, daß ich Hoelz allein sprechen könne, während er Hegewisch, sich mit dem Gefängnisdirektor unterhalten sollte. Hegewisch sagte, daß für mich keine andere Möglichkeit bestehe, an Hoelz einige vertrauliche Worte zu richten.
Am folgenden Morgen gingen wir zum Gefängnis und wurden zum Direktorzimmer geführt. Der Direktor kannte Hegewisch bereits. Ich mußte mich ausweisen, und wir verhandelten um Sprecherlaubnis. Der Direktor machte Schwierigkeiten. Hegewisch sollte in Gegenwart des Direktors mit Hoelz sprechen, aber für mich läge von der Strafvollzugsbehörde keine Genehmigung vor, etc. Nach ergebnislosem Verhandeln sagte ich, daß ich zur Hauptpost gehen und das preußische Justizministerium in Berlin anrufen möchte. Das war dem Direktor recht. Hegewisch und ich verliessen das Gefängnis. Unterwegs sagte ich Hegewisch, daß ich mich nur mit ihm noch einmal beraten möchte, natürlich könnte ich das Ministerium nicht anrufen, wir müßten bluffen. Ich schlug vor, es zu riskieren, dem Direktor zu sagen, ich hätte telefoniert, er könne sich ja überzeugen und noch einmal anrufen. Wir gingen nach einer Stunde ins Gefängnis zurück. Der Direktor verzichtete auf eine Rückfrage in Berlin. „So ein Anruf ist viel zu teuer, wir müssen sparen,“ sagte er. Er ließ Hoelz nicht ins Sprechzimmer kommen, sondern er geleitete uns zur Zelle von Hoelz. Mir war gar nicht wohl zumute, als die verschiedenen Türen hinter uns wieder verschlossen wurden und zwei Gefängniswärter uns begleiteten. Ich wurde ja noch steckbrieflich gesucht. Man merkte mir aber keine Nervosität an.
Im Gefängnis war völlige Stille. Die meisten Gefangenen waren wohl in den Arbeitsräumen, nur die Einzelhaftgefangenen waren in den Zellen geblieben, so auch Hoelz. Die Zelle Hoelz lag im obersten, fünften Stockwerk. Kaum hatte der Direktor die Zelle aufgeschlossen, da fielen sich Hegewisch und Hoelz in die Arme. „Du gefangener Löwe“, schrie Hegewisch mehrmals, Hoelz schrie: „Mein einziger Freund“. Der Direktor sagte zu mir: „Nun sehen Sie, was ich Ihnen gesagt habe, jeder Besuch regt Hoelz nur auf.“ Mir schien, daß Hegewisch geistig ebensowenig beisammen war, wie Hoelz. Als die beiden sich etwas beruhigt hatten, sagte der Direktor zu Hoelz, daß er mir die gewünschten Auskünfte geben möge. Hegewisch stellte mich Hoelz vor und sagte, er solle volles Vertrauen haben. Als nun Hegewisch, wie verabredet, mit dem Direktor sprach, um ihn abzulenken, flüsterte ich Hoelz zu, daß ich vom Vertreter der Komintern beauftragt sei, mit ihm zu sprechen. In diesem Moment fing Hoelz an zu schreien, „verdammte Schweinehunde“, „Halunken“, und so fort. Der Direktor war erschrocken. „Wir müssen abbrechen, ich habe Sie gewarnt, er kriegt seinen üblichen Tobsuchtsanfall.“ Die beiden Wärter, die etwas abseits gestanden hatten, stürzten herbei und nachdem Hegewisch und Hoelz einander wieder in die Arme gefallen waren und Hegewisch wieder „gefangener Löwe“ geschrien hatte, wurde die Zelle abgeschlossen. Hoelz rief uns unverständliche Worte nach, bis wir aus dem Bau waren. Ich atmete auf als ich die verschiedenen Türen wieder passiert hatte und vor dem Tor des Zuchthauses stand.
Ich eilte zum Bahnhof und zu Hause angekommen, schrieb ich einen ausführlichen Bericht über alles Erlebte. Thomas gab ihn an die erwähnten Stellen weiter. Einige Tage später ging ich auch wieder zum Arbeitsschluß zur Fabrik, in der Frau Hoelz arbeitete, um ihr in stark gemilderter Form von meinem Besuch in Breslau zu erzählen.
