Leo Trotzki

 

Brief an den Genossen Ju. Larin

(1. Dezember 1906)


Nach Schriften zur revolutionären Organisation, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 189–211.
Dort mit zahlreichen Fußnoten.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Verehrter Genosse! Bevor ich die Möglichkeit hatte, Ihre Broschüre [A] zu studieren, bekam ich Rezensionen über sie in die Hand, die in keiner Weise als günstig zu bezeichnen sind. Man teilte mir mit, Sie hätten, ungeachtet der Tatsache, dass Sie Ihre Broschüre der sozialdemokratischen Partei „in Liebe und Ergebenheit“ gewidmet hätten, die Partei wie mit dem Spruch eines Lynchgerichtes abgeurteilt und die gewaltige Aufgabe der Organisierung der Massen nicht ihr, sondern statt ihrer einem Arbeiterkongress zugeschrieben. Man sagte, Ihr einstweiliger Voranschlag für eine Partei umfasse eine Million Menschen und sie hätten dabei nur gefordert, dass dazu das (Firmenschild) der gleichen Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei hergenommen werde, der Sie Ihr Büchlein so ehrerbietig zugeeignet hätten. Das Dantonsche Motto (Kühnheit, Kühnheit, Kühnheit), das Sie der Darstellung vorausgeschickt hatten, vermehrte mein Vertrauen in Ihre Arbeit ganz und gar nicht, da ich zu der Annahme bereits ausreichend Grund hatte, Ihre „Kühnheit“ richte sich hauptsächlich gegen unsere Partei – selbstverständlich im Namen einer neuen Partei, deren Vorzüge unschätzbar seien, die zu schaffen Sie jedoch erst noch vorhätten. Offensichtlich entspräche diesem Ihrem Vorhaben das zweite von Ihnen vorausgeschickte Motto: „Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme“. [a] Also gliedert Genosse Larin, so schloss ich, dem altbekannten Dutzend offensichtlich ein dreizehntes Programm des „wirklichen Schrittes“ an.

Allerdings muss ich nach all dem jetzt sagen, dass Ihr Büchlein meine düsteren Vorahnungen nur zum Teil bestätigte. Es verdient meiner Meinung nach unbestreitbares Interesse. Ihre Analyse der revolutionären Entwicklung des Landes und der politischen Formierung der Partei bietet viele treffsichere und lehrreiche Einzelurteile; Ihr gesunder revolutionärer Optimismus stützt sich auf ein großes Maß von Vertrauen in die objektive Entwicklung, und mir persönlich ist das bei weitem sympathischer als die nicht konkretisierbaren Klagen einiger Genossen, die wehleidig sind wie die Totenlieder eines Eskimos. Nichtsdestoweniger sind Ihre taktischen Schlussfolgerungen wertlos.– vor allem in dem Teil, der sich auf die „Schaffung“ einer Massenpartei bezieht. Bei diesen Schlussfolgerungen werde ich ausführlicher verweilen, wobei ich aus der Tatsache Nutzen ziehe, dass Sie die „Kühnheit“ haben, einige typische Vorurteile zu Ende zu entwickeln, auf der anderen Seite jedoch die Fähigkeit besitzen, diese Vorurteile mit einer recht realistischen Abschätzung des Zustands der Partei zu verbinden.

Zunächst gehe ich mit Ihnen völlig einig, dass es schlichtweg gelogen ist, unsere Partei im gegenwärtigen Augenblick eine Partei der Intelligenz zu nennen. Man kann beklagen, dass die Arbeiter noch nicht so weit gekommen sind, einen ernstzunehmenden Führungsstab aus ihrer eigenen Mitte aufzustellen, weshalb in leitenden Organisationen Angehörige der Intelligenz dominieren; man kann beklagen, dass diese leitenden Organisationen unter den Bedingungen der Illegalität von den breiten proletarischen, sozialdemokratischen Schichten getrennt sind, die den wirklichen Körper der Partei bilden. Aber die Behauptung, die Partei sei eine von den elementaren Arbeitermassen getrennte Organisation der Intelligenz, bedeutet eine viel zu spät kommende Wiederaufnahme dessen, was zur Zeit des II. Parteikongresses im Jahre 1903 noch bis zu einem gewissen Grad richtig war.

Die große Menge sozialdemokratischer Intelligenz, die es bei uns gibt, erklärt sich aus allgemeinen sozialpolitischen Ursachen und vor allem aus der gewaltigen revolutionären Rolle des Proletariats in unserer verspäteten bürgerlichen Revolution. Die führende Rolle der Intelligenz in der Partei im besonderen und in der Arbeiterbewegung im allgemeinen hat ihre Ursache einmal in den gesellschaftlichen Privilegien, die die Intelligenz genießt (Bildung und Freizeit), zum anderen in der politischen Jugendlichkeit des russischen Proletariats. Diese Tatsache kann nicht voluntaristisch auf irgendeine Weise beseitigt, sie muss historisch überwunden werden. Und nichts fördert diesen Prozess so sehr als gerade eine große Menge sozialdemokratischer Intelligenz. Bei einem bestimmten Teil der Sozialdemokratie, der sich nahezu ausschließlich aus Intellektuellen zusammensetzt, hat sich die Gewohnheit herausgebildet, die Verhältnisse in unserer Partei „à la Dühring“ darzustellen: Der gerüstete Intellektuelle sei gekommen und habe sich den ungerüsteten Proletarier untergeordnet. Die Konsequenz daraus wäre die, dass es jetzt an der Zeit für uns sei, beiseite zu treten und der Selbsttätigkeit der Proletarier Platz zu machen. „Besser eine organisierte Masse ohne Sozialdemokratie“, schreibt ein Genosse, „als Sozialdemokratie ohne Masse.“ [B] Es versteht sich von selbst, dass unsere Selbstentfernung das kulturell-politische Niveau der Arbeiterbewegung jetzt nur senken und in keiner Weise die Selbsttätigkeit der Massen erhöhen oder ihre Organisiertheit steigern würde. Die große Menge sozialistischer Kader aus der Intelligenz, die Instruktionsfunktionen haben – das ist ein gewaltiges Plus für die Entwicklung der politischen Selbständigkeit des Proletariats. Es ist merkwürdig, dass man sogar darauf bestehen muss; aber die quasi Dantonsche „Kühnheit“ bestimmter Genossen in der Kritik der Partei und ihrer Beziehungen zur Klasse führt zur Verletzung aller historischen Perspektiven. Sie urteilen völlig außerhalb von Zeit und Raum, als hätten sie eine fertige Klassenbewegung unter dem Arm, mit ebenso klaren Losungen wie jetzt, jedoch ausschließlich von Arbeitern geführt; sie philosophieren, als wäre die Partei kein lebendiger Prozess, sondern eine theoretische Spekulation, der man eine andere, noch weit theoretischere Spekulation gegenüberstellen kann.

