Victor Serge

 

Die sechzehn Erschossenen

 

I
Der Prozeß Sinowjew–Kamenjew–Smirnow ...
(Teil I)

Terror in der stalinistischen Partei

Verfolgen wir die Ereignisse ganz genau, damit wir sie besser verstehen können. In einem Artikel über Stalins Verfassungsentwurf, der in Wirklichkeit die Sowjets abschafft und das politische Monopol der Partei durch eine allgemeine Wahl nach dein Beispiel des faschistischen Italiens einführt, richtet die Prawda am 5. Juni in vollem Einklang mit der bevorstehenden Verfassung seltsame, schrecklich konkrete Drohungen an die Oppositionellen innerhalb und außerhalb der Partei:

... Die Überreste der konterrevolutionären Gruppen, die Reste der Weißen jeglicher Art und vor allem die vielen trotzkistisch-sinowiewistischen Gruppen haben ihre niederträchtige Spionage, ihre Komplotte und Terroraktionen nicht aufgegeben. Mit starker Hand werden wir weiterhin die Feinde des Volkes, die trotzkistischen Monster und Furien vernichten, mögen sie noch so geschickt getarnt sein.

Während man der Welt die demokratischste Verfassung („die menschlichste“ sagt Romain Rolland in Vendredi, 26.6.36) ankündigt, bereitet man offensichtlich schwere Schläge gegen die Opposition vor. Alles geht bürokratisch vonstatten, nach einem genauen Plan, der Tag für Tag auf formale Direktiven hin ausgeführt wird. Die Verhaftungskampagne innerhalb der stalinistischen Partei beginnt am 1. August (1936). Die Zeitungen kündigen jeden Tag die Aufdeckung neuer Oppositionsherde an, und wir wissen aus Erfahrung, daß wir, wenn von 5 oder 10 Verhaftungen ohne genaue Zahlenangaben die Rede ist, diese Zahlen mit 5, 10 wenn nicht sogar 100 multiplizieren müssen, um annähernd die Zahl der in Wirklichkeit vorgenommenen Verhaftungen zu wissen. Am 3. werden vier Redakteure der Swesda (Der Stern), einem kommunistischen Organ in Weißrußland, verhaftet. Am 4. erfolgen zahlreiche Verhaftungen in Charkow, am 6. in Dnjepropetrowsk, am 7. in Leningrad, wo die „Trotzkisten“ die Führung des Rayon Wiborg erobert hatten. Am 8. und 9. Festnahmen in Orel und Kursk. Am 11. werden zahlreiche junge Kommunisten in Minsk verhaftet, die den sowjetischen Zeitungen zufolge so gefährlich und unbesonnen waren, daß sie die Möglichkeit diskutierten, den Sozialismus in einem Land zu errichten. Am 12. die Festnahme mehrerer Parteiführer in der Wolgadeutschen Republik. Der Chef des Propagandadienstes des Komitees der Republik gehört zu den Verdächtigen. Die Zeitungen berichten von Repressionsmaßnahmen gegen Bürger, die anläßlich der Diskussion über den Verfassungsentwurf konterrevolutionäre, das heißt kritische Gedanken geäußert haben. Die offene Diskussion über den Entwurf scheint für viele eine Falle gewesen zu sein, die sie auf direktem Wege ins Gefängnis gebracht hat. Die Prawda erklärt schließlich den kürzlich erfolgten Selbstmord des Sekretärs der armenischen KP Khandjian, der es abgelehnt haben soll, Sanktionen gegen die konterrevolutionären Elemente in seiner Partei zu verhängen; er war ihr Komplize. Verhaftungen von kommunistischen Technikern aus dem Gebiet Moskau-Leningrad. Am 13. werden elf Regierungsmitglieder, Schriftsteller und tadschikische Parteifunktionäre verhaftet. Weitere Verhaftungen in Minsk innerhalb des hohen Lehr- und Zensurpersonals. Zu den in Stalinabad (Tadschikistan) verhafteten Funktionären gehört der Redakteur des Parteiorgans und der mit den wichtigsten Aufgaben betraute Untersuchungsrichter. Am 14 brechen wie durch einen Donnerschlag tödliche Gefahren über die Kreise der alten Parteikader herein. Die Presseagentur Tass veröffentlicht ein Kommuniqué der Staatsanwaltschaft, in dem gegen sechzehn Personen, unter denen sich mehrere ehemalige Parteiführer und Oktoberkämpfer befinden, die schreckliche Anklage des Terrors ausgesprochen wird. Sinowjew, Kamenjew, Bakajew, Ewdokimow, Iwan Nikitsch Smirnow, Mratschowski, Ter-Vaganian, Dreiser, Goltzmann und sieben andere, weniger bekannte Männer müssen am 19., in fünf Tagen, vor dem Militärausschuß des Obersten Gerichtshofes erscheinen. Man versteht sofort, aber man wagt es nicht zu glauben, denn die Anklage erscheint so entsetzlich und der Tod ohne Worte so unglaublich ...

Am 16. August: Verhaftung des Sekretärs der Redaktion der Wisti (Die Nachrichten) in Kiew. Die Zeitungen ändern ihren Ton. Es sind nun keine trotzkistischen Konterrevolutionäre mehr, die man in allen Redaktionen und Parteibüros aufspürt, sondern „Terroristen“, „Agenten des Feindes“, „Spione“. Am selben Tag zahlreiche Komplotte“ in fast allen Regierungen der Föderative n Republiken des Kaukasus und Zentralasiens. Säuberung der Regierungskreise, obwohl alle stalintreu, so stalintreu man überhaupt sein kann! Ebenfalls am 16. Verhaftungen in Baku (Aserbeidschan). Der Redakteur von Bakinski Rabotschi (Der Arbeiter von Baku) scheint ein Verräter zu sein. Am 19. offizielles Komminiqué über die trotzkistisch-terroristischen Verschwörungen in Aserbeidschan, Georgien und Armenien. Zahlreiche Verhaftungen einflußreicher Persönlichkeiten und insbesondere alter Parteimitglieder: Stalins Kousin Dimitrij Dschugasdiwili wird festgenommen. Verhaftungen ehemaliger Führer der Roten Armee wie Klian Kliawin, Verteidigungskommissar in Petrograd während des Bürgerkrieges. Verhaftungen in Gorki (Nischnij-Nowgorod), wo der Direktor des Pädagogischen Instituts ein „Weiß-Trotzkist“ war und einer geheimen Organisation vorstand.. Das mag glauben, wer kann! Am 17. ein Komplott in Turkmenistan. Unter den Betroffenen – ich meine Verhafteten – befinden sich der Chef des Propagandadienstes des ZK der turkmenischen Partei, der Direktor des Medizinischen Instituts von Asdichabad und der Direktor einer Textilfabrik. Verhaftungen in Tula (ein Fabrikdirektor und mehrere Parteiführer).

Der Prozeß beginnt am 19. Man stellt fest, daß die gesamte alte Partei, die bolschewistische Partei zu Lenins Zeiten, schwer belastet ist. Im Laufe der Verhandlung erfährt man, daß in der Ukraine eine Verschwörung aufgedeckt worden ist und daß die ältesten Soldaten der Revolution in diesem Lande Verräter sind. Man beschuldigt den ehemaligen Sekretär der sowjetischen Gesandtschaft in Wien und Warschau, jenen Kotzjubinski des Mordes, der wie durch ein Wunder dem Gemetzel des Bürgerkrieges entkommen ist und zusammen mit Eugenie Bosch und Pjatakow die Ukrainische Sowjetrepublik gegründet hat.

Alle ehemaligen Mitglieder aus Lenins Politbüro scheinen Komplizen der Terroristen zu sein. Rykow, nach Lenin Vorsitzender des Rates der Volkskommissare; Tomski, Gründer und 12 oder 13 Jahre lang Führer des Zentralrates der Gewerkschaften der UdSSR; Bucharin, der berühmteste Theoretiker der Partei, heute Redakteur der Iswestija; und sogar Radek und Pjatakow werden als Verbrecher vor Gericht gestellt. Man erfährt, daß Sokolnikow im Gefängnis sitzt und mit der Todesstrafe rechnen muß. Sokolnikow ist einer der Überlebenden des bolschewistischen Zentralkomitees, das die Oktoberrevolution gemacht hatte. Er unterzeichnete den Friedensvertrag von Brest-Litowsk. Er war sowjetischer Botschafter in London und stellvertretender Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten. Ebenfalls verhaftet ist Serebrjakow, ehemaliger Sekretär des Zentralkomitees und alter Bolschewik. Des weiteren ist der General der Roten Armee Witowt Putna, Militärattaché in London, angeklagt. Gajewski, ein ehemaliger tapferer Soldat der Roten Armee und späterer Fabrikdirektor; der General Schmidt, sehr bekannt in der Ukraine, wo er zusammen mit jungen Arbeitern, ebenfalls Juden wie er, das legendäre Regiment der Roten Kavallerie gegründet hatte; der alte Bolschewik Gertik aus Leningrad; der alte Bolschewik Grunstein, der unter dem Ancien Régime im Zuchthaus saß (seit langem echter Oppositioneller, der drei Jahre lang verfolgt wurde); die berühmten Historiker Seidel und Friedland; sie alle sind des Terrorismus beschuldigt, was nach dem Gesetz nur mit dem Tode bestraft werden kann.