Es vergingen weitere Wochen als Thomas mich wiederum ansprach: „Die Sache mit Hoelz macht mir Magengeschwüre, wir müssen uns noch einmal mit der Sache befassen.“ Thomas sagte, daß diesmal Frau Hoelz mit einer Gruppe Hoelz-Anhänger die Sache selber machen wolle. Er gab mir einen Brief, den Frau Hoelz wieder in der russischen Botschaft abgegeben hatte. Sie verlangte hierin die runde Summe von fünftausend amerikanischen Dollars in kleinen Scheinen und niemand solle sich in die Organisation der Befreiung einmischen. Ich traf mich mit Frau Hoelz. Sie sagte mir, daß sie ihre Arbeitsstelle aufgegeben habe, um sich ganz der Befreiung ihres Mannes zu widmen. Ich teilte ihr mit, daß sie die Summe erhalten werde. Einige Tage darauf gab mir Thomas ein Päckchen mit 5.000 Dollars. Das war damals ein phantastisch hoher Betrag. Mit der nötigen Vorsicht traf ich mich mit Frau Hoelz in einem Café. Sie ging in die Toilette, um das Päckchen zu öffnen und die Scheine zu zählen. Eine Quittung sollte ich ablehnen. Ich sagte ihr, daß man volles Vertrauen zu ihr habe und daß sie nach der Aktion den Chef selber sprechen könne. Sie dürfe aber nicht noch einmal zur russischen Botschaft gehen. Alle Briefe solle sie mir geben, ich gab ihr eine Deckadresse.
Frau Hoelz hatte die Besuchserlaubnis für ihren Mann in Breslau bereits erhalten. Wir hörten nun mehrere Wochen nichts von ihr. Endlich gab Frau Hoelz bei der Deckadresse die Mitteilung für mich ab, daß sie mich sprechen möchte. Wir trafen uns, und sie gab mir das Päckchen mit den Dollarnoten zurück und eine Abrechnung. Sie hatte nur 91 Dollars verbraucht. Sie erzählte mir, daß die Gruppe zahllose Pläne geschmiedet habe, zweimal nach Breslau gefahren sei, und daß sie sich jedoch nicht über die Art der Befreiung habe einigen können. Frau Hoelz erzählte weiter, daß sie selber bei ihrem Besuch im Zuchthaus einen schweren Schock erlitten habe; Hoelz sei sehr eifersüchtig gewesen und habe sie und die Gruppe unflätig beschimpft. Sie war ziemlich verstört und sagte abschließend, daß sie mit Hoelz und seiner Sache nichts mehr zu tun haben möchte. Von den Dollars habe sie weder Hoelz noch der Gruppe etwas gesagt.
Ich berichtete Thomas und er schickte mich noch einmal zu Frau Hoelz, um ihr Geld zu bringen, damit sie in aller Ruhe nach einer passenden Arbeit suchen könne.
Ungefähr zwei Jahre später begegnete ich Frau Hoelz zufällig auf der Strasse in Berlin. Sie sagte mir, daß sie nicht mehr Hoelz heiße. Sie habe sich scheiden lassen und einen Kollegen geheiratet, den sie auf ihrer Arbeitsstelle kennengelernt hatte. Sie sagte, sie werde eine Familie haben und werde für diese sorgen. Diese Frau Hoelz habe ich in bester Erinnerung; sie war eine tapfere und intelligente Frau.
Später, als die KPD-Propaganda aus Hoelz eine Heldenfigur gemacht hatte, wurde eine Traute X. beauftragt, sich um Max Hoelz zu kümmern. Mit dieser Frau schloß Hoelz im Gefängnis eine neue Ehe. Traute Hoelz sprach nun in zahlreichen Versammlungen in ganz Deutschland über den Helden und Rebellen Max Hoelz. Als Hoelz 1928 freikam, ging er ohne sie nach Moskau.
Die Mehrheits-Sozialdemokratische Partei hatte sich mittlerweile auf ihrem Parteitag in Görlitz 1921 ein neues Programm gegeben, in dem beteuert wurde, daß sie weiterhin zu ihrem, im Erfurter Programm niedergelegten Bekenntnis stehe, daß sie für Abschaffung der Klassenherrschaft und der Klassen selbst sei und forderte unter anderem:
„Der Grund und Boden, die Bodenschätze sowie die natürlichen Kraftquellen, die der Energieerzeugung dienen, sind der kapitalistischen Ausbeutung zu entziehen und in den Dienst der Volksgemeinschaft zu überführen ... gesetzliche Maßnahmen gegen das gänzliche Unbenutztlassen landwirtschaftlicher Bodenflächen ... Kontrolle des Reiches über den kapitalistischen Besitz an Produktionsmitteln, vor allem über die Interessengemeinschaften, Kartelle und Trusts.
