Leo Trotzki

 

Der Arbeiterdelegiertenrat
und die Staatsanwaltschaft

(Petersburger Untersuchungsgefängnis, Juli 1906)


Nach Russland in der Revolution, Druck und Verlag von Kaden & Comp., Dresden 1910, S. 266–279.
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Der Prozess des Arbeiterdelegiertenrates bildet bloß eine einzelne Episode im Kampfe der Revolution mit der Peterhofer Verschwörerregierung. Schwerlich findet sich sogar unter den vom Polizeigeist erfüllten Vertretern der Staatsanwaltschaft irgend jemand, der tatsächlich der Ansicht wäre, dass das Gericht über die Mitglieder des Delegiertenrates ein juristisch rechtmäßiger Akt gewesen sei; dass der Prozess auf die selbständige Initiative der gerichtlichen Gewalt angeregt worden und geführt worden sei, und dass er sich endlich im Namen der „inneren Anforderungen“ des Rechts vollzogen habe. Jedermann weiß, dass die Verhaftung des Arbeiterdelegiertenrates kein juridischer, sondern ein kriegspolitischer Akt war und eines der Momente jener blutigen Kampagne darstellt, die die vom Volke verleugnete und geschmähte Regierung führt.

Wir wollen hier nicht die Frage näher untersuchen, weshalb bei den Arbeitervertretern von allen sich darbietenden Verfahrensarten der relativ komplizierte Weg des Gerichtshofverfahrens in Anwesenheit von Ständevertretern gewählt wurde. Der Regierung stand eine ganze Reihe anderer nicht weniger wirksamer und doch weit einfacherer Mittel zur Verfügung. Neben dem reichen Arsenal der administrativen Maßnahmen kann auf das Kriegsgericht hingewiesen werden, oder auf jenes Gericht, dessen Namen wir zwar in den Lehrbüchern der Rechtswissenschaft nicht finden, das aber vielerorts mit Erfolg angewendet wurde. Es besteht einfach darin, dass man dem Angeschuldigten empfiehlt, sich gefälligst einige Schritte von den Richtern zu entfernen und ihnen den Rücken zuzukehren. Nachdem die Angeklagten dieser Prozessformalität nachgekommen sind, ertönt eine Salve, die hier die Rolle des Richtspruches übernimmt und den Vorzug hat, weder Berufung noch Kassation auch nur den Namen nach zu kennen.

Wie die Sache aber lag, hat die Regierung, anstatt sich der von ihren Agenten Vorgemerkten 52 Personen im Geheimen zu entledigen, einen gerichtlichen Prozess organisiert, und auf diese Weise kam nicht einfach ein Prozess gegen 52 Personen, sondern ein Prozess des Arbeiterdelegiertenrates zustande. Durch diesen Schritt zwingt sie uns zu einer Kritik der von ihr eingenommenen juristischen Position.

Nach der Anklageschrift wurden die in ihr angeführten 52 Personen beschuldigt, „als Teilnehmer einer Verbindung beigetreten zu sein ..., die sich mit ihrem Wissen die Aufgabe gestellt hatte, die in Russland durch die Grundgesetze festgesetzte Regierungsform durch ihre Tätigkeit gewaltsam umzustürzen und durch die demokratische Republik zu ersetzen“ ...

Das ist der Hauptbestandteil der ganzen Anklage, die dem Inhalt her Artikel 101 und 102 des Strafgesetzbuches entsprechen soll.

Die Anklageschrift schildert also den Arbeiterdelegiertenrat als eine revolutionäre „Verbindung“, die sich auf dem Boden einer vorher formulierten politischen Aufgabe gebildet, als eine Organisation, in der jedes Mitglied durch die alleinige Tatsache seines Eintritts ein bestimmtes, vorher aufgestelltes politisches Programm anerkannt hat. Eine solche Kennzeichnung des Delegiertenrates steht in vollstem Widerspruch mit der Entstehungsgeschichte dieser „Verbindung“, wie sie selbst in der Anklageschrift wiedergegeben wird. Auf der ersten Seite derselben lesen wir, dass die Initiatoren des in der Folge gebildeten Delegiertenrates die Arbeiter aufgefordert hätten, „Delegierte in ein Arbeiterkomitee zu entsenden, das der Arbeiterbewegung Organisation, Geschlossenheit und Macht verleihen“ und als „Vertreter der Petersburger Arbeiter vor der übrigen Gesellschaft“ erscheinen würde „Und in der Tat“ – setzt die Anklageschrift fort – „fanden damals schon auf vielen Fabriken die Delegiertenwahlen statt.“ Worin bestand nun das politische Programm des im Entstehen begriffenen Delegiertenrates? Es gab überhaupt keins. Ja, noch mehr: es konnte überhaupt keins geben, denn, wie aus obigem ersichtlich, bildete sich der Delegiertenrat nicht aus dem Boden des Zusammenschließens politischer Gesinnungsgenossen (wie eine Partei oder eine verschwörerische Organisation), sondern aus dem Boden der Repräsentation (wie ein Magistrat oder eine Landschaftsverwaltung). Aus den Entstehungsbedingungen des Delegiertenrates selbst ist unwiderlegbar ersichtlich, dass die in der Anklageschrift angeführten Personen, ebenso wie die übrigen Mitglieder des Delegiertenrates, nicht einer verschwörerischen Verbindung beitraten, die sich mit ihrem Wissen das Ziel gesteckt hatte, die vorhandene Regierungsform gewaltsam umzustürzen und eine demokratische Republik an deren Stelle zu setzen, sondern einer repräsentativen Körperschaft, deren Tendenz erst durch die nachfolgende Mitarbeit ihrer Mitglieder bestimmt werden musste.