Den Ausweg aus der Krise der Partei sehen Sie in einem Arbeiterkongress. Im Gegensatz zu vielen eifrigen Anhängern dieser Idee geben Sie ihr jedoch ein geschlossenes und klares Aussehen. Für Sie ist ein Kongress des Proletariats des ganzen Landes weder einfach eine nachdrückliche politische Demonstration oder gar ein vorläufiges Arbeiterparlament, das Entscheidungen zu aktuellen Fragen der Klassenpolitik verkündet, für Sie ist er der konstituierende Kongress einer breiten Arbeiterpartei. Diesem Ziel voll entsprechend umreißen Sie den Kreis des Proletariats, der auf dem Kongress vertreten sein müsse. Sie stellen dem Kongress das Ziel, die fortschrittlichen, aktiven Elemente der Arbeiterklasse, die zugleich organisatorische Einheiten von einigermaßen nennenswerter Größe darstellen, zusammenzuschließen. Unter diese Bestimmung werden, wie Sie schreiben, gleichermaßen alle lokalen Organisationen der Arbeiterklasse in allen sozialistischen Parteien fallen, die Tausende von Menschen umfassen, alle syndikalistischen Gruppierungen mit größerem Mitgliederbestand, die zentralen Institutionen der sozialistischen Parteien, die all die kleineren Organisationen jeder Partei vertreten könnten, die örtlichen Zentralbüros der Gewerkschaften, die kleine syndikalistische Gruppierungen verträten; und schließlich die großen Betriebe mit 2.000 bis 3.000 Arbeitern und mehr, weil alle diese Gruppierungen etwas in sich Geschlossenes und Einheitliches darstellen. Das ist Ihr Plan; die vorhandenen sozialistischen Fraktionen können Ihrer Meinung nach weder die breite Schicht politisch aktiver, aber unorganisierter Arbeiter erfassen noch ihre Verbindung zu den Gewerkschaften festigen, weil die revolutionäre Arbeitermasse, die sich mit dem Bekenntnis zum Prinzip des Klassenkampfes zufriedengebe und nicht nur den Zwistigkeiten zwischen Bolschewiki und Menschewiki, sondern auch den Meinungsverschiedenheiten zwischen der Sozialdemokratie und den Sozialisten-Revolutionären sehr indifferent gegenüberstehe. Für den organisatorisch-politischen Zusammenschluss all dieser Massen ist nach Ihren eigenen Worten eine sozusagen „parteilose Partei“ notwendig: Das ist Ihr eigener Ausdruck! Sie geraten bei der Vorausbestimmung der auf dem Kongress konstituierten parteilosen Partei in Verlegenheit, im lokalen Bereich jedoch stellen Sie sich „die Verschmelzung aller politischen Organisationen jeder Stadt und die Vertretung der großen Betriebe in lokalen Zentralbüros“ vor, „wobei alle Parteikomitees aus Vertretern der gewerkschaftlichen wie der politischen Organisation gebildet würden“. [C] Weil jeder Schritt wirklicher Bewegung wichtiger ist als ein Dutzend Programme, verursacht Ihnen die Frage des Programms der zukünftigen Partei offensichtlich keine schlaflosen Nächte. Sie stellen sich ein genügend breites Programm vor, das sich in dem Bekenntnis zum Sozialismus als dem Endziel und zum Klassenkampf als dem Weg dazu erschöpft; natürlich muss auch der Klassenkampf in einem genügend breiten Rahmen formuliert werden, damit ihn auch die Sozialisten-Revolutionäre aufnehmen können (N B: Wie man weiß, nehmen die SR, allen gängigen Vorstellungen über den Rauminhalt von Körpern zum Trotz, nur „breite“ und keineswegs „eng begrenzte“ Dinge auf). Sie erklären prophylaktisch, dass Sie nicht im Sinn hätten, auf diese Weise die gesamte Arbeiterklasse zu organisieren; Sie schreiben:

„Wenn auch die ganze -zig Millionen starke Menge die Notwendigkeit eines Klassenparlaments mit aller Schärfe nur in außergewöhnlichen Momenten empfinden kann, so ist es doch möglich, den Kreis der progressiven und aktiven Elemente, der 900.000 Köpfe umfasst, jetzt schon in einem Klassenlaboratorium, in einer politischen Partei europäischen Typs fest zusammenzuschließen.“

Neunhunderttausend Köpfe! Welch vortreffliche Zahl! Sie erreicht nahezu die Gesamtstärke der russischen und der japanischen Armee vor Mukden.

Die Gewerkschaften also, die fortschrittlich organisierten Betriebe und Fabriken, die Organisationen der Sozialdemokraten, die Organisationen der Sozialisten-Revolutionäre, die parteilosen Organisationen – all das wird in dem einen gigantischen Reigen der „Arbeiterpartei“ vereint. Wird das dann jedoch ein politischer Reigen sein? Werden Sie tatsächlich eine Partei erhalten, wenn auch eine „parteilose“? Wird das nicht einfach ein Haufen kaum verbundener Gruppen und Individuen sein, ein „Haufen“ zwar, aber trotzdem nicht übermäßig bedeutsam auf einer Fläche von 5 Mio. Quadratkilometern? Worauf beruht die Sicherheit, dass ein so chaotisches Gebilde nicht unmittelbar nach dem Arbeiterkongress wieder in seine Bestandteile zerfällt, sondern sich tatsächlich in eine selbständige Partei des Proletariats transformieren werde? Besteht die Notwendigkeit – und wieso gerade jetzt –, das politische Niveau der progressiven Arbeitermillion zu zementieren! Wird diese breite Basis genügend stabil sein, um auf sie eine kontinuierlich sich entwickelnde Partei zu stellen? Bremsen wir nicht die tatsächliche Formierung der sozialdemokratischen Partei, wenn wir die politische Primitivität breiter Massen programmatisch und organisatorisch fixieren? Fesseln wir nicht die Initiative der wirklich sozialistischen Elemente, wenn wir sie in organisatorische Abhängigkeit von rückständigen Elementen stellen? Ich behaupte nicht, dass meine Fragen Ihre Idee von vornherein ad absurdum führten. Sie werden aber natürlich von jedem Mitglied der Sozialdemokratie gestellt, und sie fordern Antwort, und zwar eine sehr überzeugende Antwort, die alle Zweifel zerstören müsste und es der Sozialdemokratie gestattete, ruhigen Gewissens in einer millionenstarken Arbeiterpartei aufzugehen.

Sie beantworten all diese Fragen sozusagen en gros und sehr knapp; Ihre Antwort ist jedoch so charakteristisch, dass ich sie wörtlich anführe. Sie schreiben:

„Die Wege der Geschichte führen das russische Proletariat auf die Straße eines breiten, gesunden Sozialdemokratismus; und die Bildung einer breiten Partei, die von den Bedingungen und der Erfahrung gezwungen wird, in immer stärkerem Maße sozialdemokratisch zu sein bzw. zu werden – in ihrem ganzen Sein, ihrem Geist und ihrem Verhalten – das liegt auf dieser Straße. Es ist nichts zu befürchten (so versichern Sie uns), wenn man jetzt auch das Firmenschild abnimmt und auf breitem Wege die wirklichen, echten Kräfte der Arbeiterklasse in die Partei hereinholt; es ist keineswegs zu befürchten, dass sie dann die Bewegung schwächen oder sie vom wahren Weg der Klasse abziehen würden. Ist doch von der Avantgarde die Rede, vom besten Teil der Arbeiterklasse – worauf sollten wir Sozialdemokraten denn überhaupt hoffen, welche Bestätigung vom Schicksal überhaupt verlangen – außer der Garantie des zwangsläufigen Gangs der Dinge.“ [D]

In diesen Zeilen ist der grundlegende Kern Ihrer Überlegungen konzentriert: Den marxistischen Objektivismus haben Sie durch einen abstrakten Sozialrevolutionären Fatalismus ersetzt. Sie hoffen auf die „Wege der Geschichte“ und auf den objektiven „Gang der Dinge. Was bezeichnen Sie persönlich jedoch als die „Wege der Geschichte“? Der objektive Gang der Dinge führt die kapitalistischen Länder zum Sozialismus, aber der Sozialismus hat eine selbständige Partei des Proletariats als Klasse zur politischen Vorbedingung, eine Partei, die fähig ist, die Macht in ihre Hände zu nehmen. Es besteht kein Zweifel, dass eine solche Partei sich zu guter Letzt auch bei uns herausbilden wird. Auf welche Weise jedoch wird sie sich herausbilden? Was genau müssen wir jetzt dazu tun? Wie müssen wir den Prozess der Vereinigung der großen Partei der Zukunft erleichtern? Der bloße Appell an die „Wege der Geschichte“ beantwortet diese konkreten Fragen in keiner Weise.

Natürlich werden wir zu guter Letzt zu der richtigen Taktik einer Partei der Klasse gelangen – wie entscheidend unsere Fehler auch sein mögen und welche Pläne zum Handeln uns auch misslingen werden. Das macht jedoch die geistige Arbeit der Partei für die Ausmerzung von Fehlern und falschen Schritten ganz und gar nicht überflüssig. Ich glaube, dass dieser Gedanke zu offensichtlich ist, als dass man ihn noch detailliert entwickeln müsste. Alle „Wege der Geschichte“ führen nach Rom, dem Rom des Sozialismus, es gibt jedoch längere und kürzere Wege; den Menschen ist die Vernunft zu wählen verliehen. Sie allerdings sind ein Kalvinist des Marxismus: Die Wege der Geschichte sind für Sie die Wege der Vorsehung, wobei Sie, wie jeder Fatalist, überzeugt sind, dass die Vorsehung jedes Mal genau den Weg weist, den Sie auswählen. Es gibt keinen überheblicheren Subjektivismus als den Fatalismus!

