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Wostotschnoje Obosrenie, Nr. 285, 23. Dezember 1900/5. Januar 1901.
Das vergangene Jahr war ein schwerwiegendes Jahr im Leben unserer Partei.
Man braucht sich nur ins Gedächtnis zu rufen: In einer Zeit, in der das revolutionäre Proletariat der ganzen Welt mit Erwartung auf unsere Partei blickt, der die Geschichte die grandiose Aufgabe gestellt hat, den Knoten der Weltreaktion zu durchhauen, verhalten sich die russischen Sozialdemokraten, als kennten sie keine anderen Aufgaben denn kleinliche innere Parteizwistigkeiten, keine anderen Fragen als solche juristischer Kompetenz, als sähen sie keine andere Perspektive als die der Parteispaltung – wahrhaft ein Schrecken!
Welch herzzerreißende Tragik liegt in der Tatsache, dass weite Kreise der Partei, unter dem fernen Donner des heraufziehenden geschichtlichen Gewitters, in organisatorischer Kleinkrämerei herum wühlen,hervorragende und alterprobte Genossen, die im ersten Glied der internationalen Sozialdemokratie marschieren, theoretischer Sünden verdächtigen, die die Ankläger selbst nicht einmal konkret zu formulieren fähig sind, zum Kreuzzug gegen die halbe Partei aufrufen, sich von den eigenen Gesinnungsgenossen distanzieren, wenn diese für die Versöhnung mit dem oppositionellen Flügel eintreten, und schließlich bereit sind, unversöhnlichen Kampf nicht nur den aktiven „Versöhnlern“ zu erklären, sondern auch all denen, die sie kurzerhand zu den „Versöhnlern“ rechnen!
In dieser Alpdruck-Atmosphäre haben wir ein ganzes Jahr zugebracht. Die Spaltung erschien zuweilen unabwendbar. Alle fühlten den Schrecken der Situation, fast alle begriffen die Frevelhaftigkeit einer Spaltung, aber niemand vermochte sich aus dem stählernen Würgegriff der Geschichte zu befreien.
Die kritische Phase jedoch ist vorübergegangen; die Vertreter der Parteieinheit können jetzt mit gutem Recht vertrauensvoll nach vorn blicken. Die vereinzelten Spaltungsfanatiker, noch ganz kürzlich imponierend in ihrer „Unversöhnlichkeit“, stoßen auf harten Widerstand sogar von Seiten ihrer gestrigen Bundesgenossen.
Es ist klar, dass unsere Partei an einem Wendepunkt ihrer inneren Entwicklung steht, einem Wendepunkt, der, wie wir glauben, die Gesamtheit ihrer revolutionären Tätigkeit betrifft. Die Wende wird bezeichnet sein müssen durch einen Friedensschluss, der erst die Möglichkeit geben wird, alle arbeitsfähigen Kräfte auf die allgemeinen Aufgaben der Partei zu konzentrieren. Eine friedliche Lösung, wie sie von allen gesunden Elementen unserer Partei ersehnt wird, muss im gleichen Atemzug den organisatorischen Tod der sogenannten „Minderheit“ bedeuten.
Wir, die Vertreter der „Minderheit“, werden diesem Tod ohne Betrübnis entgegenblicken, weil er, so merkwürdig das zunächst auch klingen mag, ganz unseren Plänen entspricht. In keinem Augenblick hatten wir das Ziel, die Gesamtpartei zur „Minderheit“ hinüber zu ziehen. Das hätte schon dem etymologischen Sinn unseres Namens widersprochen (die „Partei“ kann nicht in der „Minderheit“ sein), und es hätte zudem zum Bruch mit den Aufgaben geführt, auf Grund derer die „Minderheit“ organisatorisch sich herausbildete.
Diese Aussage erscheint nur auf den ersten Blick paradox: die „Minderheit“, der nicht-offizielle Teil einer offiziellen Partei, kämpfte gegen ein bestimmtes innerparteiliches Regime, das aus geradezu phantastischen Überlegungen über die Wege der Entwicklung der Partei erwachsen ist. Nach diesen Überlegungen entwickelt sich die Partei nicht dadurch, dass die am meisten progressiven taktischen und organisatorischen Richtungen am Leben bleiben, sondern ausschließlich dadurch, dass das mit der Koordinierung und Führung der Partei und des Proletariats beauftragte Zentralkomitee (oder das Zentralorgan oder der Rat) aus bekannten Prämissen logisch neue taktische und organisatorische Konsequenzen zieht. Diese rein rationalistische Denkweise gebiert einen doktrinär-narzisstischen Rigorismus, für den jeder „Andrang“ andersdenkender Elemente eine krankhafte Erscheinung darstellt, ein organisatorisches Geschwür, das den Eingriff der autorisierten Hand des Chirurgen und die Anwendung des Skalpells erfordere.