Wenn der Delegiertenrat eine Verbindung darstellt, auf die die Artikel 101 und 102 Anwendung finden, wo liegen denn die Grenzen dieser Verbindung? Die Delegierten treten in den Delegiertenrat nicht nach eigenem Wunsch, als Mitglieder einer Verbindung ein – sie werden von ihren Wählern dahin entsandt. Andererseits wird die Körperschaft der Wähler niemals aufgelöst. Sie bleibt stets auf der Fabrik zurück, vor ihr legt der Delegierte Rechenschaft über seine Tätigkeit ab, und sie beeinflusst durch ihren Vertreter die Tätigkeit des Delegiertenrates auf die entschiedenste Weise. In allen wichtigsten Fragen – Streiks, Kampf für den Achtstundentag, Bewaffnung der Arbeiter – ging die Initiative nicht vom Delegiertenrat, sondern von den vorgeschrittensten Fabriken aus. Die Arbeiterversammlungen fassten Beschlüsse, die von den Delegierten im Arbeiterrat eingebracht wurden. Die Organisation des Delegiertenrates war mithin – formell und de facto – die Organisation der überwältigenden Majorität der Petersburger Arbeiterschaft. Dieser Organisation lag eine Gemeinschaft von Wählerkörperschaften zugrunde, gegenüber welcher der Delegiertenrat in gewissem Sinne dieselbe Rolle spielte wie das Exekutivkomitee gegenüber dem Delegiertenrate. Die Anklageschrift erkennt dies in einem Falle in kategorischer Weise an. „Das Bestreben des Delegiertenrates, die allgemeine Bewaffnung durchzuführen“ – heißt es in der Anklageschrift – „wurde ausgedrückt... in den Beschlüssen und Resolutionen der einzelnen Organisationen, die dem Arbeiterkomitee angehörten“, woraus die Anklageschrift den entsprechenden Beschluss der Versammlung der Arbeiter des graphischen Gewerbes anführt. Doch, wenn der Verband der Arbeiter des graphischen Gewerbes, nach Ansicht der Staatsanwaltschaft dem Delegiertenrate (richtiger: der Organisation des Delegiertenrates) „angehörte“, so wurde jedes Mitglied des Verbandes zum Mitglied einer Verbindung, die sich die Ausgabe gestellt, die vorhandene Staatsform gewaltsam umzustürzen usw. usw. Jedoch nicht nur der Verband der Arbeiter des graphischen Gewerbes, die Arbeiter jeder Fabrik waren durch Entsendung ihrer Delegierten der Organisation des Petersburger Proletariates als Körperschaft bei. Und wenn die Prokuratur die volle und konsequente Anwendung der Artikel 101 und 102, gemäß ihrem inneren Sinn und Gehalt im Auge hatte, so mussten nicht weniger als 200.000 Petersburger Arbeiter die Anklagebank einnehmen. Das war auch der Standpunkt dieser Arbeiter, die im Juni in einer ganzen Reihe energischer Resolutionen die Forderung aufstellten, dass sie zur gerichtlichen Verantwortung gezogen würden. Und diese Forderung war keine politische Demonstration, sie erinnerte die Staatsanwaltschaft an ihre elementarsten juristischen Pflichten.

Allein juristische Pflichten sind das letzte, was die Staatsanwaltschaft im Auge hatte. Sie wusste, dass die Regierung nach einigen Dutzend neuer Opfer lechzte, um ihren „Sieg“ zu krönen – und sie beschränkte deshalb die Zahl der Angeklagten durch eine ganze Reihe handgreiflicher Widersprüche und grober Sophismen.

    Sie ignorierte vollkommen den Charakter des Delegiertenrates als einer gewählten Vertretung und betrachtete ihn als einen Bund revolutionärer Gesinnungsgenossen.
     
    Da sich der Gesamtbestand des Delegiertenrates, 500 bis 600 Personen, für ein tendenziöses Gerichtsverfahren über Verschwörer, die das Kommando über die Arbeitermassen in Händen hatten, als zu groß erwies, hat die Staatsanwaltschaft vollkommen willkürlich das Exekutivkomitee ausgeschieden. Sie ignoriert vollkommen bewusst den Charakter des Exekutivkomitees als einer gewählten Vertretung, wie seine fortwährend schwankende Zusammensetzung und schreibt dem Exekutivkomitee ohne Rücksicht aus die vorliegenden Dokumente Beschlüsse zu, die vom Delegiertenrate in pleno angenommen wurden.
     
    Aus dem Bestande des Delegiertenrates hat die Staatsanwaltschaft neben den Mitgliedern des Exekutivkomitees bloß diejenigen Mitglieder zur Verantwortung gezogen, die „sich an der Tätigkeit des Delegiertenrates persönlich aktiv beteiligt haben“. Eine derartige Ausscheidung beruht auf vollster Willkür. Das „Strafgesetzbuch“ bestraft nicht nur die „aktive, persönliche Anteilnahme“, sondern sogar die einfache Zugehörigkeit zu einer verbrecherischen Verbindung. Der Charakter dieser Anteilnahme ist bloß für den Grad der Strafe ausschlaggebend.