Der Komplizenschaft mit den Terroristen sind beschuldigt: der Vizepräsident der Staatsbank Arkus; der Philosophieprofessor Karew; der Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften Jakowlew (er ist jedoch nicht der einzige, denn wie man hört, gab es eine ganze Gruppe an der Akademie); der ehemalige Leiter der Leningrader Gewerkschaften Kuklin; der ehemalige Führer der Leningrader Gewerkschaften Uglanow. Angeklagt ist auch Safona, die Frau Iwan Nikitsch Smirnows. Als Mittäter werden weiterhin genannt: Iwar Smilga, Mitglied des Zentralkomitees der Oktoberrevolution, damals von Lenin mit der Seekriegsleitung in der Ostsee beauftragt, später Mitglied der Planungskommissionen, seit Anfang 1933 verhaftet. Männer, die im Jahre 1920 den Marsch auf Warschau leiteten, und alte Parteimitglieder werden als „Terroristen“ angeklagt, wie Eysmont, ehemaliger Volkskommissar, 1932 verhaftet und seither im Gefängnis (man behauptet, er sei erschossen worden) und Slepkow, Publizist des rechten Flügels der Partei, ebenfalls 1932 verhaftet ... Es scheint, als wolle man mittels nachträglich erhabener Anklagen Männer loswerden, die man schon vor Jahren ins Gefängnis gesteckt hat ...

Während und nach dem Prozeß gehen die Verhaftungen weiter. Die sechzehn Angeklagten wurden erschossen, als sich in Moskau die Gewerkschaft der Schriftsteller versammelte. 300 Schriftsteller dankten dem Chef dafür, daß er die Welt von Verbrechern wie Sinowjew, Kamenjew und Iwan Smirnow, den man früher den „Lenin Sibiriens“ nannte, befreit hat. Sie beschließen den Ausschluß einiger Mitglieder, die kurz zuvor verhaftet worden waren. Sie faßten den Beschluß voller Begeisterung. Ausgeschlossen und verhaftet werden: Tarassow-Rodjonow, der Verfasser von Chocolat und Mémoires, die, wenn ich mich recht entsinne, in der Humanité veröfentlicht wurden; Tarassow-Rodjonow war Kämpfer während der beiden Revolutionen von 1917 und Mitbegründer der sowjetischen Literatur; Galina Serebrjakowa, Autorin eines hervorragenden Werkes über Les femmes de la Révolution française, der es heute ähnlich ergeht wie Mme Rolland und Lucile Desmoulins, weil sie Serebrjakows Frau und Sokolnikows Freundin ist; Seliwanowski, Redakteur der Gazette Littéraire in Moskau; Tiwel, Radeks und vordem Sinowjews Sekretär (was sehr schwerwiegend ist!) und noch einige weniger bekannte Persönlichkeiten. In den folgenden Tagen erfuhr man vom Ausschluß (und folglich von der Verhaftung) Iwan Katajews, eines guten Schriftstellers, der alle wünschenswerten Schandtaten begangen hatte, indem er die trotzkistische Konterrevolution anprangerte, schonungslose Strafverfolgung forderte und den Chef anbetete ...

Verhaftungen in Archangelsk, Pensa, Rybinssk, Saratow in Sibirien, im Haus des Buches in Moskau, in Omsk, im Kaukasus. Es hört überhaupt nicht auf ...

 

 

Die Eliminierung der Alten

Wir wissen genug, um dazu einige Bemerkungen zu machen.

Zunächst sind es diesmal die stalinistische Partei, ihre intellektuellen und führenden Kreise, die von der Verfolgung betroffen sind. Die Beschuldigung des Trotzkismus ist eine Ungeheuerlichkeit; wer in der UdSSR gelebt hat, wird das bestätigen. Um heute Mitglied des Parteibüros sein zu können, mußte man seit 1923 oder zumindest seit 1928 ständig seinen Konformismus, seinen totalen Gehorsam und seine Unterwürfigkeit gegenüber den Führern unter Beweis gestellt haben; man muß sich an der Verfolgung der Nonkonformisten beteiligt haben. Wer die Mentalität der Parteifunktionäre kennt, die in der überwiegenden Mehrheit einzig und allein darauf bedacht sind, sich ein angenehmes Leben zu machen und nur ja in keine Affären verwickelt zu werden, die auch nur den entferntesten Kontakt mit Oppositionellen wie die Pest fürchten, dem wird schon allein der Gedanke, ihnen irgendwelche geheimen Aktivitäten zu unterstellen, absurd vorkommen. Wenn man außerdem bedenkt, wie verbreitet das Denunziantentum in den offiziellen Kreisen ist, dann liegt die Schlußfolgerung nahe, daß fast alle Inhaftierten zwar wohlbedacht, aber völlig willkürlich ausgesuchte Opfer sind. Und man ist erschüttert, wenn man feststellt, daß sie in der Partei von heute die Generation des Bürgerkriegs darstellen. Die Alten werden eliminiert; denn die Alten haben einen Fehler: sie verdanken nicht alles, was sie haben, einzig und allein der stalinistischen Bürokratie, einiges verdanken sie ihrer Vergangenheit als Kämpfer, und mit dieser Vergangenheit sind sie in ihrem Innersten durch Traditionen und Erinnerungen verbunden. Gefährliche Erinnerungen, gefährliche Traditionen! Mit den Regierungskreisen des Kaukasus und Zentralasiens geht man besonders hart um; und das zu einem Zeitpunkt, als die neue Verfassung den angeschlossenen Republiken „mehr Rechte“ (?!) garantiert. [1] Wer erinnert sich in diesem Zusammenhang nicht daran, daß die größte Meinungsverschiedenheit zwischen Lenin, der sich damals aus den Führungskreisen zurückzog, und Stalin, der die Führungskreise zu unterwandern begann, die Nationalitäten-Frage betraf? Die Alten erinnern sich daran; und das ist lästig.

All dies läßt die feste Absicht durchschimmern, die Partei zu terrorisieren. Warum? Ist sie nicht zuverlässig genug, nicht folgsam und fügsam genug? Es scheint, daß hier die Grenzen des Gehorsams verletzt werden. Zweifellos, aber es ist etwas im Gange, was heimlichen Protest, stumme, unterdrückte Revolution, geheimen Groll hervorrufen könnte. Man kommt zwangsläufig zu dem Schluß, daß der Tod der Sechzehn bereits beschlossene Sache ist. Um auch die letzten Mitglieder der Partei soweit zu bringen, daß sie der Exekution von Lenins Kameraden zustimmen, muß man ihren Widerstand im voraus brechen. Der Trotzkismus ist hier lediglich ein Vorwand.

 

 

Die Vorsätzlichkeit

An diesem Punkt müssen wir nun die Vorsichtsmaßnahmen des Verbrechens betrachten. Im Jahre 1935 verstanden wir die plötzliche Eliminierung des Sekretärs der Sowjetexekutive Aweli Enukidse nicht; denn er war ein alter georgischer Bolschewik, ein ehrenhafter Mann und vor allem ein sehr treuer Stalinist, der sein Amt als zweiter Richter der Republik seit 1918 ausübte. Er wurde völlig überraschend aus der Partei ausgestoßen; seine ganze Umgebung – Hunderte von Menschen – wurden ohne politische oder andere sichtbare Gründe verhaftet oder deportiert.

Zur gleichen Zeit wurde die „Gesellschaft der Alten Bolschewisten“ aufgelöst. Nun wird alles klar. Enukidse, ein treuer, zuverlässiger und eifriger Diener, wie ihn sich der geniale Chef nicht besser wünschen konnte, ein Kamerad Lenins, könnte zögern, das Gnadengesuch der ehemaligen Führer der Revolution abzulehnen. In diesem Punkt war er nicht zuverlässig! Die alten Bolschewiken, zumindest einige von ihnen, hätten – natürlich ohne viel Aufsehen!- das Massaker der alten Bolschewiken verurteilen können. Der Chef sah alles voraus.

Eine weitere Vorsichtsmaßnahme äußerte sich in der Überstürzung. Der Prozeß wird ohne Vorrede am 14. August angekündigt, er beginnt am 19., die Exekution findet am 25. vor Ablauf der legalen Frist für die Ablehnung des Gnadengesuchs statt. Schnell, schnell! Kaum ist das internationale Arbeiterbewußtsein aus seiner Betäubung erwacht, da wird es vor vollendete Tatsachen gestellt. Und man hat sich zum Handeln die Sommerzeit ausgesucht, eine Zeit, in der die Organisationen weniger intensiv arbeiten.