Aber das ist nicht Ihre individuelle Eigenart allein; wenn Sie sich auch sorgfältig gegen die Masse der russischen Sozialdemokraten abgrenzen, indem sie ihnen Plechanow und Axelrod als Europäer gegenüber Barbaren demonstrieren, so teilen Sie trotzdem – und das ist die Kraft eines barbarischen Milieus! – als Europäer mit vielen russischen Genossen die gleiche „asiatische“ Eigenschaft: den Fatalismus. Die Genossin Rosa Luxemburg hat diesen unseren Charakterzug aufgezeigt und beschrieben; im Vorwort zur russischen Ausgabe ihrer Broschüre über den Massenstreik sagt sie:

„Die russischen Genossen kommen in ihrer grenzenlosen Hoffnung auf den ‚historischen Prozess‘ und seine guten Vorsätze gegenüber der Sozialdemokratie zu Schlussfolgerungen, die für jeden Sozialdemokraten in Deutschland ganz und gar undenkbar und unerklärlich wären.“ [E]

Dieser optimistische Fatalismus ist als Reflex der Bedingungen einer revolutionären Epoche verständlich. Man könnte sich mit ihm als mit einer emotionalen Stimmung noch abfinden; von dieser rein psychologischen Seite ist er mir, wie ich schon erwähnte, bei weitem sympathischer als der bei bestimmten Elementen der Partei aufgepfropfte „Selbstkritizismus“, dessen Psychologie mitunter so lebhaft an jenen Intellektuellen seligen Angedenkens gemahnt, der ewig und dazu noch ohne jedes Resultat nach seiner „Selbstvervollkommnung“ trachtete. Eine emotionale Stimmung aber, und sei sie noch so sympathisch, kann man nicht zur Grundlage einer Taktik machen – Sie selbst wiederholen das im Verlauf Ihrer Abhandlung oft genug.

Unsere Aufgabe besteht keineswegs darin, aus Brettern, Seilen oder gar Stofffetzen, aus der Fahne unserer Partei gerissen, rasch ein Jahrmarktszelt aufzustellen. Es ist zwar ganz unbezweifelbar, dass ein solcher Bau trotz all seiner Ritzen und Löcher bei jeder etwaigen Revolution viel Volk zwischen seinen Wänden versammeln würde; aber was geschieht bei einer Liquidierung der Revolution? Fürchten Sie nicht, dass mit unsrem Bau sich dasselbe ereignen würde, was mit den Jahrmarktsbuden bei Beendigung des Jahrmarkts geschieht? Sie leeren sich und werden abgebrochen! Und wir müssten dann mit Ihnen, verehrter Genosse, die Überreste unserer alten Fahne sammeln, sie zusammenflicken und als revolutionäre Heimstatt aufrichten ...

Sie wissen natürlich, dass ich kein Pessimist bin. O nein! Nicht umsonst pfeifen so viele kritizistische Spatzen meinen hoffnungslosen Utopismus von den Dächern. Ich rechne damit, dass eine siegreiche Entwicklung der russischen Revolution uns auf Grund des inneren Aufbaus der Nation zur Arbeiterregierung führen wird, die sich über das Proletariat auf die Volksmassen stützt; und wenn eine Arbeiterregierung allein durch die Tatsache ihrer Existenz mit all den Kräften, über die sie verfügen kann, die fortgeschrittenen Länder Europas auf den Weg der sozialistischen Revolution stoßen wird, so wird dies die Etappen der politischen Entwicklung des russischen Proletariats stark verkürzen und seinen sozialrevolutionären Kampf sehr erleichtern. [F] Wäre die Arbeiterregierung für mich eine abstrakte Losung, die ich der Bewegung aufzuoktroyieren.trachtete, wäre die permanente Revolution für mich nur eine reine Theorie, die ich unserer Taktik als Ausgangsbedingung voranzustellen strebte – mit einem Wort, wäre ich tatsächlich der Metaphysiker und Utopist, als den mich die oben erwähnten Spatzen zu verschreien suchen, dann würde ich mich mit beiden Händen an Ihre Idee der breiten Arbeiterpartei klammern. Denn eine Arbeiterregierung wird sich ohne Zweifel auf breite politische Gruppierungen des Proletariats stützen müssen, die in ihrer Gesamtheit eine scharf ausgeprägte Klassenorganisation, anfangs noch ohne bestimmtes „Parteiprogramm“, ergeben werden. Unter den Bedingungen einer sozialistischen Revolution in Westeuropa jedoch wird sich ihre „Grundfarbe“ rasch verdeutlichen. Unter solchen Umständen würde die Rolle der russischen Sozialdemokratie, jener „eng begrenzten“ Partei, der wir mit Ihnen angehören, völlig unbedeutend werden, und wir hätten keinerlei Grund, die Konsequenzen ihres Aufgehens in einer breiten Klassenorganisation zu fürchten. Soweit ich verstehen kann, negieren Sie die Möglichkeit einer solchen Perspektive völlig. Ich dagegen halte sie für äußerst wahrscheinlich – weit wahrscheinlicher als die Perspektive einer koalitions-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft (Bolschewiki) oder einer bürgerlich-demokratischen Diktatur mit dem Proletariat in der Opposition (Menschewiki). Wenn ich trotz all dieser bestehenden Meinungsverschiedenheiten die Arbeit Hand in Hand mit Menschewiki und Bolschewiki für durchaus möglich halte (worin Sie jetzt mit mir völlig einig sind), so deshalb, weil wir unsere heutige Taktik aus den derzeit herrschenden Verhältnissen heraus entwickeln müssen, nicht jedoch aus einer mehr oder minder wahrscheinlichen Prognose des weiteren Verlaufs der historischen Ereignisse. In dem Maße, in dem diese Ereignisse auf uns zukommen, werden sie die Meinungsverschiedenheiten beiseite wischen, die auf der Überbewertung bestimmter und der Unterschätzung anderer Kräfte basieren. Unsere Taktik muss jedoch so aufgebaut sein, dass sie uns unter allen Bedingungen ein Maximum an Kraft gewährleistet. Und diese Bedingungen können sich durchaus auch so entwickeln, dass sich in der von uns errichteten gewaltigen Partei kein Platz für uns und für Sie finden wird.

Wir haben in der Tat eine verhältnismäßig günstige Perspektive, die sich aus dem Standpunkt jener Menschewiki ergibt, die annehmen, die Revolution werde in ihren Ergebnissen nicht einfach eine Reproduktion des Jahres 1848 sein: Die bürgerliche Revolution werde „bis zu ihrem Ende“ gehen; an die Macht gelange die revolutionäre kleinbürgerliche Demokratie, die soziale Barbarei und das politische Asiatentum würden vollständig liquidiert, eine breite Agrarreform vergrößere außerordentlich das Fassungsvermögen des inneren Marktes, und die stagnierenden Produktivkräfte des Landes müssten sich in fieberhaftem Tempo entwickeln.

Wie würde unter solchen Bedingungen die Stimmung des Proletariats sein? Das rasche Wachstum der kapitalistischen Produktion würde es auf den Weg syndikalistischer Organisation und ökonomischer Eroberung stoßen. Ein erfolgreicher Kampf auf diesem Wege würde in einer Atmosphäre des allgemeinen nationalen Aufschwungs weite Kreise qualifizierter Arbeiter der liberal-demokratischen Ideologie sich zuwenden lassen. Die Opportunisten, die jetzt noch in ihren Löchern sitzen und mürrisch den Bast weich kauen für ihre selbst geflochtenen „kritischen“ Sandalen, werden ans Licht des Tages krabbeln und unter den Arbeitern ihr Auditorium finden. Eine „breite Arbeiterpartei“ kann unter solchen Bedingungen zum Wahlapparat der an der Macht befindlichen Demokratie werden.

Sie werden mir antworten, dass diese Perspektive Sie ganz und gar nicht schrecke: Wie die Trunkenheit im Katzenjammer ende, so werde auch eine Blüte des Kapitalismus zu einer industriellen Krise und damit zur Verschärfung des Klassenkampfes und zur Zerstörung der bürgerlich-nationalen, demokratischen Ideologie führen. Ganz ohne Zweifel! Zu guter Letzt wird das Proletariat zu sich selbst finden. Aber das ist doch ein rein formalistischer Trost. Die wirkliche Aufgabe, die wir uns stellen, ist doch, dem Proletariat zu helfen, dass es auf dem kürzesten Weg zu dieser Selbsterkenntnis gelange. Und ich denke, dass wir bei den oben charakterisierten Verhältnissen begreifen würden, welch gewaltiger Fehler es gewesen wäre, die sozialistische Organisation in der breiten Masse aufgehen zu lassen. Es würde uns dann nämlich nichts anderes übrigbleiben, als von neuem Gesinnungsgenossen in einer „engen“ Parteiorganisation zu sammeln – vorausgesetzt natürlich, wir selbst hätten auf Grund des Nichtvorhandenseins einer verbindlichen Richtlinie der Partei unsere sozialistischen Überzeugungen nicht verloren.

Rosa Luxemburg sagt in dem bereits zitierten Vorwort:

„Wenn die Wogen der revolutionären Flut zurückweichen und die unschönen, schroffen Konturen der ‚normalen‘ Klassenherrschaft der bürgerlichen Klassen hervortreten, dann wird auch in Russland der ‚historische Prozess‘ aufhören, der Sozialdemokratie fertige Früchte in den Schoß zu legen, und im Endergebnis wird sich zeigen, dass sie nur so viel an Kraft und Einfluss gewonnen hat, wie sie sich zu sichern verstand in der revolutionäres Einwirken auf den Arbeiterkampf.“ [G]

Das dürfen wir nicht vergessen – wie wir uns den weiteren Gang der Revolution auch immer vorstellen mögen.