    Was ist nun das Kriterium der Staatsanwaltschaft? Als genügender Beweis der aktiven, persönlichenAnteilnahme an der Tätigkeit einer Verbindung, die sich die Aufgabe gestellt, die bestehende Staatsform [1] gewaltsam umzustürzen, erscheint in den Augen der Anklagebehörde zum Beispiel die Kontrolle der Eintrittsbillette, die Teilnahme an einem Streikposten und endlich das eigene Bekenntnis über die nackte Tatsache der Zugehörigkeit zum Bestand des Delegiertenrates. So führte die Staatsanwaltschaft hinsichtlich der Angeklagten Krassin, Lukanin, Iwanow und Marlottow bloß deren eigenes Bekenntnis an, dass sie dem Delegiertenrat angehörten, und gelangtedaraufhin auf ganz unerklärliche Weise zu der Schlussfolgerung, dass die genannten Personen eine „aktive, persönliche Anteilnahme“ an den Tag gelegt hätten.
     
    Wenn hinzugefügt wird, dass einige „Andersstämmige“, die als Gäste anwesend waren, nicht in geringster Beziehung zum Delegiertenrat standen und aus den Sitzungen desselben kein einziges Wort gesprochen hatten, am 16. Dezember vollkommen zufällig arretiert wurden, so gewinnen wir eine gewisse Vorstellung von der ungeheuerlichen Willkür, die die Staatsanwaltschaft in der Auswahl der Angeklagten an den Tag legte.
     
    Doch auch das ist nicht alles. Nach dem 16. Dezember würden die Überreste des Delegiertenrates durch neue Mitglieder komplettiert, das Exekutivkomitee wurde wieder hergestellt, die Nachrichten setzten ihr Erscheinen fort (Nr. 8 erschien am Tage nach der Verhaftung des Delegiertenrates und der wiederhergestellte Delegiertenrat erließ eine Aufforderung zum Dezemberstreik. Bald darauf wurde das Exekutivkomitee des neuen Delegiertenrates verhaftet. Und was geschah? Obwohl er nur die Arbeiten des alten Delegiertenrates fortsetzte und sich in seinen Zielen und Kampfesmethoden durch nichts von seinem Vorgänger unterschied, wird der Prozess des neuen Delegiertenrates aus irgend welchen Gründen nicht auf gerichtlichem Wege eingeleitet sondern aus den Weg der administrativen Aburteilung gelenkt.

Stand der Delegiertenrat auf dem Boden des Rechts? Nein, er stand nicht und konnte nicht auf ihm stehen, denn ein solcher Boden war gar nicht vorhanden.

Der Petersburger Arbeiterdelegiertenrat konnte sich, wenn er auch wollte, auf das Manifest vom 30. Oktober nicht stützen – und das schon aus dem Grunde nicht, weil er vor dem Manifest entstand: der Delegiertenrat wurde von derselben revolutionären Bewegung geboren, die selbst das Manifest ins Leben gerufen hatte.

Die Anklageschrift basiert voll und ganz auf der groben Fiktion der Kontinuität unseres Rechts im Laufe des letzten Jahres. Die Staatsanwaltschaft geht von der fanatischen Voraussetzung aus, als hätten alle Artikel des Strafgesetzbuches während der ganzen Zeit ihre Wirksamkeit bewahrt, als wäre ihre Anwendung niemals unterbrochen, als wären sie niemals abgeschafft worden – wenn nicht juristisch, so doch de facto.

In Wirklichkeit war eine ganze Reihe von Artikeln durch die Revolution aus dem Strafgesetzbuch ausgeschaltet worden – und das unter stillschweigender Zustimmung der Regierungsgewalt.

Stützten sich die Landschaftskongresse auf das Recht? Kümmerten sich die Bankette und die Manifestationen um das Strafgesetzbuch? Beobachtete die Presse das Zensurreglement? Entstanden nicht die Verbände der Intelligenz vollkommen straflos auf dem Boden des sogenannten „Anmeldungs-Prinzips“?

Bleiben wir aber beim Schicksal des Delegiertenrates. Unter der Voraussetzung der Kontinuität der Artikel 101 und 102 des Strafgesetzbuches betrachtet die Staatsanwaltschaft den Delegiertenrat als eine wesentlich verbrecherische Organisation, verbrecherisch vom Tage ihres Entstehens, infolgedessen erscheint schon der Eintritt in den Delegiertenrat als ein Verbrechen. Wie erklärt sich jedoch von diesem Standpunkte aus die Tatsache, dass der höchste Vertreter der Regierungsgewalt mit einer verbrecherischen Verbindung, die sich die revolutionäre Begründung der Republik als Aufgabe gestellt hatte, in Unterhandlungen trat ? Wenn man auf dem Standpunkt der Kontinuität des Rechts verharrt, müssen die Unterhandlungen des Grafen Witte mit dem Delegiertenrat als ein Kriminalverbrechen qualifiziert werden.

Zu welchem Widersinn die Staatsanwaltschaft durch ihre Verteidigung des nicht vorhandenen Rechtsbodens gelangt, ist aus dem eben angeführten Beispiel mit Graf Witte ersichtlich.

Nach Anführung der Debatten aus Anlass der Entsendung einer Deputation zu Witte, zum Zwecke der Befreiung dreier Mitglieder des Delegiertenrates, die bei einem Straßenmeeting vor dem Kasanski Sobor verhaftet worden waren, nennt die Anklageschrift diese Handlung des Delegiertenrates „einen gesetzmäßigen Versuch der Befreiung der Verhafteten“.

Die Staatsanwaltschaft sieht also „Gesetzmäßigkeit“ in den Unterhandlungen des Grafen Witte, des höchsten Vertreters der Exekutivgewalt, mit einer revolutionären Verbindung, die sich die Aufgabe gestellt hatte, die Staatsordnung umzustürzen, zu deren Schutz Graf Witte berufen war.