Der Prozeß war in Wirklichkeit nichts anderes als eine im voraus geplante Vorstellung. Alles war bereits entschieden. Die Richter, drei berufsmäßige Militärrichter, vom Politbüro, d.h. von Stalin ernannt, konnten nur ein Urteil aussprechen: das Todesurteil. Das Gnadengesuch mußte dann der Form halber dem Büro der Sowjetexekutive, d.h. dem Vorsitzenden Kalinin und dem Sekretär Akulow vorgelegt werden; aber diese beiden, die durch die Parteidisziplin gebunden waren, mußten den Beschluß des Politbüros, also Stalins, des anerkannten Chefs, durchsetzen. Das Drama spielte sich also im engen Kreis einiger Männer ab; Stalin bestellte seine alten Freunde als Henker, Kalinin leistete die Gegenzeichnung, die Komparsen erfüllten leere Formalitäten.

 

 

Die Angeklagten

Zwei der Angeklagten, Sinowjew und Kamenjew, sind alte Parteichefs. Sie bildeten zusammen mit Stalin – der sich übrigens hinter ihnen versteckte – seit Lenins Tod (1924) bis zum Jahre 1926 das „unerschütterliche Triumvirat“, das das Politbüro leitete. Der Ausdruck stammt von Sinowjew, seit 1907 unzertrennlicher Mitarbeiter Lenins, lebte mit ihm in der Emigration, kehrte 1917 mit ihm aus der Schweiz zurück, war dessen Wortführer bei der Kommunistischen Internationale. Von 1918-1926 Vorsitzender des Leningrader Sowjets, Vorsitzender der Kommunistischen Internationale. Von 1918-1926 Vorsitzender des Leningrader Sowjets, Vorsitzender der Kommunistischen Internationale seit deren Gründung bis 1927 ... 53 Jahre alt.

Kamenjew ist ebenfalls alter Bolschewik; er leitete während des Krieges die parlamentarische Fraktion der Bolschewiki in der Duma [2], was ihm und seiner Fraktion die Verbannung nach Sibirien einbringt. Er war Vorsitzender des Moskauer Sowjets während der schwierigen Jahre, Universalerbe Lenins, Schriftsteller und Wissenschaftler. Ihm verdanken wir vor allem Tschernischewskis Leben, im Jahre 1934 veröffentlicht, was wie eine seltsame Ironie des Schicksals erscheint. Tschernischewski, einer der großen Geister seiner Zeit, Opfer eines Polizeikomplotts, dessen Hintergründe man erst nach der Revolution erfuhr und bei dem Lockspitzel und gefälschte Dokumente eine entscheidende Rolle spielten, wurde unter Alexander II. zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt. Mehr als zwanzig Jahre verbrachte er im Zuchthaus und in der Verbannung. Sein Wille und seine Intelligenz wurden dort erstickt; und gerade diesem äußerst russischen Schicksal hatte einer der Erschossenen des 25. August 1936 sein letztes Buch gewidmet. – Kamenjew ist 53 Jahre alt.

Grigorij Ewdokimow, ein alter Arbeiter und altes Parteimitglied, Verteidiger Petrograds im Jahre 1919, Sekretär des Zentralkomitees; Iwan Bakajew, 47 Jahre alt, ehemaliger Arbeiter, Vorsitzender der Tscheka [3] in Petrograd während der schlimmsten Augenblicke des Bürgerkrieges; Sergej Mratschkowski, Revolutionär von Geburt an, da er im Gefängnis zur Welt kam, Kämpfer der Revolution im Ural, einer der Führer der Roten Armee, die ihr Bestes opferten, 1931/32 mit dem Bau einer strategisch wichtigen Eisenbahnlinie zwischen dem Baikalsee und dem Amur beauftragt; Iwan Nikitsdi Smirnow, einer der Gründer der Roten Armee, der zusammen mit Trotzki die entstehende Republik in der Schlacht von Swiajsk rettete und später die Sowjetisierung in Sibirien leitete, war lange Zeit Volkskommissar für Post und Telegraphenwesen, zuletzt Direktor der Automobilfabriken in Nischnij-Nowgorod, seit 1932 im Gefängnis (d.h. fast 2 Jahre vor der KirowAffäre, ein wichtiges Detail), 56 Jahre alt; Ter-Vaganian, bedeutend jünger, in erster Linie Publizist (ebenfalls seit 1932 inhaftiert), Gründer der Zeitschrift Unter dem Banner des Marxismus.

Dreiser war während der heldenhaften Revolution Führer von Trotzkis persönlichem Begleitkommando an der Roten Front. Pikel ist ein Sekretär Sinowjews. Goltzmann und Rheingold sind weniger bekannte Kämpfer. Neben ihnen sitzen einige jüngere Männer, eigenartige Gestalten, sie sehen aus, als kämen sie geradewegs aus dem Ausland. Sie bekennen sich als Terroristen (die aber nichts getan haben), als Trotzkis Geheimboten und als Kollaborateure der Gestapo Hitlers ... Sie heißen Olberg, Fritz David, Berman-Jurin, Moise und Nathan Lourié. Sie riechen nach Provokation, Intrige, nach doppeltem und dreifachem Spiel eines Fouché. Olberg ist in dieser Hinsicht typisch. Er kommt aus Riga in Lettland, ist in Deutschland aufgewachsen, nach Prag geflüchtet und mehrmals illegal in die UdSSR eingereist; schließlich hat er sich dort angesiedelt mit Hilfe eines Passes, der ihn als Staatsbürger von Honduras ausweist und den er sich durch die Vermittlung eines Hitleragenten beschafft hatte ... Alle, die jemals in die UdSSR gefahren sind oder fahren wollten, wissen, wie schwierig es für Normalsterbliche ist, ein sowjetisches Visum zu erhalten; und daß es für honduranische Staatsbürger, die obendrein nur deutsch und russisch sprechen, fast unmöglich ist, eins zu bekommen, wenn nicht ein ganz besonderer Fall vorliegt. Erst recht, wenn sie Kontakt zu den deutschen Trotzkisten haben, und das zu einer Zeit, wo die GPU über bestens informierte Polizeispitzel verfügt. Eines scheint sicher, nämlich daß Olberg von Anfang bis Ende entweder ein Geheimagent der stalinistischen Polizei oder mehr oder weniger wissentlich ein Spielball von Geheimagenten war; oder beides.

Diese zwielichtigen Personen sitzen Seite an Seite mit dem redlichen Iwan Smirnow, mit Sinowjew und Kamenjew auf der Anklagebank; die Sache ist ebenso alt wie das Verschwörertum ...

 

 

Die Anklage

Die Anklageschrift bezieht sich zunächst auf den Prozeß vom 15./16. Januar 1935 gegen Sinowjew, Kamenjew, Ewdokimow, Bakajew und mehrere andere einflußreiche Leningrader Kommunisten, die mangels direkter oder indirekter Beweise der geistigen Mittäterschaft an der Ermordung Kirows, Mitglied des Politbüros und Stellvertreter Stalins in Leningrad, beschuldigt wurden.

Kirow wurde am 1. Dezember 1934 durch einen Revolverschuß von einem jungen Parteimitglied namens Nikolajew getötet, der schriftliche Erklärungen hinterließ, in denen er die persönlichen und politischen Motive seiner Tat darlegte. (Weshalb wurden diese wesentlichen Erklärungen weder veröffentlicht noch im jüngsten Prozeß mitgeteilt?) Man verhaftete sofort alle Freunde und Kameraden des Terroristen, vierzehn an der Zahl, alle Kommunisten. Den wenigen öffentlichen Angaben über den Prozeß zufolge kann man annehmen, daß Nikolajew zweien von ihnen seine Absichten mitgeteilt hatte. Sie wurden alle erschossen. Man erschoß außerdem noch in derselben Woche 116 (hundertsechzehn) bereits vorher verhaftete Personen, die mit dieser Sache überhaupt nichts zu tun hatten und im Nachhinein des Terrorismus beschuldigt wurden, ohne irgendein Attentat begangen zu haben ... Tausende und Abertausende wurden deportiert, ein ganzer Teil der Leningrader Bevölkerung wurde in die Gebiete der unteren Wolga, des Urals und Zentralasiens verschleppt. Man beschuldigte die gesamte Strömung Sinowjew-Kamenjew als politisch verantwortlich. Aber das seltsamste Licht werfen die folgenden Tatsachen auf dieses Drama:

Man versuchte in dem Prozeß vergeblich, Trotzki zu kompromittieren, dem, wie behauptet wurde, Nikolajew durch die Vermittlung eines ausländischen Konsuls“ hatte schreiben wollen. Das Unternehmen scheiterte, am 23. Januar 1935 verhängte ein Militärgericht über 12 Polizisten der GPU 2-10jährige Gefängnisstrafen, angefangen bei dem Chef des Leningrader Sicherheitsdienstes Medwjed; sie wurden für schuldig befunden, weil sie „von den Vorbereitungen des Attentats gewußt und sich in krimineller Weise fahrlässig verhalten haben, indem sie nichts unternahmen ...“ Die Funktion der Polizeiprovokation in dieser Sache könnte nicht deutlicher werden.