Sie glauben, dass eine breite Arbeiterpartei in ihrem Bestand nicht nur zahlreiche Schichten parteiloser Arbeiter und die Gewerkschaften einschließen müsse, sondern auch die jetzt einander befehdenden sozialistischen Fraktionen assimilieren werde. Aber stellen Sie sich in irgendeiner Form konkret vor, worin diese Assimilierung bestehen und was genau die neue Partei am Tage nach dem Kongress darstellen wird? Darüber gilt es nachzudenken.

Natürlich wird kein Arbeiterkongress uns und auch Ihnen den Marxismus abgewöhnen – ist es nicht so? Nicht umsonst teilen Sie zu Ihrer Rechtfertigung mit, Sie hätten schon zwei Broschüren gegen die Sozialisten-Revolutionäre geschrieben, und versprechen eine dritte. Ich glaube sogar, dass Sie gerade nach dem Kongress unter dem Eindruck des Zusammenseins mit neuen Genossen bei der Partei mit dieser dritten beginnen werden. Die Sozialisten-Revolutionäre werden die Antwort natürlich nicht schuldig bleiben; diese wie jene Partei wird nach Selbstbehauptung innerhalb der parteilosen Partei trachten und die innerfraktionelle Bindung und Disziplin eifrig auf Kosten der gesamtparteilichen aufrechterhalten. Die offene Errichtung einer Massenpartei ist lediglich unter relativer politischer Freiheit denkbar, d. h. zugleich mit einer neugegründeten vielfältigen sozialistischen Presse; die unvermeidliche fraktionelle Polemik wird auf der ganzen Linie entbrennen. Die Agitatoren der Sozialisten-Revolutionäre und die sozialdemokratischen Agitatoren werden wie zuvor um Einfluss auf die parteilosen Teile der „Partei“ kämpfen. Und der Fraktionskampf innerhalb der Sozialdemokratie? Wird er vielleicht an Schärfe verlieren? Worauf gründen sich solche Erwartungen? Sie selbst bezeichnen, offensichtlich um zu zeigen, wie leicht es sei, sich mit den Sozialisten-Revolutionären zu einigen, Tschernow als Genossen (t.). Ich persönlich kann dagegen keinen Einwand erheben. Bedauerlich ist nur, dass Sie in derselben Broschüre den Bolschewik Lidin, einen in seinem fraktionellen Konservativismus zugegebenermaßen hoffnungslosen Doktrinär, nicht „Genosse“ (t.), sondern „Herr“ (g.) nennen. Aber vielleicht ist das ein Druckfehler? Vielleicht, vielleicht – aber welch ein von der Vorsehung bestimmter Druckfehler! Ich fürchte, die Korrektoren der künftigen breiten Partei werden diesen Druckfehler zur Norm erheben.

Der Fraktionskampf mit all seinen gewichtigen Konsequenzen wird bleiben. Und das ist im Grunde ein Glück: Denn die Fraktionen sind schließlich organische Gebilde, während eine plötzlich geschaffene Partei von einer Million Köpfen eine völlig mechanistische Vereinigung von Gruppen und Personen wäre. Wenn wir somit – ich korrigiere mich in dem, was ich oben sagte – nicht zu der traurigen Notwendigkeit kommen werden, von vorn zu beginnen, so nur deshalb, weil Ihre Massenpartei alles beim Alten belassen wird; sie wird zu Schlechtem wie zu Gutem nahezu gleich kraftlos sein.

Die Hoffnung, dass ein Arbeiterparlament, das nicht zur Führung des aktuellen praktischen Klassenkampfes, sondern zur Ausarbeitung allgemeiner Normen politischen Verhaltens einberufen wurde, den Kampf der Parteien und Fraktionen regulieren könnte, stammt aus dem Reich der Fiktionen.

Fragen Sie den Genossen Tscherewanin – er wird Ihnen klar und deutlich sagen, was er unter diesen Umständen notwendigerweise von dem Kongress erwartet; seine Antwort wird sein:

„Wenn die Partei nicht die Kraft hat, im Proletariat als einziges Ganzes zu wirken, und wenn sie ebenso wenig die Fähigkeit besitzt, in mehrere selbständige Teile zu zerfallen, dann bleibt als einziger Ausweg die Appellation an das gesamte Proletariat in Gestalt eines Arbeiterkongresses.“

„Die Masse der Arbeiter (so klagt Tscherewanin) hat eine außerordentlich verworrene Vorstellung nicht nur von den Meinungsverschiedenheiten, die unsere Partei zerreißen, sondern auch von den Meinungsverschiedenheiten zwischen den Sozialdemokraten und den Sozialisten-Revolutionären.“

„Wir müssen unsere Meinungsverschiedenheiten auf dem Kongress nicht aufheben, wie uns bestimmte Leute vorschlagen (erklärt Tscherewanin weiter), sondern sie im Gegenteil durch den Kongress in der breiten Masse entwickeln.“ [H]

Sehen Sie, wie die Sache steht? Es wird deutlich, dass die lebendige politische Realität, die die Arbeitermassen in ihren Strudel hineinzieht, bis jetzt nach unseren politischen Meinungsverschiedenheiten keine große Nachfrage zeigt; und weil ja bekanntlich für die Realität keine Meinungsverschiedenheiten bestehen, sondern sie selbst als Material für Meinungsverschiedenheiten herhalten muss, so scheint es natürlich, dass wir den Arbeiterkongress brauchen, um unsere fraktionellen Eigenqualitäten in vollem Umfang zu entwickeln. Sie, Genosse, werden vielleicht fragen, ob sich ein Kongress, der das proletarische Niveau in einem gegebenen Augenblick widerspiegelt, in irgendeiner Weise empfänglich zeigen wird für fraktionelle Eigenarten, die sich im Laufe ihrer ganzen politischen Praxis bis jetzt so wenig an das Bewusstsein der Masse angepasst haben? O keine Sorge! Wenn man eine Weile auf dem Kongress mit Händen und Füßen arbeitet, kann man sicherlich in die Köpfe der Arbeiterdeputierten die Vorstellung von einer „wahrhaftigen“, konsequentem, diszipliniertem Sozialdemokratie einmeißeln; natürlich nur unter der Bedingung, dass der Kongress, der sich im Namen politischer Aufgaben versammelt hätte, nicht schon lange vor Beendigung unserer fraktionellen Selbstbestimmung auseinander laufen oder – was viel wahrscheinlicher ist – ein paar Dutzend Fraktionierungsmaniaken vor die Türe setzen würde.

Natürlich teilen wir Tscherewanins Pläne ganz und gar nicht, und vielleicht lesen Sie diese Zeilen mit einigem Wohlwollen. Sie glauben vermutlich sogar, dass Sie mit Ihrem Leviathan einer breiten Arbeiterpartei sich von dem Fraktionisten und Spalter Tscherewanin unterscheiden wie der Himmel von der Erde. Aber ich versichere Ihnen, Sie sind Ihrem Antipoden in der Tat näher, als Sie annehmen. Sie vereint ganz eng eine völlig unmarxistische Vorstellungsweise von den Wegen der Parteientwicklung. Die komplizierte innere Mechanik dieses Prozesses ist Ihnen beiden völlig fremd.

Ich verstehe sehr wohl, dass ich beleidigend spreche – besonders gegenüber dem Genossen Tscherewanin, der sich selbst zu dem kleinen, aber ausgewählten „Häufchen von Intellektuellen und Arbeitern“ rechnet, „die sich die richtige sozialdemokratische Taktik angeeignet haben“. [I] Nichtsdestoweniger bestehe ich auf meiner Ansicht. Tscherewanins Vorstellung ist durch und durch von Rationalismus getränkt. Offensichtlich küsste er niemals die Lippen der schönen Fee des dialektischen Denkens.

Für Tscherewanin ist die „richtige sozialdemokratische Taktik“ die Summe einiger Prinzipien, die sich das „Häufchen von Intellektuellen und Arbeitern“ erworben hat.