Was war nun das Resultat dieses „gesetzmäßigen Versuches“? Die Anklageschrift stellt vollkommen wahrheitsgetreu die Tatsache fest, dass der Vorsitzende des Ministerkomitees „nach Rücksprache mit dem Stadthauptmann den Befehl erteilte, die Verhafteten frei zu geben“. Die Staatsgewalt befriedigte also die Forderungen einer verbrecherischen Verbindung, deren Mitglieder nach dem Sinn der Artikel 101 und 102 nicht in das Empfangszimmer des Ministers, sondern ins Zuchthaus (Katorga) gehörten.

Wo war hier die „Gesetzmäßigkeit“? – War das Straßenmeeting vor dem Kasanski Sobor am 31. Oktober gesetzmäßig? Offenbar nicht, denn die Mitglieder des Delegiertenrates, die es leiteten, wurden verhaftet. War die Entsendung der aus einer regierungsfeindlichen Verbindung hervorgegangenen Deputation an die Regierung gesetzmäßig? Die Staatsanwaltschaft bejaht diese Frage. War die Enthaftung dreier Verbrecher, auf die Forderung einiger hundert anderer Verbrecher hin, gesetzmäßig? Es sollte scheinen, dass gerade die „Gesetzmäßigkeit“ nicht die Freilassung der Verhafteten, sondern die Verhaftung ihrer auf freiem Fuße verbliebenen Helfershelfer erforderte. Oder amnestierte Graf Witte die Verbrecher? Wer verlieh ihm jedoch das Recht der Amnestie?

Der Arbeiterdelegiertenrat stand nicht auf dem Boden des Rechts, doch ebenso wenig stand auf diesem Boden die Regierungsgewalt. Einen Rechtsboden gab es nicht.

Die Oktober- und Novembertage setzten ungeheure Massen der Bevölkerung in Bewegung, weckten eine Unmenge tiefer Interessen, schufen neue Formen des politischen Zusammenlebens. Das alte Regime liquidierte mit dem Manifest vorn 30. Oktober feierlich seine eigene Existenz- Doch ein neues Regime war noch nicht vorhanden. Die alten Gesetze, die mit dem Manifest in direktem Widerspruch standen, waren nicht ausgehoben. Doch tatsächlich wurden sie auf Schritt und Tritt verletzt. Die neuen Verhältnisse, die neuen Lebensformen konnten im Rahmen der selbstherrischen „Gesetzmäßigkeit“ keinen Raum finden Die Regierungsgewalt bildete nicht nur tausende Rechtsverletzungen, sondern sie protegierte sie in einem gewissen Maße ganz offen. Nicht genug, dass das Manifest vom 30. Oktober eine ganze Reihe vorhandener Gesetze logisch aufhob, es liquidierte auch selbst den legislativen Apparat des Absolutismus. Die neuen Formen des gesellschaftlichen Lebens entstanden und gediehen unabhängig von jeder juristischen Sanktion. Eine dieser Formen stellte der Delegiertenrat dar.

Das karikaturenhafte Missverhältnis zwischen den Bestimmungen des Artikels 101 und dem tatsächlichen Wesen des Delegiertenrates erklärt sich daraus, dass der Arbeiterdelegiertenrat eine Institution darstellte, die von den Gesetzen des alten Russlands nicht im geringsten vorgesehen war. Er entstand in einem Augenblick, als die alte, verschütte Rechtshülle an allen Nähten platzte und ihre Fetzen vom revolutionären Volke mit Füßen getreten wurden. Der Delegiertenrat entstand nicht deshalb, weit er juridisch rechtmäßig, sondern tatsächlich eine unbedingte Notwendigkeit geworben war.

Als die herrschende Reaktion nach den ersten Stürmen wieder erstarkte, begann sie die in der Praxis verabschiedeten und abgeschafften Gesetze genau so anzuwenden, wie während einer Schlägerei der erste beste Stein, der einem in die Hand fällt, angewendet wird. Als solch ein aufs Geratewohl aufgegriffener Stein figuriert hier der Artikel 101 des Strafgesetzbuchs, während der Obergerichtshof die Rolle einer Schleuder spielen muss: ihm ist anbefohlen, mit einer bestimmten Strafe über Personen herzufallen, die von einer rohen, unwissenden Gendarmerie im Bunde mit der ihr dienenden Staatsanwaltschaft vorgemerkt sind.

Die vom juristischen Standpunkt aus unhaltbare Position der Anklagebehörde tritt besonders grell hervor in der Frage der Anteilnahme der offiziellen Vertreter der Parteien an den Beschlüssen des Delegiertenrates.

Wie jedem, der mit dem Delegiertenrat in irgendwelche Berührung trat, bekannt sein dürfte, waren die Vertreter der Parteien weder im Delegiertenrat noch im Exekutivkomitee stimmberechtigt; sie nahmen Anteil an den Debatten, aber nicht an den Abstimmungen. Das erklärt sich daraus, dass der Delegiertenrat nach dem Prinzip der Vertretung der Arbeiter der einzelnen Etablissements und Gewerbe und nicht der verschiedenen Parteigruppen organisiert war. Die Vertreter der Parteien konnten dem Delegiertenrat durch ihre politische Erfahrung, durch sonstige Kenntnisse dienen und dienten ihm auch, doch sie konnten nicht stimmberechtigt sein, ohne das Prinzip der Vertiefung der Arbeitermassen zu verletzen. Sie waren, wenn man sich so ausdrücken darf, die politischen Experten des Delegiertenrates.