In dem Prozeß vom Januar 35 kamen Sinowjew, Kamenjew, Ewdokimow, Bakajew und mehrere ihrer Kameraden der Anklage äußerst entgegen, wie es sich in solchen Fällen gehört. Sie bereuten, gegen den Chef agitiert zu haben; sie gaben zu, mit ihrer Kritik, ihrer Opposition und ihrer Milde Meinungen verbreitet zu haben, die junge Revolutionäre zu Haß und Terrorismus veranlassen könnten. Nichts war verschwommener als die Anklage, außer den Geständnissen. Sie wurden zu langen Zuchthausstrafen verurteilt.

Seit diesem Zeitpunkt scheint Stalin von der Angst vor Terrorismus verfolgt zu sein, sowie von dem Bestreben, aus dieser Angst eine tödliche Waffe gegen jene zu machen, die er für immer aus dem politischen Leben entfernen will. Im Juli 35 findet ein Geheimprozeß statt, über den an. diesem Tage in der UdSSR überhaupt nichts bekanntgegeben wird und über den, was sehr sonderbar ist, auch im jüngsten öffentlichen Moskauer Prozeß kein Wort verlautet, obwohl die Anklageschrift ihn in bezug auf Kamenjew erwähnt („am 27. Juli 1935 zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt“). Es handelte sich um eine Verschwörung gegen Stalin. Der Maler Rosenfeld, Kamenjews Bruder, machte seltsame Enthüllungen; keiner weiß, wie man ihn dazu gebracht hatte. Kamenjew wies die Anklage mutig zurück; er bewies, daß er die meisten der 36 Angeklagten nicht kannte und weigerte sich mitzuspielen. Zwei Exekutionen folgten: die eines GPU-Agenten und die eines mit der Überwachung des Kreml betrauten Soldaten. Der gegen Kamenjew geplante Schlag schien in diesem Moment gescheitert oder zumindest abgebrochen zu sein. Man machte jedoch vier weitere Versuche mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, um den neuesten Prozeß durchzuführen: Nikolajews Attentat, erster Prozeß gegen Sinowjew und Kamenjew im Januar 35, 2. Prozeß gegen Kamenjew, Prozeß im August 36 ... Warum hat man über diese bedeutungsvolle Episode total geschwiegen? Und wenn wir schon hinter diese dunklen Kulissen schauen, müssen wir fragen, warum fehlten diesmal einige Angeklagte des Januarprozesses, nämlich Fedorow und Saforow auf der Anklagebank? Und warum blieben soviele Personen, die in der Anklageschrift und während der Verhandlung erwähnt wurden und in die gleiche Sache verwickelt waren, die den gleichen Kreisen angehörten und unter denselben Beschuldigungen verhaftet worden waren, diesmal im Hintergrund? Würde es weitere Prozesse geben, die vielleicht unter Ausschluß der Öffentlichkeit abgehalten werden sollten? Hat man vielleicht aussortiert zwischen denen, die sich gefügig zeigten und denen, die weiterkämpften? Oder wollte man die Exekutionen gut dosieren? Oder wollte man die falschen Komplotte im Dunkel ersticken und ihnen sogar das Helldunkel eines Prozesses ohne Anwälte, wo schon alles im voraus geregelt ist, vorenthalten? Warum sind Kuklin, Serebrjakow, Gertik, Sololnikow, um nur einige zu nennen, Opfer einer Sonderbehandlung? Ist die Zeit für sie noch nicht reif?

Kehren wir zur Anklageschrift zurück. Sie gibt keinen Aufschluß darüber, welche neuen Tatsachen sich ereignet haben oder wie und warum sie eingetreten sind, sondern sie gibt eine völlig neue Erklärung für dieses eine Auen- tat, das Gegenstand zweier intensiver Untersuchungen und zweier Prozesse ist. Ende 1932, so heißt es, schlossen sich die in die Partei wieder asfgenommenen Trotzkisten Smirnow, Mratschkowski und Ter-Vaganian mit Sinowjew, Kamenjew, Ewdokimow und Bakajew zusammen, um gemeinsam ein geheimes Zentralkomitee der Opposition innerhalb der Partei zu bilden. Dieses Zentralkomitee erhält von Trotzki, der im Ausland im Exil lebt, mündliche Anweisungen, die zum individuellen Terror auffordern, um Stalin und seine Hauptmitarbeiter zu beseitigen. Es ist auch die Rede von schriftlichen Anweisungen, die aber vernichtet worden sind. Die Presseagenturen, die im Vertrauen auf Informationen aus Moskau verbreiteten, daß sich ein Brief Trotzkis als Hauptbeweisstück unter den Akten befände, waren getäuscht worden und täuschten ihrerseits die Öffentlichkeit. Trotzki und dessen Sohn, Leonid Sedow, schickten dann – so heißt es weiter in der Anklageschrift – mehrere Terroristen nach Rußland, die die notwendigen Pässe und Visa mit Hilfe der Gestapo – der deutschen Geheimpolizei – erhalten hatten. Das sind Olberg, Bergman-Jurin, Fritz David, die beiden Lourié; sie legen ein Geständnis ab, beschuldigen sich selbst und beschuldigen Trotzki. Sinowjew und seine Mitangeklagten gestehen, Kirows Ermordung gemäß Trotzkis Anweisungen organisiert zu haben. Alle, außer Smirnow und Goltzmann, geben zu, Attentate gegen Stalin, Kaganowitsch, Woroschilow, Idanow, Ordschonikidse, Kossoir, Postyschew und andere (sic) vorbereitet oder zumindest beabsichtigt zu haben. Demnach wären innerhalb von vier Jahren acht bis zehn Attentate vorbereitet worden, ohne daß auch nur ein einziges verübt oder ernsthaft versucht worden wäre. Neun Männer wurden einzig und allein wegen dieser Attentate, die niemals begangen wurden, erschossen. [4] Die gesamte Anklageschrift beruht allein auf den Geständnissen der Angeklagten.

Man wundert sich, mit welcher Leichtigkeit Trotzkis vorgebliche Geheimboten sich Einlaß in die UdSSR verschaffen und sogar bis zu einem Kongreß der Kommunistischen Internationale vordringen konnten. Man wundert sich nicht weniger über ihre totale Handlungsunfähigkeit. Wir werden darauf noch zurückkommen, denn solche unfähigen Leute sind in der Geschichte der Revolution einmalig. Schließlich wundert man sich darüber, daß mehrere Oppositionelle, die offensichtlich mit Trotzki sympathisierten, wie Smirnow und Goltzmann, mehrmals ohne Schwierigkeiten unter irgendeinem Vorwand ins Ausland gelangen konnten. Um es ganz deutlich zu sagen, ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwierig es für einen Nonkonforrnisten ist, einen Paß für den Westen zu bekommen, und ich habe den starken Verdacht, daß man sie nicht ohne Hintergedanken reisen ließ.

Die Anklage setzt den Beginn der Verschwörung auf Ende 1932 fest. Aber genau zu jener Zeit wurden Smirnow, Ter-Vaganian und viele andere ehemalige Oppositionelle, die sich wieder in die Partei integriert hatten, aber vielleicht nicht überzeugend genug, verhaftet. Ich erinnere mich noch genau, daß ich damals sehr stark den Eindruck hatte, daß in den oppositionellen kommunistischen Kreisen im Ausland sowie in Rußland selbst, eine weitreichende Provokation entfesselt wurde; ich warnte damals mehrere Freunde. Wenn die Anklage auch nur ein Körnchen Wahrheit enthält – und wir werden sehen, worauf es reduziert werden kann – so muß betont werden, daß die Geheimagenten der GPU dabei die Hauptrolle gespielt haben und daß ein großer Teil des angeblichen Komplotts in den Gefängnissen angezettelt wurde ...

 

 

Die Verhandlung

Der Prozeß beginnt am 19. August um 12.10 Uhr in der großen Säulenhalle des Gewerkschaftshauses in Moskau. Drei Militärrichter, ein Sekretär, ein Ersatzrichter, der Staatsanwalt Wyschinski. Ulrich ist Vorsitzender. Er ist einer der ältesten Militärrichter, über seinen Ruf brauchen wir uns nicht näher auszulassen. Doch lassen wir das! Zunächst verzichten die Angeklagten auf die Hilfe der Rechtsanwälte. Einige von ihnen sind mit dem Gericht vertraut und sicherlich in der Lage, sich selber zu verteidigen (was sie nicht tun werden); aber mehrere andere, die sich weniger auskennen und nicht über solche Mittel verfügen und ausgerechnet die Verantwortung für kaum geplante Attentate übernehmen sollen, wären sehr an einer Verteidigung interessiert. Wenn sie darauf verzichten, dann haben sie ihre Gründe. Wenn die Anwälte auch die Geständnisse ihrer Klienten nicht in Frage gestellt hätten, so hätten sie doch sicherlich an das Gericht die Frage gestellt, ob die Absicht, ein Verbrechen zu begehen, das aber nicht ausgeführt wird, vor dem sowjetischen Gesetz mit dem Tode bestraft werden könne. Ob die geistige Mittäterschaft an einem unausgeführten Vorhaben, ob das Versprechen, seine Hilfe zu leisten und die Andeutung der Unterstützung ebenso hart bestraft werden können wie ein wirklich ausgeführtes Verbreihen. Sie hätten betont, daß die Nicht-Durchführung eines Verbrechens in jedem Falle ein mildernder Umstand ist ... Aber aus vielen Gründen, die uns allmählich klar werden, war die Zulassung von Verteidigern unmöglich ...