Wenn er sich jenem realen Prozess unmittelbar stellt, jenem Prozess, der durch eine ganze Reihe von Widersprüchen hindurch Prinzipien in lebendige Taktik verwandelt, ist er völlig eingeschüchtert; er sieht nur Verwirrung, Fehler, Abweichungen – und bemerkt ganz und gar nicht das wirkliche Skelett, aus dem diese Fehler herauswachsen – nämlich gerade aus der im Formierungsprozess begriffenen Partei. Erschreckt durch die Proben der Verwandlung des Wortes in die Tat, ruft er ein Häufchen Auserwählter auf, den verpesteten Ort zu verlassen und die echten, wahrhaftigen Prinzipien vor dem jungfräulichen Bewusstsein der breiten, außerhalb der Partei stehenden Arbeiterkreise zu demonstrieren. Er versteht eines nicht: Sobald man sich seine Prinzipien aneignen wird, werden all die Widersprüche hervortreten, vor denen er sich davonzulaufen bemüht. Fürwahr eine Tragödie: Das ist der Kampf des Geistes mit dem eigenen Fleisch!

Aber auch Sie, teurer Genosse, sind um nichts besser. Ihre Ratio blendet lediglich mehr. Tscherewanin hofft, dass die polemische Diskussion auf dem Arbeiterkongress den richtigen Prinzipien die Oberhand geben werde. Sie setzen auf dem Arbeiterkongress nicht auf geschickt formulierte Prinzipien und fraktionelle Polemik, Sie setzen auf den „objektiven Gang der Dinge“. Sie wenden sich jedoch ebenfalls mit dem Rücken zu jenem lebendigen politischen Reichtum, den wir besitzen: zu unseren Fraktionen, die in ihrem Kampf und in ihrer Zusammenarbeit, in ihrer komplizierten Wechselwirkung mit der Masse, in ununterbrochenen Zusammenstößen und Abweichungen die „konsequente sozialdemokratische Massenpartei“ schaffen. Und vertrauen Sie darauf, dass gerade diese Arbeit den besseren Teil jenes objektiven Gangs der Dinge darstellt, der das Proletariat auf den Weg der sozialistischen Selbstbestimmung führt! Als Metaphysiker jedoch berücksichtigen Sie das nicht, und als Utopist wollen Sie mit einer einzigen heroischen Geste den „Leviathan mit der Angel an Land ziehen“.

Für den Genossen Tscherewanin ist die Revolution mit einer großen Zahl von „Versuchungen“ erfüllt. Die kleinbürgerlich-anarchistisch-blanquistischen Geister lauern unserer Partei Tag für Tag, hinter jedem verfaulten Baumstumpf auf. Für den „wahren, konsequenten Sozialdemokraten“ ist es geradezu gefährlich, spätabends aus dem Hause zu gehen.

Die Ausarbeitung einer „wahren“ Klassentaktik stößt auf tausend Hindernisse. Der Satan des bürgerlichen Revolutionismus nimmt immer neue Gestalten an. Soeben verdrängte man die Sozialisten-Revolutionäre aus der Mitte des Proletariats – und sie standen unverzüglich in Gestalt der Bolschewiki wieder auf. Genosse Tscherewanin wäre bereit, mit den Bolschewiki zu brechen und sie aus der Partei auszuschließen, aber ein Zweifel gebietet ihm Einhalt: Wird nicht vielleicht die „bolschewistische“ Strömung am Tage nach der Spaltung inmitten der Minderheit selbst wiederauferstehen? Das Bild wird deprimierend. Und wenn der Genosse Tscherewanin trotzdem die Hände nicht sinken lässt und trotz allem einige Hoffnung auf das Bewusstsein der „wahren, konsequenten, disziplinierten“ Sozialdemokratie setzt, so verdankt er das nicht seiner völlig entmutigenden Analyse, sondern dem Mut seiner sozialistischen Seele. Woher kommen all diese Versuchungen und Prüfungen? Genosse Tscherewanin fügt bei dieser Frage dem in der Literatur der Minderheit und vor allem in den Artikeln des Genossen Axelrod bereits Vorhandenen nichts Neues hinzu, indem er sagt, das russische Proletariat müsse sich in einer Partei zusammenschließen, wenn die Bourgeoisie noch nicht an der Macht stehe, wenn die bürgerliche Nation noch auf revolutionäre Weise um die Herrschaft kämpfe. Das schaffe rings um das Proletariat eine Atmosphäre der Einheit der revolutionären Interessen des Volkes und stoße „das Volk“ unter die Hegemonie der revolutionären Vertreter „der Gesellschaft“. Von daher wachse auch die Gefährlichkeit rein jakobinischer politischer Methoden innerhalb der Sozialdemokratie selbst.

Gegen diese Analyse – wenn man in ihr die Darstellung einer einzigen der Tendenzen der revolutionären Entwicklung sieht – lassen sich keine Einwände erheben. Im Gegenteil, sie sollte bei Überprüfung der allgemeinen Richtung unserer Politik immer im Blickpunkt stehen. Das bedeutet jedoch exakt: Analyse. Genosse Tscherewanin macht aber aus ihr eine komplette Vogelscheuche, und diese Vogelscheuche steht an der Stelle, wo er das Land der „disziplinierten“ Sozialdemokratie zu schauen gedenkt.

Man habe den Blanquismus in Gestalt der Sozialisten-Revolutionäre vertrieben, beschwert sich Tscherewanin, und er habe sich unverzüglich in die Gestalt der Bolschewiki verwandelt. Ich leugne keineswegs, dass unter den Bolschewiki mitunter Tendenzen auftauchen, die nahe an die Sozialisten-Revolutionäre heranreichen. Bilden diese Tendenzen jedoch das Wesen der politischen Arbeit der Bolschewiki? Tscherewanin beruft sich auf einige Artikel und Resolutionen der Bolschewiki über die Partisanenaktionen, Expropriationen etc. und schließt mit dem Aufschrei: Kann man mit ihnen noch in einer Partei leben? Wenn Tscherewanin ein Bild von den Bolschewiki zeichnet, dann erhebt sich unwillkürlich die Frage: Worin unterscheiden diese Herren sich von den Maximalisten-Expropriateuren, Anarchisten-Kommunisten usw. Ich persönlich hege sehr wenig Sympathie für diese Tendenzen, anhand derer Tscherewanin das Problem der Spaltung aufwirft. Für mich jedoch sind die Bolschewiki nicht einige Artikel und einige – wenn auch anarchistische – Resolutionen, sondern ein bedeutender Teil der sozialdemokratischen Partei. Und wenn ich mich bemühe, mir selbst über die Gefahren des „Bolschewismus“ Rechenschaft abzulegen, dann nehme ich ihn nicht als isolierte Erscheinung, sondern in seiner lebendigen Verbindung mit der anderen Fraktion, mit der gesamten Partei und über sie mit der gesamten Arbeiterbewegung. Deshalb nehme ich die Artikel und Erklärungen ohne Verzweiflung auf, in denen sich ohne Zweifel die anarchistische Seite der Revolution widerspiegelt. Meine Vorstellung von der Partei sagt mir, dass der literarisch-anarchische Belag, der den Exzessen bestimmter Gruppen der in den Untergrund getriebenen revolutionären Masse anhaftet, abgelöst werden wird durch einen neuen revolutionären Aufschwung, dass die Verbindung der Bolschewiki zu den Massen zu groß, die Bewegung des Proletariats zu klar, die politischen Tendenzen zu eindeutig sind, als dass einer vieltausendköpfigen Fraktion unserer Partei die Gefahr drohte, sich in Gruppen von Partisanen und Expropriateuren zu verwandeln. Natürlich war die Kritik schädlicher Tendenzen durch die Partei notwendig. Aus diesem Anlass jedoch das Problem der Spaltung aufzuwerfen, ist Ausdruck von äußerst fragwürdiger politischer Reife.