Diese unanfechtbare Tatsache, deren Feststellung nicht die geringste Mühe kostete, schuf indessen für die Untersuchungs- und Anklagebehörde außerordentliche Schwierigkeiten.

Die erste Schwierigkeit war rein juristischen Charakters. Wenn der Delegiertenrat eine verbrecherische Verbindung darstellte, die sich im Voraus ebensolche Ziele gesteckt hatte, wenn weiter die Angeklagten Mitglieder dieser verbrecherischen Verbindung waren und in dieser ihrer Eigenschaft vor Gericht erscheinen mussten, – was sollte denn mit jenen Angeklagten geschehen, die bloß eine beratende Stimme besaßen und ihren Standpunkt propagieren konnten, aber nicht berechtigt waren, das zu tun, was für das Mitglied einer Verbindung charakteristisch ist, – an den Abstimmungen, das heißt an der direkten und unmittelbaren Leitung des kollektiven Willens der verbrecherischen Gemeinschaft Anteil zu nehmen? Wie das Gutachten eines Sachverständigen vor Gericht einen ungeheuren Einfluss ausüben kann, ohne dass dieser für das Urteil selber verantwortlich zu machen ist, so machen auch die Äußerungen der Vertreter der Partei, welchen Einfluss sie auf die Tätigkeit des gesamten Delegiertenrates auch immer ausüben mochten, diejenigen Personen juridisch nicht verantwortlich, die dem Delegiertenrate erklärten: das ist unsere Überzeugung, das ist die Ansicht unserer Partei, die Entscheidung liegt jedoch nur in Euren Händen. Es versteht sich von selbst, dass es den Vertretern der Parteien vollkommen fern lag, sich hinter dieses Argument vor der Staatsanwaltschaft zu verstecken. Die Staatsanwaltschaft verteidigte ja weder den „Gesetzesparagraphen“, noch „Gesetz“ und „Recht“, sondern die Interessen einer bestimmten Kaste. Und da die Vertreter der Parteien die Interessen dieser Kaste durch ihre Tätigkeit nicht minder untergruben, wie alle übrigen Mitglieder des Delegiertenrates, so ist es ganz natürlich, dass die Rache der Regierung in Form des Richterspruches des Obergerichtshofes in demselben Grade über sie herein stürzen muss, wie über die Vertreter der Fabriken und Werke. Eines aber unterliegt keinem Zweifel: Wenn die Qualifizierung der Delegierten als Mitglieder einer verbrecherischen Verbindung bloß durch die gewissenloseste Vergewaltigung der Tatsachen und ihres juristischen Inhaltes bewerkstelligt werden konnte, so stellt die Anwendung des Artikels 101 gegenüber den Vertretern der Parteien im Delegiertenrate ein verkörpertes juristisches Absurdum dar. So urteilt wenigstens die menschliche Logik, und die juristische Logik kann nicht anders gestattet sein als die allgemein menschliche Logik, aus ein spezielles Gebiet angewendet.

Die zweite Schwierigkeit, aus die die Staatsanwaltschaft bei den Delegierten der Parteien im Delegiertenrate stieß, war politischer Natur. Die Aufgabe, die zuerst dem Gendarmeriegeneral Iwanow und später dem Prokuratorgehilfen Herrn Baltz, ober dem, der ihn begeisterte, den Weg wies, war höchst einfach. Der Delegiertenrat sollte als eine verschwörerische Organisation dargestellt werden, die unter dem Drucke eines Häufleins energischer Revolutionäre die terrorisierte Masse befehligte. Gegen eine solche jakobinisch-politische Parodie auf den Delegiertenrat protestierte alles: die Zusammensetzung des Konventsdelegierten, der offene Charakter seiner Tätigkeit, die Art der Beratung und Entscheidung aller Fragen und endlich die Nichtberechtigung der Vertreter der Parteien an den Abstimmungen teilzunehmen. Was tut nun die Untersuchungsbehörde? Sprechen die Tatsachen gegen sie, um so schlimmer für die Tatsachen: diese werden von ihr auf administrativem Wege aus der Welt geschafft. Aus den Protokollen, aus der Stimmenzahl und endlich aus den Angaben ihrer eigenen Agenten konnte die Gendarmerie ohne irgendwelche Mühe feststellen, dass die Vertreter der Parteien im Delegiertenrate bloß eine konsultative Rolle spielten. Die Gendarmerie wusste das; doch da diese Tatsache den Schwung ihrer staatlichen Erwägungen und Kombinationen hemmte, griff sie vollkommen bewusst zu allem, was die Staatsanwaltschaft irreführen konnte. Ungeachtet der enormen Wichtigkeit der Frage über die juristische Stellung der Vertreter der Parteien im Delegiertenrate wurde diese Frage von der Gendarmerie während der Verhöre systematisch umgangen. Die wissbegierige Gendarmerie interessiert sich angelegentlichst für die Frage, welche Plätze die einzelnen Mitglieder des Exekutivkomitees während der Sitzungen einnahmen, wie sie durch das Erkerzimmer eintraten und hinausgingen usw., sie interessiert sich aber nicht im geringsten dafür, ob die anwesenden 70 Sozialdemokraten, und 35 Sozialrevolutionäre – im ganzen also 105 Personen – in den Fragen über den allgemeinen Streik, den Achtstundentag viw. das Stimmrecht besaßen. Sie richtete gewisse Fragen weder an die Angeklagten noch an die Zeugen, um der Feststellung bestimmter, ihr sehr unbequemer Tatsachen aus dem Wege zu gehen.