Wir werden weder im Vorwort noch in der Broschüre selbst die verschiedenen Episoden des beinahe ein Jahr währenden organisatorischen Wirrwarrs darstellen. Zu dieser Frage existiert bereits eine ganze Literatur, die erfolgreich die Zähne der gesamten Partei abstumpfte. [A] Für uns ist im gegebenen Fall lediglich wichtig, dass die „Minderheit“ für sich selbst das Bürgerrecht eroberte – und da die Kampagne prinzipiell geführt wurde, gilt das auch für zukünftige oppositionelle Strömungen. Die jüngste Erklärung des Zentralkomitees, die gleichsam die Summe der im Bewusstsein der Partei eingetretenen Veränderungen zieht und, wenn wir die Absicht ihrer Verfasser richtig verstehen, den entscheidenden Schritt zu einer wahrhaftigen Einigung der Partei darstellt, verweist endgültig und hoffentlich unwiderruflich die Verhaltensweisen und Methoden des „Belagerungszustands“ ins Archiv. So gesehen jedoch bedeutet der Tod jenes Parteiregimes im gleichen Atemzug auch den organisatorischen Tod der „Minderheit“.
„Ruhe in Frieden“, kann diese erleichtert sagen, indem sie sich in der Partei auflöst, „ruhe in Frieden ...“
Im Zusammenhang des Kampfes gegen eine bestimmte innerparteiliche Politik unterzog die „Minderheit“ – oder richtiger ein kleiner, unter besonders günstigen Bedingungen stehender Teil der „Minderheit“ – die politische Praxis der Partei einer kritischen Prüfung und suchte nach neuen taktischen Wegen. Der organisatorische Tod der „Minderheit“ bedeutet nicht die Annullierung der von ihr in diesem Bereich erworbenen Errungenschaften – im Gegenteil; wir nähren die feste Überzeugung, dass die Zerstörung der historisch zwischen zwei Teilen der Partei entstandenen Mauer es erst ermöglichen wird, all ihre Kräfte auf eine Neugestaltung unserer Parteipraxis, auf die gemeinsame Lösung der neuen, durch unsere besondere politische Entwicklung aufgetauchten taktischen Aufgaben zu konzentrieren.
Diese Broschüre versteht sich als Versuch, die von geradezu scholastischen Organisationsdebatten ermüdete und erschlaffte Aufmerksamkeit der Genossen auf jene Fragen der politischen Taktik zu lenken, mit denen das gesamte weitere Schicksal unserer Partei verknüpft ist.
Aber nicht allein taktische Fragen bilden den Inhalt der vorgelegten Arbeit; die schweren inneren Meinungsverschiedenheiten des letzten Jahres kompromittieren nur bestimmte praktische Methoden der „Innenpolitik“, die ihre objektive Existenzprobe nicht bestanden haben. Aber verknüpft mit diesen praktischen Methoden und auf ihrer Grundlage gewachsen, beherrschen prinzipielle Vorurteile noch immer weite Bereiche des Denkens in der Partei. Wir bezweifeln nicht, dass diese Vorurteile letztlich untergehen werden; wir halten es jedoch für unsere Pflicht, dabei aktive Mithilfe zu leisten.
Wir mussten deshalb einen Teil unserer Broschüre dem jüngsten Buch des Genossen Lenin, Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück widmen, in dem verschiedene dieser Vorurteile zu einer Art System erhoben wurden. Wir gestehen, dass wir diesen Teil der Arbeit äußerst ungern erfüllt haben. Wir waren zwar bis zum Erscheinen des genannten Buches sicher, dass Genosse Lenin nichts Bemerkenswertes zur Verteidigung seiner Position sagen könne, weil nämlich die von ihm bezogene Position eine völlig hoffnungslose ist, aber wir hätten doch nicht eine derartige Armut des Denkens erwartet, wie er sie an den Tag legt. Unsere erste Reaktion bei der Lektüre war, schlicht und einfach zu den auf der Tagesordnung stehenden Problemen überzugehen; bei vernünftiger Überlegung jedoch, deren Kern wir weiter unten darstellen, erwies es sich als notwendig, dieses schlichte Übergehen durch ein motiviertes zu ersetzen: der fatale Zustand des Bewusstseins der Partei lässt sich nicht einfach übergehen.
Der Leser freilich, der sich selbst für absolut frei hält von organisatorisch-bürokratischen, „jakobinischen“ Vorurteilen, kann sich auf die ersten beiden Teile der Broschüre beschränken.