Tscherewanin verwandelt eine Tendenz in ein Faktum und ersetzt die materialistische Analyse durch eine aufgesetzte Schablone. Die Sozialisten-Revolutionäre sind für ihn das Muster des Blanquismus; man muss lediglich zwischen ihnen und den Bolschewiki Ähnlichkeit, wenn nicht gar Identität herstellen – und das Problem ist gelöst. Indessen lässt Genosse Tscherewanin den Umwandlungsprozess völlig außer acht, den die Sozialisten-Revolutionäre selbst durchmachen. Nicht nur die Arbeiterdeputierten, die durch die Schule der Sozialisten-Revolutionäre gegangen waren, sondern auch die offiziellen Vertreter dieser Partei selbst, mit denen wir im Petersburger Arbeiterdeputiertenrat zusammenarbeiten mussten, sind weit von jenem archaischen Typus entfernt, der seinerzeit vom „Westnik Russkoj Revoljuzi“ und in vielen Artikeln der Revoljuzionnaja Rossija repräsentiert war. Man braucht sich nur die frühere oberflächliche Analyse der Klassenunterschiede) in der „einen“ revolutionären Bewegung ins Gedächtnis zurückzurufen, die der Semstwo-Opposition nicht nur demokratischen, sondern sogar sozialistischen (!) Charakter zuerkannte, um zu sehen, wie stark sich die Sozialisten-Revolutionäre, die in den Städten arbeiten, dem von der Klassenanalyse bestimmten Sozialismus angenähert haben. Es ist wahr, ihr Standpunkt bleibt weit hinter ihrer politischen Praxis zurück. Aber schon jetzt erscheint ein weiteres Verbleiben in der Partei der „Volkssozialisten“ einerseits und der „Maximalisten“ andererseits unmöglich. Die sozialdemokratische Kritik war vollständig berechtigt, wenn sie bei den Sozialisten-Revolutionären die zwiespältige Tendenz zu Anarchismus und kleinbürgerlichem politischem Radikalismus aufzeigte. Die politische Erfahrung kam unserer Kritik zu Hilfe und markierte den Beginn einer unvermeidlichen Differenzierung. Es ist höchst bemerkenswert, dass die Polnische Sozialistische Partei (PPS) die unseren Sozialisten-Revolutionären in vielem ähnlich ist und sich mit ihnen in Übereinstimmung befindet, jetzt eine gleichartige Entwicklung durchmacht. Erst vor kurzem spaltete sich von der PPS ein blanquistisch-nationalistischer Flügel ab, und die Erklärung des Zentralkomitees über diese Spaltung zeigt, wie rasch dieser Teil der polnischen Arbeiterdemokratie sich dem wahren, von Klassenanalyse bestimmten Sozialismus nähert. Die Kritik der polnischen Sozialdemokratie spielt in diesem Fall keine kleine Rolle. Entscheidende Bedeutung kommt jedoch den Fakten der Revolution zu.

Aber wir wollen nicht abschweifen. Die Tendenz in Richtung der sehr überheblichen jakobinischen Geringschätzung der Masse wird ohne Zweifel von der bürgerlichen Revolution erzeugt. Dem stehen andere Kräfte und Einflüsse gegenüber: der erhabene soziale Typus unseres Industrieproletariats, der den Sansculottes der Jahre 1789–93 und den Handwerksgesellen des Jahres 1848 dutzendfach überlegen ist, die bedeutende Zahl bewusster Sozialisten unter den Arbeitern, das Beispiel und der Einfluss des Klassenkampfs im Westen, usw., usw. Und ich denke, dass jeder Sozialdemokrat – sofern er nicht wie ein fraktioneller Sektierer das Leben mit den Augen eines Staatsanwalts betrachtet – erkennen wird, dass die objektive Entwicklung nicht nur nicht die Bolschewiki von der Sozialdemokratie abzutrennen und ins Lager des Anarcho-Blanquismus zu werfen trachtet, sondern im Gegenteil schon viel dafür getan hat, selbst den Sozialisten-Revolutionären, wenigstens ihren städtischen Elementen, Programm und Taktik des Klassenkampfes näher zu bringen. Wie peinlich, dass Tscherewanin keine Zeit bleibt, sich mit diesen Beobachtungen zu befassen: Er träumt von der Spaltung der Partei als einem Mittel, die Gerechten der Sozialdemokratie vor der Sintflut der bürgerlichen Revolution zu retten.

Bemerken Sie jedoch, Genosse, wie einseitig Tscherewanins Pessimismus ist? Das zeigte sich schlagend im der Polemik anlässlich der Frage der Wahlabkommen mit der liberalen Bourgeoisie. Die Publizisten der Mehrheit wiesen und weisen bekanntlich darauf hin, welche Gefahren für die Klarheit des Klassenbewusstseins Wahlabkommen im ersten Wahlstadium bedeuten. Tscherewanin weigert sich rundweg, diese Gefahr zu sehen: Eine oppositionelle Duma liege im Interesse der Freiheit, die politische Freiheit im Interesse des Proletariats, Übereinkommen mit den Kadetten ermöglichten die Bildung einer oppositionellen Duma – und überhaupt, wieso sollte die Erläuterung der Bedingungen, die den Klasseninteressen des Proletariats dienten, sein Klassenbewusstsein trüben? Das ist Tscherewanins Reflexionsschema. Inzwischen aber wissen wir doch einiges über die westeuropäische Praxis der Übereinkommen, die ihre innere Logik hat und zur Politik des „Blocks“ der Arbeiter mit den radikalen Bourgeois führt. Westeuropa – das ist eine andere Sache, erwidert uns der Genosse Tscherewanin, da steht die Bourgeoisie bereits am Ruder, bei uns aber muss man sie erst am Kragen zum Ruder schleifen. Vortrefflich – aber soeben vernahmen wir doch, dass gerade dieser Unterschied zwischen uns und dem parlamentarischen Westeuropa die Gefahr der Unterordnung des Proletariats unter die oppositionelle politische Führung der Bourgeoisie mit sich bringt. Versteht der Genosse Tscherewanin denn nicht, dass Abkommen mit der liberalen Opposition dieser Tendenz entgegenkommen? Oder denkt er, schon die Idee der „Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft) vermöge das Bewusstsein des Proletariats zu trüben, während die Praxis politischer Abkommen keine Gefahr in sich berge? Warum wird sie dann das „kleinere Übel“ genannt? Es ist naiv zu denken, uns bedrohe allein der Anarcho-Blanquismus. In dem Maße, in dem wir in die Einflusssphäre des Parlamentarismus eintreten, stoßen wir auf vulgärsten Opportunismus. Was unter bestimmten Bedingungen für uns ein „unvermeidliches Übel“ ist, bedeutet für die Opportunisten den Stein der Weisen in der Politik. Man braucht sich nur ins Gedächtnis zu rufen, wie sehr sich die Revisionisten des „Towarischtsch“ an die Fahne des „Blocks“ klammern, wie sie bemüht sind, die Menschewiki von den Bolschewiki loszureißen und letztere in einer Tintenpfütze zu ertränken, um klar zu sehen, dass all dies nicht einer Rettung des Proletariats vor dem „ Anarcho-Blanquismus“ zuliebe geschieht, sondern in der Absicht, die Sozialdemokratie auf den Weg der „Realpolitik“ zu ziehen, d. h. ihr einen kläglichen reformistischen Utopismus aufzupfropfen. Ich denke keineswegs, all das, womit die Revisionisten sympathisieren, verfalle per se dem Höllenfeuer; im Gegenteil – ich trete für ein Abkommen ein. Aber ich erlaube mir die Meinungsäußerung, die wechselseitige Sympathie zwischen Revisionisten und Kadetten sei ebenso charakteristisch für jede opportunistische Abweichung, wie die Sympathie der Sozialisten-Revolutionäre charakteristisch ist – für alle auftretenden blanquistischen Tendenzen. Gefahr besteht auf beiden Seiten, und deshalb muss ein Sozialdemokrat „auf beides“ blicken. Genosse Tscherewanin jedoch schielt ein wenig auf dem rechten Auge; wir hoffen aber, das möge ihm in seiner weiteren politischen Tätigkeit keine Unbequemlichkeiten bereiten.

Während Sie uns vorschlagen, einen Salto mortale ins Ungewisse zu vollbringen, halten Sie es für unerlässlich, sich gleichzeitig auf historische Präzedenzfälle zu stützen. Einmal verweisen Sie auf England, wo das Proletariat „den Klassenkampf mit Hilfe der Bildung einer breiten Partei aufnahm“, zum anderen auf Belgien, wo sich die Arbeiterpartei aus einem Kongress der sozialdemokratischen Arbeiterorganisationen entwickelte. Auf Belgien – genau genommen nicht auf Belgien, sondern auf 20 Zeilen des Buchs von Vandervelde – beruft sich gleich Ihnen auch ein anderer Verfechter der plötzlich aufgetauchten Idee einer breiten Arbeiterpartei, der Genosse Schtscheglo. England und Belgien – seit wann sind diese beiden Länder Vorbilder politischer Entwicklung für uns geworden?