Wir sagten seither, dass die Untersuchungsbehörde infolgedessen die Anklagebehörde irreführte. War dem aber so? Die Staatsanwaltschaft wohnt in der Person eines ihrer Vertreter den Verhören bei oder unterzeichnet das aufgenommene Protokoll. Sie hat also stets die Möglichkeit, ihr Interesse für die Eruierung des wahren Sachverhaltes an den Tag zu legen. Es ist eben nur nötig, dass dieses Interesse bei ihr vorhanden sei. Es braucht wohl aber nicht erst besonders versichert zu werden, dass nicht die geringste Spur von diesem Interesse bei ihr zu entdecken war. Sie verdeckte nicht nur handgreifliche „Mängel“ der Voruntersuchung, sondern benutzte sie sogar zu wissentlich falschen Schlussfolgerungen.

In plumpster Form tritt dieser Zug in dem Teil der Anklageschrift zutage, der die Tätigkeit des Delegiertenrates auf dem Gebiete der Bewaffnung der Arbeiter behandelt.

Wir wollen hier die Frage über den bewaffneten Aufstand und die Stellungnahme des Delegiertenrates zu derselben nicht erörtern. Dieses Thema ist in anderen Artikeln behandelt worden. Hier genügt es uns vollkommen, zu erklären, dass sich der bewaffnete Aufstand als revolutionäre Idee, die die Massen begeisterte und die Tätigkeit ihrer gewählten Vertretung lenkte, von der staatsanwaltlich-politischen „Idee“ des bewaffneten Ausstandes ebenso unterscheidet, wie der „Arbeiterdelegiertenrat“ von einer „Verbindung“, die vom Artikel 101 vorgesehen wird. Legen aber die Untersuchungs- und Anklagebehörden ein trostloses, rein polizeiliches Unverständnis an den Tag, verwickeln sie sich hilflos in den politischen Ideen desselben, um so heftiger tritt bei ihnen das Bestreben hervor, die Anklage auf einem so einfachen, mechanischen Ding zu begründen, wie einer Browningpistole.

Trotzdem die Gendarmerieuntersuchung, wie wir weiter sehen werden, der Staatsanwaltschaft nur äußerst bescheidenes Material in dieser Frage zur Verfügung stellen konnte, unternahm der Verfasser der Anklageschrift den durch seine Kühnheit bemerkenswerten Versuch, die Tatsache der massenhaften Bewaffnung der Arbeiter durch das Exekutivkomitee zum Zweck eines bewaffneten Aufstandes zu beweisen. Die entsprechende Stelle der Anklageschrift soll wörtlich zitiert und in ihren Details näher untersucht werden.

„In diese Zeit (Ende November) – heißt es in der Anklageschrift – fällt offenbar auch die tatsächliche Verwirklichung aller oben angeführten Absichten des Exekutivkomitees bezüglich der Bewaffnung der Petersburger Arbeiter, denn nach den Worten des Delegierten der Tabakfabrik von Bogdanow, Gregori Lewkin, wurde auf einer der Sitzungen gegen Ende November beschlossen (von wem?), zur Unterstützung der Demonstrationen bewaffnete Zehnt- und Hundertschaften zu bilden, und eben zu dieser Zeit wies der Delegierte Nikolaus Nemzow auf das Fehlen von Waffen bei den Arbeitern hin, und unter den Anwesenden (wo?) wurde die Einsammlung von Geldspenden zum Zweck der Bewaffnung eröffnet.“

Wir erfahren also, dass das Exekutivkomitee Ende November „alle“ seine Absichten in Bezug auf die Bewaffnung des Proletariats verwirklichte. Wodurch wird das bewiesen? Durch zwei unanfechtbare Zeugnisse. Erstens sagte Gregori Lewkin aus, dass um diese Zeit (offenbar vom Delegiertenrat) der Beschluss gefasst worden war, bewaffnete Zehnt- und Hundertschaften zu bilden. Unterliegt es danach einem Zweifel, dass der Delegiertenrat Ende November alle seine Absichten bezüglich der Bewaffnung der Massen verwirklichte, wenn er eben um diese Zeit die ... Absicht aussprach (oder den Beschluss fasste), Zehnt- und Hundertschaften zu organisieren? Hat aber der Delegiertenrat in der Tat einen solchen Beschluss gefasst? Keine Spur. Die Anklageschrift beruft sich gegebenenfalls nicht auf einen Beschluss des Delegiertenrates (dieser hat tatsächlich nicht existiert), sondern aus die Rede eines Mitgliedes des Delegiertenrates.

Die Staatsanwaltschaft beruft sich also zum Beweis der Verwirklichung der „Absichten“ auf eine Resolution, die sogar, wenn Sie angenommen worden wäre, bloß eine dieser „Absichten“ zum Ausdruck gebracht hätte.

Den zweiten Beweis für die Bewaffnung der Petersburger Arbeiter gegen Ende November lieferte Nikolaus Nemzow, der „eben um diese Zeit (!) auf das Fehlen von Waffen bei den Arbeitern hinwies“. Es ist natürlich nicht leicht zu begreifen, wie dieser Hinweis auf das Fehlen von Waffen als Beweis ihres Vorhandenseins aufgefasst werden kann. Es wird zwar weiter hinzugefügt, dass „unter den Anwesenden die Einsammlung von Geldspenden zum Zweck der Bewaffnung eröffnet würde“. Dass Geldsammlungen zum Zweck der Beschaffung von Waffen unter den Arbeitern vorgenommen wurden, unterliegt keinem Zweifel. Angenommen, dass sie auch im speziellen Falle, den die Staatsanwaltschaft im Auge hat, vorgenommen wurden. Es bleibt aber dennoch vollkommen unbegreiflich, wie aus diesem Umstände gefolgert werden kann, dass „in diese Zeit die tatsächliche Verwirklichung aller oben angeführten Absichten des Exekutivkomitees bezüglich der Bewaffnung der Petersburger Arbeiter fällt“. Weiter: wem machte Nikolaus Nemzow Hinweisungen über das Fehler von Waffen? Offenbar der Versammlung des Delegiertenrates ober des Exekutivkomitees. Es muss infolgedessen angenommen werden, dass einige Dutzend oder einige hundert Delegierte eine Geldsammlung zum Zweck der Bewaffnung der Massen unter sich veranstalteten, und diese an und für sich genügend unglaubwürdige Tatsache figuriert als Beweis, dass die Massen schon damals tatsächlich bewaffnet waren.