Das veröffentlichte Resümé der Verhandlung ist kein stenographisches Protokoll, weit entfernt. Es wurde offensichtlich verfaßt, um die öffentliche Meinung zu manipulieren und von der Richtigkeit der Anklage zu überzeugen. Die Protokolle der ausländischen Journalisten sind zwar etwas farbiger und ehrlicher, aber auch nicht sehr viel klarer. In der Iswestija heißt es jedesmal, wenn ein Angeklagter eine Detailfrage erörtert – das einzige, was sie sich getrauen – „der Angeklagte versucht vergeblich abzustreiten, daß...“ Wie versucht er es? Ist es wirklich vergeblich? Wir werden es nie erfahren. Dagegen werden die Dialogfetzen, die für die Anklage vorteilhaft sind, nahezu vollständig wiedergegeben. Ich sage nahezu, denn der erfahrene Leser bemerkt unaufhörlich Lücken, zusammenhanglose Übergänge, falsche Anschlüsse. Insgesamt ist die Verhandlung nichts weiter als eine Art Vortrag in Dialogform, der die Anklageschrift Wort für Wort wiedergibt. Ein Übermaß an Geständnissen, Details über Treffen, gesprochene oder gehörte Worte, erhaltene Anweisungen. Man kann alle diese Gespräche in den wenigen Zeilen zusammenfassen: Jawohl, wir, die Gruppe Sinowjew-Kamenjew, haben im Jahre 1932 zusammen mit den heimlichen Trotzkisten der Partei Smirnow, Ter-Vaganian und Mratschkowski ein Zentralkomitee gegründet (ein „Zentrum“ sagt man, um den Begriff Zentralkomitee nicht zu entweihen). Ja, wir haben gemeinsam Trotzkis Anweisung erhalten und gebilligt, Stalin und seine Hauptmitarbeiter zu beseitigen. Ja, wir haben die Ermordung Kirows sowie weitere, mißlungene Attentate vorbereitet. Ja, wir bereuen es, wir sind uns des großartigen Werkes Stalins und unserer totalen Niederlage als Oppositionelle bewußt. Ja, wir hatten nicht einmal eine politische Plattform, denn der Triumph der Generallinie verursachte unseren totalen Mißerfolg, es blieben uns nicht einmal Prinzipien, die wir hätten verteidigen können ... Ja, wir sind die Elendesten aller Elenden, die Komplizen der Gestapo, die Instrumente des Faschismus, wir verdienen die höchste Strafe. Ja, wir verehren nun den genialen Chef der Partei; wir wollen für ihn leben, wir sind bereit, für ihn zu sterben. Nur ein Mensch auf dieser Welt ist noch schlechter, noch krimineller, noch faschistischer, noch mörderischer, noch niederträchtiger und unmenschlicher als wir: Trotzki. Ein Geschrei nach dem Tode dieses in Norwegen im Exil lebenden Mannes erhebt sich im Saal und steigert sich mit einem solchen Haß, mit einer solchen Beharrlichkeit, daß für einige Augenblicke alles unwirklich erscheint. Das Ganze ist nur noch ein schreckliches Geschimpfe ... Und in diesem Ton geht es weiter und weiter, stundenlang.

Man versucht zu begreifen, aber man verliert sich in diesem Durcheinander. Sinowjew und Kamenjew sind die anerkannten Führer der sogenannten „Leningrader Opposition“, die sich 1927 für etwa ein Jahr mit der alten trotzkistischen Opposition zusammenschloß, die sie zuvor selber verfolgt hatte. Auf dem XV. Parteitag (Ende 1927) wurde der totale Bruch zwischen Trotzki und seinen jüngsten Verbündeten vollzogen. Trotzki bleibt der unversöhnliche Gegner, entschlossen, im Kampf gegen das bürokratische Regime bis zum Äußersten zu gehen. Sinowjew und Kamenjew kapitulieren, schwören ihren Überzeugungen vom Vorabend ab und beugen sich vor Stalin. Diese beiden Verhaltensweisen – Widerstand bis zum letzten und ideologische Offensive einerseits, totale Unterwerfung andererseits – sind absolut unvereinbar. Jahre vergehen. Der Graben wird immer breiter zwischen dem unbezwingbaren Deportierten und Verbannten und den Kapitulierern, die zwar, wenn sie unter sich sind, weiter protestieren, sich in der Öffentlichkeit aber selbst verleugnen und den Chef loben, die noch zweimal aus der Partei ausgestoßen, zweimal deportiert und nach aufsehenerregenden Selbstverleugnungen zweimal wieder aufgenommen werden. Selbst in den Gefängnissen und in der Verbannung meiden sich die Widerstandskämpfer und die Kapitulierer, fliehen voreinander, fürchten einander, anstatt sich zu verbrüdern. Die Widerstandskämpfer fürchten, von den Kapitulierern, die sie verspotten und verachten und die sich aus Prinzip nicht gegen die Behörden auflehnen würden, heruntergeputzt zu werden; die Kapitulierer erscheinen verdächtig und fürchten, von den Widerstandskämpfern kompromittiert zu werden.

Acht Jahre lang hat Trotzki in seinen Schriften unaufhörlich die Kapitulierer verhöhnt, sie des politischen Selbstmordes beschuldigt, diesen Selbstmord mit der Entartung der Partei erklärt und in ihm das schlimmste Zeichen der bürokratischen Demoralisierung gesehen. Es war, so scheint es, nichts anderes als Täuschung, Doppelspiel, Komplott.

Und während der langen Jahre der Deportationen und Gefängnisse, der Parteiausschlüsse und Wiederaufnahmen braute sich dieser Komplott trotz strengster Überwachung zusammen ...

Sinowjew und Kamenjew waren lange Zeit Führer der bolschewistischen Partei, sie haben die UdSSR regiert, sie sind Volksvertreter, Theoretiker, Staatsmänner. Warum haben sie, um eine bestimmte Politik zu machen oder um sich für den individuellen Terror zu entscheiden, Trotzkis Anweisungen nötig, den sie immer beneidet, bekämpft, fallengelassen und verleugnet haben?

Die Direktive soll ihnen mündlich durch Smirnow übermittelt worden sein. Doch hier verdichtet sich das Dunkel. Smirnow ist ein Mann von anderer Qualität; er leugnet entschlossen, doch schließlich legt auch er ein vorher ausgehandeltes, sehr beschränktes Geständnis ab. Smirnow ist hier die Hauptperson; ohne ihn, dessen moralische Autorität nahezu einwandfrei ist, wäre der Prozeß eine nicht aufführbaren Komödie gewesen. Er gehört schon lange der Opposition an, hatte enge freundschaftliche Beziehungen zu Trotzki, ein Bolschewik der ersten Stunde; auch er hat 1928 kapituliert, um nicht untätig in der Verbannung zu leben, um die Arbeit der Industrialisierung wieder aufzunehmen, um für die zukünftige Regeneration der Partei tu arbeiten. Er hat immer gewußt, was er tat. Gesteht er? Gesteht er nicht? Er „gibt zu, zum trotzkistisch-sinowjewistischen Zentrum gehört, in persönlicher Verbindung mit Trotzki gestanden, Sedow – Trotzkis Sohn – 1931 im Ausland getroffen zu haben, bis zu seiner Verhaftung im Jahre 1933 mit Trotzki in Kontakt geblieben zu sein, von Trotzki über Sedow die Anweisung bekommen zu haben. Terror gegen die Parteiführer auszuüben“ (Anklageschrift). Die Protokolle des Prozesses behaupten dasselbe, aber sie sind dermaßen redigiert, daß... Beurteilt es lieber selbst:

Iswestija, 20. August, 2. Seite, 5. Spalte

Staatsanwalt Wyschinski zu Smirnow: Sie haben von Trotzki die Anweisung erhalten, Terror auszuüben? – Smirnow: Ja.

Das klingt kategorisch, aber genau 15 Zeilen darüber steht, das Smirnow „versucht, alles zu leugnen“, und 40 Zeilen tiefer, daß er „zu leugnen versucht, die Direktive übermittelt zu haben ...“ Die Szene wird komisch. Man steht kurz vor einer Enthüllung oder vor einem Bruch. Der Staatsanwalt liest einen Teil aus Smirnows Aussage (die Geständnisse) vor, die dieser am 13. August vor dem Untersuchungsrichter abgelegt hatte. (Allein aus diesem Datum geht hervor, daß Smirnow „die Geständnisse“ im allerletzten Augenblick abgelegt hat, wahrscheinlich unter dem Druck eines bereits völlig inszenierten und geplanten Prozesses.) „Nun?“ fragt ihn der Staatsanwalt. Smirnow schweigt. Der Staatsanwalt fordert ihn auf, selber mit lauter Stimme einige Zeilen seiner Aussage vorzulesen. Smirnow liest mechanisch – und man geht zum Nächsten über. Wie soll man angesichts dieser Szene nicht den Eindruck haben, daß der Angeklagte kurz davor stand, den Pakt zu brechen, der ihn dem Ankläger verpflichtet?