In England betrachten Sie das Komitee der Arbeitervertretung als Vorbild, das allerdings die Rolle eines Zentralkomitees der Arbeiterpartei in keinem einzigen Fall für sich in Anspruch nehmen kann. Es ist ein besonderes, vornehmlich von den Gewerkschaften vorgeschlagenes Organ mit dem Ziel einer selbständigen Arbeitervertretung im Parlament. Der Sieg des Komitees bei den letzten allgemeinen Wahlen hat sicherlich eine gewaltige symptomatische Bedeutung. Das englische Proletariat, das nach der Niederlage des Chartismus in Lethargie verfiel, erwacht zu neuem politischem Leben. Aber von hier aus ist es noch sehr weit bis zu der Möglichkeit, im Komitee der Arbeitervertretung die Partei des Proletariats zu sehen, nach deren Vorbild wir die unsrige konstruieren müssten! Ohne Mühe wird das jeder verstehen, der in Betracht zieht, dass die englische Sozialdemokratie nicht in diese parlamentarische Organisation der Gewerkschaften und Arbeitervereine eingetreten ist. Ich bin sehr erstaunt, dass Sie als Sozialdemokrat diesen Umstand mit keinem einzigen Wort erwähnen, wenn Sie uns die neue englische „Partei“ als Beispiel empfehlen. Sie sind natürlich nicht verpflichtet, mit der Taktik der englischen Sozialdemokraten übereinzustimmen. Aber in jedem Falle sind Sie verpflichtet, sie zu berücksichtigen und abzuwägen. Man sollte annehmen, dass die englischen Sozialdemokraten in der Einschätzung der Bedingungen in England kompetent genug und an der Schaffung einer breiten Arbeiterpartei ausreichend interessiert sind, und wenn sie sich nichtsdestoweniger dem Komitee der Vertretung nicht anschlössen, so hatten sie ernstzunehmende Gründe dafür.

Neben den Gewerkschaften gehören diesem Komitee die Fabian Society an, die 900 Mitglieder zählt, und die Independent Labour Party, mit 16.000 Mitgliedern. Das ist ohne Zweifel der linke Flügel der parlamentarischen Organisation des englischen Proletariats. Nichtsdestoweniger lehnte die Sozialdemokratische Föderation auf ihrem letzten Kongress in Bradford (Ostern 1906) den Gedanken einer Vereinigung sogar allein mit der Independent Labour Party ab und nahm aus diesem Anlass eine Resolution Hyndmans an. Diese Bagatellen interessieren Sie natürlich nicht. Vor Ihren Augen schwebt eine millionenstarke Partei, wohingegen ich Ihre Aufmerksamkeit auf die Sozialdemokratie ziehe, die nur irgendwelche 20.000 Mitglieder zählt. Nichtsdestoweniger wage ich Ihnen zu versichern, dass die einsetzende politische Selbstbestimmung der englischen Arbeitermassen weithin der unermüdlichen Propaganda der an Zahl so geringen englischen Sozialdemokratie zu verdanken ist. Und jetzt, da sich ihr nach langjährigen, nur zum Teil unfruchtbaren Anstrengungen weite Horizonte zu eröffnen scheinen, zog sie es vor, sich nicht selbst in organisatorischer Disziplin an die Masse der Trade-Unionisten zu binden, die noch ganz von bürgerlichen Vorurteilen durchtränkt sind, sondern sich ihre Unabhängigkeit für Kritik und Propaganda zu bewahren. Die Tatsache, dass 30 Independent-Labour-Deputierte in das Unterhaus eingetreten sind, ist sehr bedeutsam, wie ich schon sagte; das Verhalten dieser Deputierten jedoch entspricht keineswegs immer den Erfordernissen der Klassenpolitik. Justice, das Zentralorgan der englischen Sozialdemokratie, musste bei verschiedenen Anlässen fragen, „wann endlich die Labour Party begreifen wird, dass es keineswegs zu ihren Aufgaben gehört, untrennbarer Bestandteil der augenblicklichen parlamentarischen Maschinerie zu sein“. Man kann sicher sein, dass die politische Entwicklung des englischen Proletariats von nun an mit raschen Schritten vorangehen wird – die sozialen und politischen Bedingungen sind äußerst günstig –, dass die englische Sozialdemokratie jedoch in diesen Prozess wesentlich mehr einbringen wird, wenn sie sich ihrer Rolle als selbständige Avantgarde bewusst bleibt und darüber wacht, als wenn sie in einer gewaltigen aber kindlich-hilflosen Arbeiter-„Partei“ aufgeht.

Aus Ihrer unverhofften Exkursion nach Großbritannien also müssten Sie, wenn Sie sich nur nicht von der vorgefassten Idee blenden lassen wollten, Schlussfolgerungen ziehen, die Ihre metaphysischen Konstruktionen völlig zerstörten:

    Abgesehen von der Tatsache, dass das Proletariat durch die objektiven Bedingungen seiner Existenz auf die soziale Revolution hin gedrängt wird, zeigt gerade das Beispiel Englands, dass die politische Entwicklung der Arbeiterklasse durchaus nicht immer in kontinuierlich-planmäßiger Weise zum Sozialismus aufsteigt. Die „Stockungen“ erstrecken sich, wie Sie sehen, zuweilen über Jahrzehnte. Folglich können die „Fügungen der Geschichte“ keineswegs als unmittelbare Garantie für unsere Sprünge ins Ungewisse und Grenzenlose dienen.
     
    Gerade das Beispiel Englands zeigt, dass die Sozialdemokratie – mag sie auch auf Grund ungünstiger historischer Bedingungen eine schmale und beinahe sektiererische Organisation geblieben sein – ihre Arbeit erfüllen kann, wenn sie auf der einen Seite zahlreiche sozialistische Instruktoren schult und auf der anderen die Abgrenzung der außerhalb ihres eigenen Rahmens organisierten Arbeitermassen von den bürgerlichen Parteien vorantreibt.
     
    Gerade das Beispiel Englands zeigt, wie die Sozialdemokratie sogar nach Bildung einer selbständigen breiten Arbeiterpartei dieser Partei unter bestimmten Bedingungen den größten Dienst nicht dadurch erweisen kann, dass sie in ihr aufgeht, sondern gerade dadurch, dass sie sich ihre volle Handlungsfreiheit für Kritik und Propaganda bewahrt.

So steht die Sache in England. Ich fürchte, Sie werden mich mit der Frage überfallen, ob denn etwa unsere sozialen und politischen Bedingungen für die rasche Bildung einer sozialdemokratischen Massenpartei ebenso ungünstig seien wie in England? O nein, erwidere ich, das ist nicht vergleichbar. Weshalb aber ziehen Sie als Beispiel ein Land heran, das uns nicht als Beispiel dienen kann, ein Land, dessen Erfahrungen eher das genaue Gegenteil dessen beweisen, was Sie beweisen wollen?

Neben England haben Sie noch Belgien herangezogen. Die Geschichte der belgischen Arbeiterpartei hat sich in Ihrer Darstellung gleichsam speziell zu unserer Belehrung vollzogen. Die Partei bildete sich im Jahre 1885 auf einem Arbeiterkongress, auf dem sowohl politische als auch ökonomische Organisationen des Proletariats vertreten waren. „Unverzüglich“, erzählen Sie, „begann ein lebhafter Kampf um das allgemeine Wahlrecht ... Jetzt hat die Partei 34 Abgeordnete im Parlament ...“

Es entsteht der Eindruck, dass sich alles „unverzüglich“ und recht einfach vollzog – dank der Tatsache, dass sich am 5. April 1885 eine Hundertschaft von Arbeitern versammelte, die 59 Organisationen repräsentierten. Das ist doch wirklich völlig verkehrt!