Die Bewaffnung der Arbeiter ist somit erwiesen, es erübrigt nur noch, den Zweck derselben aufzudecken. Die Anklageschrift sagt aus diesen Anlasst folgendes: „Diese Bewaffnung wurde, wie der Delegierte Alexius Schischkin bestätigte, unter dem Vorwande eventueller Pogrome unternommen, doch nach seinen Worten dienten die Pogrome bloß als Vorwand, während in Wirklichkeit ein bewaffneter Aufstand, der am 22. Januar stattfinden solle, vorbereitet würde“ „In der Tat“ – setzt die Artklageschritt fort – „wurde die Austeilung von Waffen nach den Worten des Delegierten der Fabrik von Odner, Michael Chacharew, schon im Oktober durch Chrustaljew-Nossar eröffnet, und er, Chacharew, erhielt von Chrustaljew eine Browningpistole „zum Schutze vor dem Schwarzen Hundert“. Indessen wird dieser defensive Zweck der Bewaffnung – abgesehen von allen obenangeführten Beschlüssen des Delegiertenrates – durch den Inhalt einiger Dokumente widerlegt, die in den Papieren des Georgius Nossar gefunden wurden. So fand sich dort unter anderem das Original einer Resolution des Delegiertenrates – ohne Angabe des Zeitpunktes ihrer Abfassung – die die Aufforderung enthält, sich zu bewaffnen und Kampfgenossenschaften und eine Armee ins Leben zu rufen, die „zur Gegenwehr gegen die das Land zerfleischende schwarzhundertlerische Regierung bereit wäre”.

Bleiben wir vorerst bei diesem Passus. Verteidigung vor den Überfällen der Schwarzen Hunderte ist nur ein Vorwand, Zweck und Ziel der allgemeinen Bewaffnung, die Ende November vom Delegiertenrat durchgeführt wurde, ist ein bewaffneter Aufstand am 22. Januar. Dieses wahre Ziel war indessen weder denen, die bewaffnet wurden, noch denen, die diese Bewaffnung durchführten, bekannt, – so dass es ohne die Aussage des Alexius Schischkin auf ewig unbekannt geblieben wäre, dass die Organisation der Arbeitermassen den Aufstand für einen bestimmten Tag angesetzt hatte. Als ein zweiter Beweis, dass das Exekutivkomitee Ende November die Massen für den Aufstand.+ im Januar bewaffnete, dient – wie wir schon gesehen – die Tatsache, dass Chacharew im Oktober.eine Browningpistole “zum Schutze vor dem Schwarzen Hundert” von Chrustaljew erhielt. Abgesehen von allem Übrigen, wird der defensive Zweck der Bewaffnung nach Ansicht des Staatsanwaltes noch durch einige in den Papieren von Nossar gefundene Dokumente widerlegt, so zum Beispiel durch das Original (?) einer Resolution, die die Aufforderung enthält, sich zur „Gegenwehr gegen die das Land zerfleischende Regierung” zu bewaffnen.

Dass der Arbeiterdelegiertenrat die Massen auf die Notwendigkeit der Bewaffnung und die Unvermeidlichkeit des Aufstandes hinwies, ist aus vielen Beschlüssen des Delegiertenrates ersichtlich; diese Tatsache kann von niemand bestritten und brauchte von der Staatsanwaltschaft nicht bewiesen zu werden. Diese stellte sich zur Aufgabe, den Beweis zu erlangen, dass das Exekutivkomitee Ende November „alle seine Absichten” bezüglich der Bewaffnung der Massen verwirklichte und dass diese tatsächlich verwirklichte Bewaffnung direkt und unmittelbar auf den bewaffneten Aufstand hinauslief – und als Beweis führt die Staatsanwaltschaft noch eine Resolution an, die sich von den übrigen dadurch unterscheidet, dass man nicht sagen kann, auf welchen Zeitpunkt sie sich bezieht und ob sie überhaupt jemals im Delegiertenrat zur Annahme gelangte. Und endlich spricht selbst diese zweifelhafte Resolution, die den defensiven Charakter der Bewaffnung widerlegen soll, klar und deutlich von einer Gegenwehr gegen die das Land zerfleischende reaktionäre Regierung.

Damit nimmt das Missgeschick der Staatsanwaltschaft in der Frage der Browningpistolen noch kein Ende.

„Des weiteren” – setzt die Staatsanwaltschaft ihre Ausführungen gegen den defensiven Charakter der Bewaffnung fort – „wurde in den Papieren von Nossar die Zuschrift eines Unbekannten gefunden, aus der hervorgeht, dass Chrustaljew versprochen hatte, auf der Sitzung, die der vom 26. November folgen sollte, einige Revolver, System Browning oder Smith und Wesson, zum Organisationspreis abzugeben und dass der in Kolpino lebende Autor der Zuschrift darum bat, ihm das Verbrochene zu übergeben.“

Aus weichem Grunde angenommen wird, dass der „in Kolpino lebende“ Autor der Zuschrift einen Revolver „zum Organisationspreis“ nicht zum Zweck des Selbstschutzes, sondern unbedingt für dm bewaffneten Aufstand erhielt, ist ebenso unverständlich, wie alles übrige. Denselben Wert hat die andere Zuschrift, die die Bitte enthält, Revolver zu besorgen.