Im Lauf der letzten Monate, in denen diese Arbeit entstand – und sie wurde in verschiedenen Zeitabschnitten geschrieben [B] –, verurteilte der Gedanke „keine Zeit“ wiederholt die Hand zur Passivität. In einer Zeit, in der der krepierende Zarismus versucht, die in der Gestalt Japans vor ihm aufgerichtete bürgerliche Nemesis zu bestechen, indem er auf ihrem Opfertisch die Kräfte und Existenzmittel der geschundenen Nation verbrennt, in der sich unten in der Tiefe des Volkes der unsichtbare, aber unausweichliche molekulare Prozess der Anhäufung revolutionären Zorns vollzieht, der vielleicht schon morgen mit elementarer Urgewalt hervorbricht und so, wie reißende Schmelzwasser Brücken und Dämme hinwegspülen, nicht nur die polizeilichen Barrieren, sondern auch den ganzen Bau unserer organisatorischen Ameisenarbeit fortschwemmt, in einer Zeit, in der, wie es scheint, nur eine Lehre, die Lehre des Aufstandes, zeitgemäß, nur eine Kunst, die Kunst der Barrikaden, statthaft ist, in dieser Zeit wegen organisatorischer Vorurteile sich zu streiten, theoretische Sophismen zu entwirren, zu neuartigen taktischen Problemen Stellung zu nehmen, neue Formen der Selbsttätigkeit des Proletariats zu suchen – in diesem beispiellosen historischen Augenblick: „keine Zeit!“ protestiert empört das unmittelbare revolutionäre Empfinden.
Doch – es ist Zeit! antwortet die zuversichtliche Stimme des sozialdemokratischen Bewusstseins – und sie setzt sich durch. Es ist Zeit. Immer ist Zeit.
Niemand weiß Frist und Zeitpunkt im Voraus – und jede Stunde, jede Minute, die noch bleibt bis zum entscheidenden Tag, müssen wir nützen für die Selbstkritik, für die eigene politische Vorbereitung, um uns an den entscheidenden Ereignissen in einer Art zu beteiligen, die sich der großen Klasse, mit der unser revolutionäres Schicksal verbunden ist, als würdig erweist.
Niemand weiß Frist und Zeitpunkt im Voraus. Wenn wider alle Erwartung die Todesstunde der Selbstherrschaft noch auf sich warten lässt, wenn eine Periode der Windstille heraufzieht, die die in der Periode des Aufbruchs entstandenen oppositionellen und revolutionären Gruppen vom politischen Feld verschwinden lässt, werden wir Sozialdemokraten auf unserem Platz in den Reihen des Proletariats bleiben und unsere große Arbeit erfüllen. Weder die Reaktion noch die Revolution kann uns von unseren historischen Aufgaben ablenken.
Wenn freilich – und das mag schon morgen der Fall sein – große Ereignisse anbrechen, werden wir Kommunisten als Vorboten der neuen sozialdemokratischen Welt unsere Schuldigkeit gegenüber der alten bürgerlichen Welt erfüllen müssen. Wir werden auf ihren Barrikaden fechten, wir werden für sie die Freiheit erobern, die sie ohne uns nicht gewinnen kann.
Aber auch in unmittelbarer Nähe dieser Stunde wollen und dürfen wir Kommunisten nicht unsere proletarischen Aufgaben vergessen oder beiseite schieben. Diesen Aufgaben müssen wir unsere revolutionäre Taktik unterordnen, nicht nur im grauen politischen Alltag, sondern auch am Vorabend der revolutionären Explosion und in den stürmischen Tagen der Revolution selbst. Nicht nur über das verbrecherische Haupt des Zarismus, sondern auch über die Spitzen der revolutionären Barrikaden und die Trümmerhaufen der zerstörten Peter-Paulsfestung hinweg müssen wir vorwärts blicken auf unseren weiteren Weg – den Weg des unversöhnlichen proletarischen Kampfes gegen die gesamte bürgerliche Welt!
23. August 1904
N. T.
A. Unlängst veröffentlichte übrigens irgendein origineller Kopf auf 85 Seiten einen von völliger Unkenntnis zeugenden Text in deutscher Sprache, in dem er Europa alle Irrwege und Kleinkrämereien unseres innerparteilichen Organisationskampfes verkündete. Wir würden sehr viel für jeden Deutschen geben, der dieses erstaunliche Werk liest, und noch mehr für den, der darin irgend etwas begreift.
B. Das spiegelt sich auch in Ton und Inhalt bestimmter Kapitel wider. Manches aus dem Inhalt der Broschüre wurde in verschiedenem Zusammenhang in dieser Zeit bereits von anderen Autoren in der Iskra angesprochen.
Zuletzt aktualiziert am 1. November 2024