Revision des Friedensvertrages von Versailles im Sinne wirtschaftlicher Erleichterung und Anerkennung der Nationalen Lebensrechte.“
Die Rest-Unabhängige Sozialdemokratische Partei besaß einige ausgezeichnete Zeitungen, aber die Partei hatte, nachdem der linke Flügel zur KPD übergetreten war, keine Anziehungskraft mehr auf die Arbeitermassen. Sie hatte sich auch von dem Gedanken des politischen Rätesystems als der Grundlage der proletarischen Herrschaft mehr und mehr gelöst. Bei Führern und Mitgliedern wuchs die Neigung, sich den Mehrheits-Sozialdemokraten anzuschliessen, andererseits gab es noch zahlreiche Stimmen, die zur Kommunistischen Partei neigten.
Der Parteitag der Rest-Unabhängigen Sozialdemokraten war deshalb der Kommunistischen Internationale sehr interessant. Dieser fand wieder im Stammhaus der USPD, im berühmten Leipziger Volkshaus statt, das während des Kapp-Lüttwitz-Putsches von den Putschtruppen niedergebrannt worden war. In den vergangenen zwei Jahren war es neu entstanden. Ich konnte hier viele Persönlichkeiten der internationalen Arbeiterbewegung sehen und sprechen. Bei den Verhandlungen am zweiten Tage saß ich auf der Gasttribüne neben Wilhelm Herzog und Franz Pfemfert. Als ein Referent eine abfällige Bemerkung gegen Sowjet-Rußland machte, antwortete Pfemfert mit einem gepfefferten Zwischenruf, und als Herzog und ich lachten, kam der Saalschutz und wies uns aus dem Saal. Wir gingen in ein Café und diskutierten noch einige Stunden über die politische Entwicklung in Deutschland. Ich hatte bisher niemals so pessimistische Äußerungen über den deutschen Menschen und seinen deutschen Staat gehört, wie von diesen beiden parteilosen Intellektuellen. Ein Jahrzehnt später hatte sich aller Pessimismus bewahrheitet.
Der Leipziger Parteitag der Rest-USPD sollte ihr letzter sein. Einige Monate später, im September, trat sie zur Mehrheits-Sozialdemokratischen Partei über. Trotzdem verlor die vereinigte Partei bei den nächsten Wahlen über zwei Millionen Stimmen.
Ledebour, der Mitbegründer der USPD im Ersten Weltkrieg, schloß sich nicht den Sozialdemokraten an, er bildete mit wenigen verbliebenen Anhängern eine kleine Gruppe, die bis zum allgemeinen Zusammenbruch der Arbeiterparteien 1933 selbständig blieb.
Wilhelm Herzog hatte ich durch Waldemar Rackow kennengelernt, als Rackow noch bei Thomas tätig war. Wir waren eines Tages verabredet, und als wir uns trafen, sagte er, daß er einen Besuch bei Wilhelm Herzog machen müsse, ich möge ihn begleiten. Wir blieben über zwei Stunden bei Herzog, und ich konnte seine einmalige Voltaire-Bibliothek bewundern. Herzog war sicherlich der hervorragendste deutsche Voltairekenner, und er besaß wohl die vollständigste private Sammlung der Schriften Voltaires. Er erzählte uns, wie mühsam er die einzelnen Bände in aller Welt zusammengekauft hatte.
Herzog und Pfemfert traf ich gelegentlich wieder; nach 1933 in der Emigration in Paris, Basel, Lissabon. Als Herzog aus dem Exil wieder nach München zurückgekehrt war und kurz vor seinem Tode seinen 75. Geburtstag feierte, machte Erich Kästner in seiner Gratulationsrede den freundlichen Scherz, er hoffe, daß die Herzog-Wilhelm-Straße in München bald in Wilhelm-Herzog-Straße umbenannt werde.
Zuletzt aktualiziert am 11. Januar 2023