„Drei Stunden lang“, so heißt es in der Iswestija vom 21. August, „bietet Srnirnow alle Kräfte auf, um die Verantwortung von sich zu schieben.“ Er könnte das Geständnis nicht widerwilliger ablegen. Man muß ihn Wort für Wort bezwingen. „Schließlich weicht er einem müden, vielleicht verächtlichen Ja, als ob er wider Willen sein Wort hielte“. Das Protokoll wird zu einem unentwirrbaren Geflecht von Widersprüchen. Trotzkis Direktive ist jetzt nur noch eine persönliche Meinung Sedows. Wir wissen, daß Smirnow zugegeben hat, Mitglied des illegalen ZK (des „Zentrums“) gewesen zu sein. Es scheint nun, als sei dies nicht der Fall. Der Staatsanwalt fragt ihn: „Wann sind sie aus dem Zentrum ausgetreten?“

Smirnow: „Ich habe nie daran gedacht auszutreten, da es gar nichts gab, es aus dem ich hätte austreten können ...

Wyschinski: „Das Zentrum existierte aber doch?“

Smirnow: „Ach was!“

Er sagt dies sehr verächtlich – die russischen Wörter sind bedeutungsvoller. Es geht weiter... Der Staatsanwalt appelliert an die anderen Angeklagten. Gab es ein Zentrum? Im Chor antworten sie :Ja, ja, ja, ja ... Und das Protokoll fährt fort: „Smirnow versucht aufs Neue zu leugnen, daß...“ (Iswestija, 22. August). Er hat „gestanden“ – wir wollen daran erinnern – mit Trotzki in Verbindung geblieben zu sein. Die Diskussion dreht sich eine Viertelstunde lang um diesen Punkt. Wer kann sich da noch zurechtfinden?! „Ich hatte zwei Adressen. Wenn das in Verbindung stehen heißt ...“. Als man ihn fragt, ob seine Mitangeklagten lügen, schweigt er. Er scheint sagen zu wollen: Ich spiele die Partie mit, aber erwartet nicht von mir, daß ich mit großem Eifer dabei bin. Und in bezug auf Sinowjew sagt er voller Verachtung: – „Sinowjew spricht so, weil er Sinowjew ist“, und das bedeutet: weil er derjenige ist, der immer kapituliert, der niemals Widerstand leistet ...

 

 

Die Direktive existiert

Der beunruhigende Olberg, den die ausländischen Journalisten als jungen, eleganten, ungenierten Mann beschreiben, selbstsicher bis zum letzten Augenblick; dieser Olberg, von Geburt Lette und nun honduranischer Staatsbürger, der mit solcher Leichtigkeitt die Grenzen der UdSSR überquert; bringt schließlich den materiellen Beweis für die Existenz der terroristischen Direktive Trotzkis. Sedow hat sie ihm zu lesen gegeben mit der Frage „Ist es klar?“ – „In der Botschaft, die Trotzki schrieb, nachdem man ihm die sowjetische Staatsbürgerschaft aberkannt haue, betonte er die Notwendigkeit, Stalin zu töten“ (Olbergs Aussage, Iswestija, 22. August). – Ah! Endlich wird die Sache klarer, wir haben einen Beweis.

Diese Botschaft Trotzkis an die Sowjetexekutive, geschrieben am 1. März 1932 in Prinkipo, war in mehrere Sprachen übersetzt worden. In Paris erschien sie im März 1932 in russischer Sprache in der Numme 27 des Bulletin der bolschewistisch-leninistischen Opposition:

Ihr kennt – so schreibt Trotzki an die Mitglieder der Regierung der UdSSR – Stalin ebenso gut wie mich. Viele von Euch haben ihn mehrmals in Gesprächen mit mir und meinen Freunden illusionslos beurteilt. Stalins Macht hat niemals in ihm selbst gelegen, sondern in den Büros; oder in ihm, insofern als er die perfekte Inkarnation des Bürokratismus ist ... Die Auflösung des stalinistischen Systems erfolgt genauso, wie es die Opposition vorhergesehen hatte. Ihr wollt auf diesem Wege weitergehen? Aber Ihr habt keinen Weg mehr vor Euch. Stalin hat Euch in die Sackgasse gedrängt. Ihr könnt sie nur verlassen, indem Ihr den Stalinismus abschafft. Ihr müßt der Arbeiterklasse vertrauen und der Avantgarde des Proletariats die Möglichkeit geben, das ganze sowjetische System neu zu überdenken, von oben nach unten, mittels offener Kritik; Ihr müßt ihr die Möglichkeit geben, den Unrat wegzuräumen, der sich dort angesammelt hat. Schließlich müßt Ihr Lenins letzten dringenden Rat befolgen: Stalin entfernen! [5]

Die terroristische Direktive stammte demnach von Lenin? Auf jeden Fall beruhen Olbergs Aussage sowie die ähnlich lautende Aussage des Angeklagten Goltzmann auf diesen Worten. Trotzki soll ihm in Kopenhagen gesagt haben: „Das wichtigste ist, Stalin zu entfernen.“ Der Staatsanwalt will unbedingt vom Angeklagten hören, daß das „töten“ bedeutet. Der Angeklagte gibt es zu. Der Staatsanwalt insistiert weiter: „Trotzki selbst hat das präzisiert, nicht wahr?“ Der Angeklagte stimmt zu. [6]

 

 

Die ganze alte Garde ist kompromittiert

Was bedeuten diese Enthüllungen, die Kamenjew, Sinowjew und Rheingold im vollen Gerichtssaal gemacht haben? Rheingold ist ihr Vertrauter, er tauchte als Unbekannter auf, um jahrelang für die alten Chefs die Rolle eines aufmerksamen Zuhörers zu spielen und heute alles zu berichten ... Man tut so, als sei man überrascht, als ob nicht alles bereits bei der Untersuchung gesagt worden wäre. Rheingold sagt aus, daß Sokolnikow, den er seit 1919 kennt, an dem Komplott beteiligt war. Bucharin, Tomski und Radek vertraten die gleichen Ansichten wie Sinowjew und präzisierten sie in verschiedenen Gesprächen. „Tomski“, sagt Sinowjew, „erklärt sich mit uns völlig solidarisch“. Sinowjew nennt auch die ehemaligen Führer der Arbeiteropposition Schljapnikow und Medwedjew und die ehemalige stalinistische Linke (Jean Sten, Schatskin, Lominadse; letzterer war während der chinesischen Revolution einer der Organisatoren der Kantoner Kommune und hat sich im vergangenen Jahr das Leben genommen, als er verhaftet werden sollte). Kamenjew überbietet alles, indem er ausführlich berichtet, daß Rykow, Tomski und Bucharin ihm in den Jahren 1932-1934 „ihre Sympathien“ erklärten. Ich zitiere: „Tomski sagte zu mir: Rykow denkt genauso wie ich ... und Bucharin ebenfalls, aber Bucharin will aus taktischen Gründen das Vertrauen der Parteiführer gewinnen ...“ Kamenjew enthüllt plötzlich, daß im Falle einer Verhaftung Smirnows und Mratschkowskis sich die „Trotzkisten“ Radek und Serebrjakow an die Spitze der Terrororganisation stellen sollten. Kamenjew und Sinowjew behaupten, daß Sokolnikow im Falle ihrer Verhaftung die Terroraktionen ihrer Strömung übernehmen sollte. Übrigens denunzieren die einen wie die anderen Armeeführer wie Punta, Militärattaché in London, sowie hohe Funktionäre der Staatsbank, die im Jahre 1930 einen Fonds für alte Bolschewiki gründen wollten, die in die Verbannung geschickt werden sollten ...

Ein weiterer Kamerad Lenins, Iwar Smilga, seit 1933 im Gefängnis, wird beiläufig erwähnt. Es scheint, daß die ganze alte bolschewistische Garde, die Mitglieder des Zentralkomitees der Oktoberrevolution, die Führer und die größten Kämpfer des Bürgerkrieges, die wahren Gründer der UdSSR, daß sie alle den Tod des genialen und geliebten Chefs gewünscht, gefordert oder vorbereitet haben ... Die Nummern der Iswestija, in denen diese großen Enthüllungen veröffentlicht werden, sind mit „N. Bucharin, verantwortlicher Redakteur“ signiert. Die Ausgabe vom 21. August, in der die Mittäterschaft des „Trotzkisten“ Radek bekanntgegeben wird, enthält einen langen Artikel von Radek, der nichts anderes ist als eine fanatische Schmährede gegen Trotzki und in dem „für die ganze blutrünstige Mörderbande die Todesstrafe, die sie hundertmal verdient haben“ gefordert wird. In der Ausgabe vom 23. August, ebenfalls vom verantwortlichen Redakteur Bucharin signiert, wird in einer Randbemerkung gefordert, „daß das Durcheinander von Verbrechen in einer Enquête über Rykows, Bucharins, Uglanows, Radeks und Pjatakows Beziehungen zum terroristischen Zentrum gründlich entwirrt ...“ Es hagelt schonungslose Resolutionen, in den Fabriken verabschiedet und die Enquête fordernd; und der Staatsanwalt Wyschinski gehorcht den Massen und kündigt die Eröffnung der Untersuchung an ...