Das Material der Staatsanwaltschaft in der Frage der Bewaffnung der Petersburger Arbeiter erweist sich zum Schluss als äußerst armselig. „Zu den Dokumenten von Nossar“ – beklagt sich die Anklageschrift – „wurden nur unbedeutende Ausgaben für die Beschaffung von Waffen festgestellt, denn (!) in seinen Papieren wurde ein Notizbüchern und ein besonderes Blatt mit Notizen über die Ausgabe von Revolvern verschiedener Systeme und Patronenschachteln gefunden, wobei nach diesen Notizen im Ganzen bloß 64 Revolver ausgegeben wurden.“

Diese 64 Revolver – die Frucht der Verwirklichung „aller Absichten“ des Exekutivkomitees bezüglich der Bewaffnung der Arbeiter für den Januaraufstand setzen die Staatsanwaltschaft offenbar in Verlegenheit. Sie entschließt sich deshalb zu einem kühnen Schritt: kann nicht erwiesen werden, dass Revolver gekauft wurden, so bleibt nichts anderes übrig, als zu beweisen, dass sie gekauft werden konnten. Zu diesem Zweck sendet die Anklageschrift dem traurigen Finale in Gestalt von 64 Revolvern weite Perspektiven finanziellen Charakters voraus. Darauf hinweisend, dass auf der Fabrik der Schlafwagengesellschaft Geldsammlungen für die Beschaffung von Waffen veranstaltet wurden, sagt die Anklageschrift folgendes:

„Derartige Sammlungen ermöglichen es, Waffen zu beschaffen, wobei der Arbeiterdelegiertenrat nötigenfalls Waffen in großen Mengen beschaffen konnte, da er über bedeutende Geldsummen verfügte ... Die Gesamtsumme der Einnahmen des Exekutivkomitees betrug 30.063 Rubel 52 Kopeken;“

Wir sehen hier den Ton und die Manier eines Feuilletons vor uns, das sich sogar um den äußeren Schein einer Beweisführung nicht im Geringsten kümmert. Zuerst werden Zuschriften und „Originale“ von Beschlüssen zitiert, um darauf deren Zeugnis durch eine einfache, kühne Vermutung umzustoßen: das Exekutivkomitee besaß viel Geld, folglich besaß es auch eine Menge Waffen.

Sollte man Schlussfolgerungen nach der Methode der Staatsanwaltschaft konstruieren, so könnte man sagen: die politischen Geheimpolizeiabteilungen verfügen über eine Menge Geld, folglich verfügen die Pogromisten – über eine Menge Waffen. Übrigens sieht diese Schlussfolgerung nur äußerlich der Schlussfolgerung der Anklageschrift ähnlich, denn für jede Kopeke, die der Delegiertenrat besaß, wurde Rechenschaft erstattet – und dieser Umstand ermöglicht es, die kühne Vermutung der Staatsanwaltschaft als handgreifliche Widersinnigkeit leicht zurückzuweisen –, während die Ausgaben der Geheimpolizeiabteilungen ein vollkommen unbekanntes, geheimnisvolles Gebiet darstellen, das schon längst der strafgerichtlichen Beleuchtung benötigt.

Um die Ausführungen und Schlussfolgerungen der Anklagebehörde bezüglich der Bewaffnung endgültig zu erledigen, versuchen wir, sie in knapper logischer Form darzustellen.

These:

Gegen Ende November bewaffnete das Exekutivkomitee das Petersburger Proletariat zum Zweck des bewaffneten Aufstandes../p>

Beweisführung:

    Ein Mitglied des Delegiertenrates forderte auf der Sitzung desselben am 19. November auf, die Arbeiter in Zehnt-, und Hundertschaften zu organisieren.
     
    Nikolaus Nemzow berief sich Ende November auf das Fehlen von Waffen.
     
    Alexius Schischkin war es bekannt, dass der Aufstand für den 22. Januar angesetzt war.
     
    „Schon im Oktober“ erhielt Chacharew einen Revolver zum Schutz vor dem Schwarzen Hundert.
     
    Eine Resolution ohne Angabe des Zeitpunktes spricht davon, dass Waffen nötig seien.
     
    Ein „in Kolpino lebender“ Unbekannter bat, man möge ihm Revolver „zum Organisationspreise“ abgeben.
     
    Obwohl bloß die Verteilung von 64 Revolvern festgestellt worden ist, muss in Betracht gezogen werben, dass der Delegiertenrat im Besitz von Geldern war; da aber das Geld das allgemeine Äquivalent darstellt, so konnte es infolgedessen gegen Revolver eingetauscht werden. Diese Schlussfolgerungen sind sogar als Beispiele elementarer Sophismen für Gymnasiallehrbücher der Logik untauglich, so roh und ungehobelt und in seiner Rohheit beleidigend ist dies alles für ein normal organisiertes Bewusstsein.

Auf dieses Material, auf diese juristische Konstruktion wird sich der Obergerichtshof in seinem Urteilsspruch stützen müssen.

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Anmerkung

1. In der Vorlage steht „Staatsreform“.


Zuletzt aktualiziert am 10. November 2024