Der Prozeß ändert sein Gesicht: es ist nun der Prozeß der ganzen alten bolsdiewistischen Garde, die zunächst psychisch und dann physisch zugrunde gerichtet wird, die gezwungen wird, sich selbst anzuklagen, sich selbst zu verurteilen, sich ihr eigenes Grab zu schaufeln ... Nach dreitägigen heftigen Diskussionen in seiner Parteizelle, geht der alte Tomski, gehetzt von Denuzianten, die ihn mit Schlagworten fertigmachen und ihn als Komplizen der Bluthunde behandeln, nach Hause und macht seinem Leben ein Ende. Ein würdiges Ende. Die Situation ist ausweglos. Soll man alles aufdecken? Unmöglich. Sich verteidigen? Unmöglich und zwecklos. Dieses schreckliche Katz-und-Maus-Spiel mitspielen? Geständnisse ablegen, die von einem erwartet wenden? Sich selbst entwaffnen, sich noch mehr demütigen? Weshalb, für wen? Alles ist aus, die Reaktion hat gesiegt, Revolution Ade! Tomski hat sich am 23. getötet, der Tag, an dem die Untersuchung gegen ihn eingeleitet wurde. [7]

 

 

„Trotzki – Gestapo“

Mehrere Komparsen (Berman-Jurin, Fritz David, die beiden Lourié, Olberg) bestätigen einstimmig, daß sie auf Trotzkis Anweisungen hin in die UdSSR gefahren seien, um Attentate auszuführen, was sie aber niemals getan haben. Agenten der deutschen politischen Polizei – der Gestapo – haben ihnen die Einreise ermöglicht. Außerdem gab es in Moskau einen Terroristen, einen deutschen Polizisten. Sinowjew und Trotzki waren über die Kontakte mit der Gestapo unterrichtet und billigten sie.

An diesem Punkt wird es klar, warum keine Anwälte zugelassen werden konnten. Sie hätten ganz einfache Fragen stellen können, die aber sehr aufschlußreich hätten sein können. Ein Anwalt hätte beispielsweise den Angeklagten Berman-Jurin fragen können:

Sie behaupten, Trotzki 1932 in Kopenhagen getroffen zu haben. Trug er zu dieser Zeit einen Bart? Können Sie das Hotel, die Garderobe, das Zimmer beschreiben? Können Sie uns irgendein verifizierbares Detail nennen. [8]

Wenn einige Angaben der Anklage bloß 8 Tage vor dem Prozeß veröffentlicht worden wären, hätte Trotzki selbst in der ausländischen Presse Engen dieser Art stellen können oder ein Rechtshilfeersuchen vorlegen können. Aber die Anklageschrift wurde erst am Eröffnungstag des Prozesses veröffentlicht; und die Ermittlungen waren in aller Heimlichkeit gemacht worden ...

Und jetzt sind die Angeklagten-Ankläger tot.

Über die Attentat s die sie angeblich vorbereitet haben, verlangt man keine Erklärungen von ihnen. Bermann-Jurin sollte während des 13. Plenums des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale auf Stalin schießen; aber es gelang ihm nicht, sich eine Eintrittskarte zu verschaffen. Das ist also das erste Attentat. Fritz David gelang es zwar, am VII. Kongreß der Kommunistischen Internationale teilzunehmen, aber er hatte weder die Möglichkeit, sich dem Chef zu nähern, noch die Entschlußkraft zu schießen. Dennoch erklärte er, daß „er bis zu seiner Verhaftung zum Terrorismus tendierte“. Das war das 2. Attentat. Nathan Lourié erklärt, Woroschilows Auto auf der Straße gesehen zu haben; er meinte aber, es sei unsinnig, auf ein Auto zu schießen, das mit voller Geschwindigkeit vorbeifährt. Das ist das 3. Attentat. In Tscheijabinsk hatte er dann die Absicht, Kaganowitsch und Ordschonikidse zu erschießen, die dort in einer Fabrik sprechen sollten. Viertes Attentat.

Dann wollte er auf der Kundgebung zum 1. Mai in Leningrad auf Idanow schießen, aber er stand zu weit entfernt. Fünftes Attentat. Olberg konnte in Gorkij nur noch „ein Attentat planen“, an dessen Ausführung ihn seine Verhaftung hinderte ... Sechstes Attentat ...

All dies wird uns berichtet in einem Land, in dem die Technik des individuellen Terrors unter dem Ancien Régime von der sozialrevolutionären Partei bis zur Perfektion entwickelt wurde, die an der Spitze ihrer Kampforganisation Männer wie Gjerschuni und Boris Sawinkow hatte. Wir sehen hier Männer, die, sofern ihre Geständnisse nicht reine Zugeständnisse sind, auf äußerst suspekte Weise nach Rußland gelangt sind, und die vielleicht wirklich glaubten, von den Trotzkisten oder von Trotzki selbst mit der Ausführung terroristischer Aktionen beauftragt zu sein, (und warum sollte man ihnen nicht einen Mann vorgestellt haben, der Trotzki ähnlich sah?); und die auf jeden Fall jeweils verhaftet wurden, bevor sie auch nur eine Hand rühren konnten, um ihre Absicht in die Tat umzusetzen ... Sind sie selber Polizeispitzel, oder sind sie die Opfer von Spitzeln? Ich erspare mir hier Hypothesen über diese heiklen Fragen, aber alles weist darauf hin, daß Provokation die Hauptrolle bei ihren vorgeblichen Aktivitäten gespielt hat.

Soll ich hier an das erinnern, was voraufging? Im Jahre 1928 versuchten Organisationen der Opposition in Moskau, Leningrad und anderswo zu kämpfen; sie wunden alle in kürzester Zeit aufgrund der Hetze zerschlagen. Um die Bewegung zu demoralisieren, gründeten Lockspitzel überall Oppositionsgruppen, die natürlich sehr bald mit großem Aufsehen kapitulierten.

In Leningrad war es das Werk eines Michel Twerskoj. In Paris war der Vertreter der russischen Opposition, ein Funktionär der sowjetischen Gesandtschaft, ein Lockspitzel.

In den Jahren 1926 und 27 unternahm der russische Monarchistenführer Schulgin eine illegale Reise in die UdSSR, von wo er ein Buch mitbrachte, das dem neuen Regime gegenüber eher positiv eingestellt war, mit dem Titel Drei Hauptstädte. Alle Personen, die er besucht hatte, wurden nach seiner Abfahrt verhaftet und viele sogar erschossen; denn seine Reise war bis in die kleinsten Details von GPU-Agenten organisiert worden.

Einige Angeklagte des Prozesses, die sogenannten Menschewiki, behaupten, in Jahre 1930 den Führer der russischen Sozialdemokraten Abramowitsch in Moskau getroffen zu haben; und zwar zu einem Zeitpunkt, wo jener Letztere in Hamburg mit anderen Mitgliedern des Kongresses der Sozialistischen Internationale fotografiert wurde. Entweder lügen sie, oder sie sahen einen falschen Abramowitsch; in beiden Fällen spielen Provokation und Intrigen eine entscheidende Rolle. Die Tatsachen, die ich hier anführe, sind übrigens allgemein bekannt.

 

 

Finsternis

Dostojewskis Dämonen sind Karikaturen von Revolutionären, vom Autor aus den dunkelsten Tiefen des Menschen entworfen; neben den Regisseuren und Akteuren dieses Dramas sind sie bleiche Knaben; vor allem neben den Regisseuren, denn die Akteure sind im Grunde selber Opfer, die von ganz einfachen Triebkräften angetrieben werden. Es gibt Situationen, aus denen man unwahrscheinliche Nutzen zieht, Alptraum über Alptraum. Die Wahrheit hat ihre Grenzen, die Erfindung nicht. Ein Sekretär Sinowjews namens Bogdan hat sich vor kurzem umgebracht aus Protest gegen die Verfolgungen, die er in der Partei erlitten hatte: die Angeklagten, seine Freunde, gestehen, daß sie ihn zum Selbstmord getrieben haben, indem sie von ihm eine Erklärung dafür forderten, daß er sich geweigert hat, Stalin zu erschießen, obwohl er es vorher versprochen hatte. Wer glaubt denn, daß Sinowjew, der so darauf bedacht war, sich in der tiefsten Illegalität zu vergraben, ausgerechnet seinen Sekretär mit einer Terroraktion beauftragt hätte? Ist es nicht sehr viel einleuchtender, daß man im Nachhinein eine Erklärung für einen Selbstmord sucht, der die Führungskreise der Partei sehr beschäftigt?

 

 

Die Gefügigkeit der Opfer

Als man die Angeklagten fragt, welche Motive sie zu ihrem Handeln veranlaßt haben, antworten sie: Das Gefühl unserer Niederlage und Stalins Triurnphes. Kamenjew, ein alter, weißhaariger Intellektueller, der klügste der anwesenden Politiker und vielleicht der glaubwürdigste Staatsmann, den es in Rußland noch gibt, antwortet so, wie man es von vornherein von ihm erwartet; das ist offensichtlich:

Die Gier nach persönlicher Macht.

Außer Smirnow, der schweigt, sagen alle: Wir haben keine Plattform, kein Ideal, wir waren nichts als elende Kreaturen, vom Haß gegen den Chef gelenkt, dessen Größe wir endlich erkannt ...

Und das einzige Wort, das über alle Lippen kommen müßte, das allein eine schwere Anklage, eine Kampf plattform, eine ausreichende Erklärung für den ganzen Prozeß implizieren würde, das Wort Bürokratie, wird nicht ein einziges Mal ausgesprochen! Hier wird die Gefügigkeit der Opfer offensichtlich. Alle offen oder versteckt oppositionelle Strömungen, seien sie zum Widerstand in den Gefängnissen bereit, oder seien sie entschlossen, sich zu erniedrigen, um innerhalb der Partei weiterzukämpfen, sie alle betrachten die Bürokratisierung des Systems als den Untergang der Revolution, als Pervertierung und als Mord an der Partei, als Verlust der Macht des Proletariats. Alle Politiker, die jetzt auf der Anklagebank sitzen, haben das oft gesagt und geschrieben. Stalin ist für sie die Inkarnation der Bürokratie, die sie zermalmt, um die proletarische Revolution auszulöschen. Aber sie bleiben dem Versprechen, das sie gegeben haben, treu und schweigen. Keine politische Frage wird gestellt. Keiner wird das erklärende Wort aussprechen.

Und man begreift, warum kein wirklicher Oppositioneller, kein wahrer Trotzkist im Prozeß auftaucht. Es gibt sie aber dennoch – fast 500, seit acht Jahren in Gefangenschaft. Keineswegs gefügig! Bereit, den Hungertod zu sterben wie Butow und Solntsew, anstatt vorgeschriebene Geständnisse zu unterschreiben. Es gibt Leute, die angeklagt sind wegen Angelegenheiten, die mit dieser hier zusammenhängen; man will sich ihrer entledigen, aber sie werden in aller Heimlichkeit erhängt werden, man wird ihnen nicht gestatten – darüber gibt es keinen Zweifel – sich vor ausländischen Journalisten auch nur im Mindesten zu erklären. Denn sie würden selber zu Anklägern werden, sie würden so heftige Vorwürfe gegen das bürokratische Regime erheben, daß alle geschickten Umtriebe Fouchés wie ein Kartenhaus zusammenfallen würden. „Persönliche Macht?“, würden sie sagen. „Ihr wollt wohl Witze machen. Wißt Ihr nicht, wie sehr wir darauf pfeifen? Wir verzichten seit einiger Zeit bereits auf die Sinekuren der Konformisten. Doch sprechen wir von ernsteren Dingen. Was habt Ihr mit den Löhnen gemacht? Was ist aus den Gewerkschaften geworden? Wie sieht die Situation der Bauern aus? Wie steht es mit der Meinungsfreiheit der Arbeiter? Gibt es noch Sowjets? Welche Rechte haben sie? Wer setzt an die Stelle des Kommunen-Staates, den wir mit Lenin aufbauen wollten, den Gefängnis-Staat? Glaubt Ihr, daß ein großes Volk, das eine Revolution wie die unsrige gemacht hat, lange geknebelt und in Zwangsjacken leben kann? Warum bringt Ihr die Generation der Oktoberrevolution um? Welchen Krieg plant Ihr, um die Einhaltung des Versailler Vertrages zu verteidigen?“

Sie hätten sogar noch hinzufügen können:

Terroristen, wir? Wenn wir glaubten, uns dieser Waffe der alten kleinbürgerlichen Parteien bedienen zu müssen, meint Ihr, wir würden es nicht wagen, das zu sagen? – und zu tun? Wenn Mratschkowski, der sich heute selbst bezichtigt, ein Terrorist gewesen wäre, würde Stalin dann noch leben? Mratschkowski hatte freien Zugang zu ihm, und Mratschkowski hat auf dem Schlachtfeld oft genug bewiesen, daß er dem Blut und dem Tod ins Gesicht sehen kann.

Euer genialer Chef ist für uns der gerissenste Totengräber der Revolution, die perfekteste Verkörperung der bürokratischen Mittelmäßigkeit. Die Kugel, die er verdient, ist noch zu schade für ihn, denn er ist nichts, nichts als der Repräsentant der Bürokratie, die ihn in einer 24stündigen Pressekampagne durch einen anderen ersetzen könnte. Das bürokratische System muß um- gestürzt werden, ein paar Gewehre nützen da gar nichts; die Arbeiterklasse wird es früher oder später umstürzen, sobald sie sich aus ihrer Erniedrigung erhoben hat. An diesem Tage werden wir bei ihr sein und die Gewehre nicht vergessen, um die Arbeitersiedlungen gegen Eure Kosaken zu verteidigen. Das wird der größte Tag der Massen sein.

Diese Sprache ist nicht von mir erfunden. Sie steht seit 10 und mehr Jahren in allen Dokumenten der Opposition.

 

 

 

Anmerkungen

1. Dies wurde behauptet und ständig wiederholt. In Wirklichkeit gibt die neue Verfassung den angeschlossenen Republiken in jeder Hinsicht weniger Rechte; mehrere wichtige Kommissariate, die bisher den lokalen Regierungen unterstellt waren, wie z.B. die Justiz, sollen fusioniert werden. Es ist jedoch offensichtlich, daß man in Moskau nicht genau das gleiche Recht spricht wie in Turkmenistan.

2. Vom Zaren einberufenes Scheinparlament von 1905-1917, bildete 1917 die „Provisorische Regierung“ – A.d.Ü.

3. Außerordentliche Kommission zum Kampf gegen KonterrevolutiOli und Sabotage, wurde 1922 in die GPU umorganisiert- A.d.Ü.

4. Dreiser, Olberg, Pikel, Bergman-Jurin, Goltzmann, David, Rheingold, Moise Lourié, Nathan Lourié.

5. Einige Zeilen darüber stehen folgende Worte: „Gewiß, Stalin hat sein letztes praktisches Wort noch nicht gesprochen. Wir kennen sein Arsenal. Lenin hatte es abgewogen und geschätzt. Aber ihm bleiben nur noch die Mittel der persönlichen Rache ...“ – Man kann auch übersetzen: „Lenin eliminieren.“ Wir wissen, daß uns Lenin kurz vor seinem Tode in seinem sogenannten Testament den Rat gab, den „groben, unverläßlichen“ Stalin, der es fertig bringt, die Partei zu spalten, aus dem Generalsekretariat der Partei zu entfernen.

6. Nachdem ich einen Augenblick lang wie der Staatsanwalt Wyschinski geurteilt hatte – wirklich nur für einen kurzen Augenblick! – dachte ich an ein Beispiel aus der Geschichte Frankreichs. Ist es bekannt, daß Victor Hugo ein gefürchteter Terrorist und der Hauptverantwortliche für Orsinis Attentat auf Napoleon III. war? Hatte er nicht in den Châtiments geschrieben: „Du kannst diesen Menschen ruhig töten“? Wäre das Attentat verübt worden, nachdem dieser Vers geschrieben wurde, so wäre kein Zweifel möglich; wenn das Attentat vorher verübt worden wäre, ist dieser Vers nur noch eine Erklärung. Wißt Ihr nun, woran Ihr seid? – Dann gibt es auch noch den Terroristen Aragon, Mitglied der KPF, der geschrieben hat: „Erschießt Léon Blum ...“

7. In den letzten Nachrichten heißt es, daß die Untersuchung die zunächst gegen Rykow, Bucharin, Radek, Pjatakow, Uglanow, die alle noch Regierungspositionen innehaben, eingeleitet, dann aber abgeschwächt wurde, und zwar, so schreibt ein ausländischer Journalist in Moskau, aus Angst vor unangenehmen Reaktionen in den Arbeiterbewegungen anderer Länder, schließlich ganz eingestellt worden ist. Wenn also Sinowjew und Kamenjew Trotzki und sich selbst beschuldigen, dann sagen sie die Wahrheit und werden daraufhin erschossen, wenn sie aber Radek und Bucharin beschuldigen, dann lügen sie ...? Und auch Tomski, der Selbstmord begangen hat, war also unschuldig?

8. Einem der Angeklagten zufolge hätte eines dieser Treffen im Hotel Bristol stattgefunden. Man schrieb mir aber, daß es in Kopenhagen kein Hotel Bristol gibt!

 


Zuletzt aktualiziert am 14.10.2003