Zu Beginn sei gesagt, dass es zum Zeitpunkt des Gründungs-Arbeiterkongresses in Belgien keine politische Arbeiterorganisation gab, die auch nur im Entferntesten mit der russischen Sozialdemokratie vergleichbar wäre. Es gab verschiedene uneinheitliche Zirkel und Gruppen – Kooperative, Gewerkschaften, Selbsthilfevereine, sozialistische Organisationen, es gab einen völlig natürlichen Trend zur Einheit, der unter anderem auch durch die Notwendigkeiten des Kampfs um das allgemeine Wahlrecht hervorgerufen war, der aber keineswegs „unverzüglich“ nach dem Kongress von 1885 einsetzte, sondern schon einige Jahre vorher seinen Anfang nahm – bald nach der Bildung der sogenannten Belgischen Sozialistischen Partei im Jahre 1879, wenn man schon die Bewegung von 1866 nicht dazu rechnen will. Der Kongress von 1885 [1] war nicht das Unternehmen irgendeiner bedeutenden nationalen Organisation des sozialistischen Proletariats, er war der Ausfluss der Vereinheitlichungstendenz isolierter Arbeiterzirkel. Die auf diesem Kongress gegründete Partei war ohne allen Zweifel wesentlich schwächer, als unsere heutige Sozialdemokratie es ist, und sie tat ihre ersten Schritte keineswegs auf der Grundlage jener allumfassenden Organisation, wie Sie sie bei uns mit schnell entschlossenen Methoden zu schaffen gedenken. Unnötig zu betonen, dass die Assoziierung zersplitterter Vereinigungen ein gewaltiger Schritt vorwärts war; hätte jedoch in Belgien im Jahre 1885 eine nationale Sozialdemokratie existiert, die besonderer Aufmerksamkeit wert gewesen und auf dem Weg der Selektion entstanden wäre, dann würde sich ein Gründungskongress der Arbeiterassoziationen erübrigt haben, weil ein solcher ja nicht die einzige Methode zur Bildung einer Partei ist: nicht die einzige und auch nicht unbedingt die beste. Die belgische Arbeiterpartei gelangte selbst nach 1885 noch keineswegs zur raschen Ausprägung einer planmäßigen Taktik. Ohne davon zu sprechen, dass sie sich in manchen ihrer Teile mit der liberalen Partei vermischte, herrschte innerhalb vieler ihrer ökonomischen Organisationen völlige Indifferenz gegenüber Politik und Sozialismus. Aus diesen Gründen spaltete sich die neue Partei schon 1887 in zwei Teile: in die Arbeiterpartei und in die republikanisch-sozialistische Partei. Auf dem Kongress der Arbeiterpartei im Jahre 1889 wurde der Antrag eingebracht, sie in „Partei der Arbeiter“ (Parti des Travailleurs) umzubenennen und in vier vollständig autonome Organisationen: Gewerkschaften, Selbsthilfevereine, Kooperative, politische Verbände – zu unterteilen. Das Ziel dieses Antrags war eine Erweiterung der Partei. Aber weil er – nach den Worten Vanderveldes – zur Schwächung der Gesamtheit der Partei und zur Verminderung der Autorität des sozialistischen Denkens hätte führen können, verwarf ihn der Kongress mit überwältigender Mehrheit. [J] Das beweist, dass bald nachdem eine nationale Arbeiterpartei sich gebildet und ein bestimmtes Niveau erreicht hatte, sie es für notwendig hielt, primitive Organisationsmethoden abzulehnen, die sich auf eine rein formale Einbeziehung von Arbeitergruppen in den formalen Rahmen der Partei beschränken.

Die Sache steht also in Belgien kaum besser als in England. Aber schlösse man auch die Augen vor den Tatsachen und gäbe Ihren Beispielen die Bedeutung, die Sie für angebracht halten, so bliebe dennoch die Tatsache ganz unbezweifelbar, dass sowohl die belgische Arbeiterpartei im Jahre 1885 als auch die englische Arbeiterpartei im Jahre 1905 auf der Grundlage freiwilliger Assoziierungen des Proletariats, von Kooperativen, Gewerkschaften, politischen Verbänden, entstanden sind. Soweit mir bekannt, ist allerdings noch niemand auf die Idee gekommen, ganze Fabriken unterschiedslos in eine Partei aufzunehmen – nur, weil sie mehr als 2000 Arbeiter zählen! Das ist schon eine ganz und gar originelle Idee, die noch keinerlei Präzedenzfälle hat – nicht einmal in Ihrer persönlichen Deutung europäischer Erfahrungen.

Noch zwei Worte zum Schluss dieses ausgedehnten Briefes. Sie sprechen in Ihrer Broschüre von sich selbst als einem ehemaligen Mitglied der Petersburger Parteigruppe. Das gibt mir Anlass zu hoffen, dass Sie sich erinnern werden, wie weit diese Gruppe – und vielleicht auch Sie selbst? – vor anderthalb Jahren von jenen Planungen in die Breite entfernt war, an denen Sie sich jetzt ergötzen. Damals wurde von einem Zusammenfließen aller sozialistischen und syndikalistischen Strömungen in dem unermesslichen Ozean einer Arbeiterpartei nicht nur nicht geredet, sondern man glaubte im Gegenteil, dass das Wasser jeder einzelnen Strömung streng gefiltert werden müsse. Vielleicht verspürten Sie selbst, Genosse, damals die Neigung zu dieser Filterung? Ich halte es für angebracht, hier von folgender Episode zu berichten, an die ich mich lebhaft erinnere. In der Petersburger Organisation der Minderheit, der Sie angehörten und mit der mich persönliche Beziehungen verbanden, gab es einige Individuen, die mit dem offiziellen Standpunkt der Gruppe über die damals neuartige Problematik einer provisorischen Regierung und einer Beteiligung an ihr etc. etc. nicht übereinstimmten. Einer der „verantwortlichen Vertreter“ der Minderheit (das ist Ihr Terminus, Genosse!) brachte einen Antrag ein, wonach diejenigen Mitglieder der Gruppe ausgeschlossen werden müssten, die mit den flüchtig zusammengebastelten Resolutionen zu den Fragen von Aufstand, provisorischer Regierung etc. nicht einverstanden waren. Ich erinnere mich nicht an das Schicksal dieses Antrags, aber ich erinnere mich gut an eine Unterhaltung mit dem für ihn verantwortlich zeichnenden Autor. Ich erlaubte mir vor allem daran Zweifel zu äußern, ob die Gruppe ausreichend legitimiert sei, sich für autorisiert zu halten, zu so umstrittenen Fragen, die durchaus noch nicht auf der Tagesordnung standen, auf Vorrat verpflichtende Resolutionen zu produzieren. Ich fragte daraufhin den „verantwortlichen Vertreter“, was denn die aus der Gruppe ausgeschlossenen Genossen tun würden, ob sie vom Zentrum in die organisatorische Peripherie übergingen oder was sonst; er verwandle auf diese Weise im Interesse der Aufrechterhaltung der „Einheitlichkeit“ im führenden Gremium die lokalen Organisationen in Verbannungsorte für alle Andersdenkenden. Fürchte er nicht, dass in einem solchen Falle zwischen ihnen, dem restlos vereinheitlichten Zentrum, und der Masse der Arbeiter eine häretische Scheidewand entstehen werde? Der verantwortliche Vertreter antwortete mir, dass Personen, die sich von der „politischen Plattform“ der Gruppe entfernten, nicht einmal in der Peripherie toleriert werden könnten. Sie hätten nur die Alternative, zu den Bolschewiki überzugehen oder eine selbständige Organisation aufzubauen. Aber erlauben Sie, wandte ich ein (mit einigem Entsetzen, wie ich gestehe), das sind doch die gleichen rein mechanischen Operationsmethoden beim Aufbau der Partei, wie sie die Periode des Übergangs von den Zirkeln zur Organisation der Gesamtpartei in so trauriger Weise gekennzeichnet haben! Die Minderheit als solche entstand und entwickelte sich doch gerade auf der Grundlage des Protests gegen den organisatorischen Despotismus der „vereinheitlichten“ führenden Gremien! Waren nicht die Formen der Opposition der Minderheit gerade durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, Freiheit des Denkens in der Partei und, wenn gefällig, auch die Freiheit fraktioneller Irrtümer gegenüber den Gleichschaltungsmethoden der Auflösung, des Ausschlusses und der Vertreibung zu verteidigen? Der „verantwortliche Vertreter“ antwortete mir daraufhin buchstäblich folgendes: „All das mag schon sein, aber jetzt sind programmatisch-taktische Meinungsverschiedenheiten aufgetreten, die weitaus wichtiger sind als die Prinzipien der Organisationspolitik. Die Situation ist so, dass die Minderheit im Kampf um die Reinheit ihrer Prinzipien gezwungen ist, selbst die Methoden anzuwenden, die sie den Bolschewiki als Verbrechen ankreidete.“ Sie werden sich vielleicht dieser Antwort erinnern, wie Sie sich vermutlich auch der Tatsache erinnern werden, dass der „verantwortliche Vertreter“, der Autor des Organisationsantrags und mein Gesprächspartner – Sie, teurer Genosse, selbst gewesen sind. Seit damals sind anderthalb Jahre vergangen. In dieser Zeit ist viel Wasser unter den Brücken von Petersburg und anderen Orten hindurch geflossen. Diese Zeit ging für keinen von uns ohne Ergebnis vorüber. Und ich ersehe mit Vergnügen aus Ihrer Broschüre, dass Sie sich eine ganze Reihe elementarer Wahrheiten der Parteiweisheit zu eigen gemacht haben, auf die ich Ihre Aufmerksamkeit in unserem Gespräch gelenkt habe.

Das ist jedoch noch nicht alles. Diese Ihre Broschüre zeigte mir einmal mehr, dass sich nicht nur die gesellschaftliche, sondern auch die persönliche Entwicklung auf dem Weg von Widersprüchen und in Extremen vollzieht. Vom Standpunkt künstlicher organisatorischer Auslese „streng konsequenter Menschewiki“ gingen Sie zur Propagierung des Aufgehens der gesamten Sozialdemokratie als solcher in einer gewaltigen unabhängigen Arbeiterpartei über; von dem Vorschlag, aus der fraktionellen Parteiorganisation die Anhänger von Parvus und Trotzki auszuschließen, gelangten Sie zu dem Projekt, in die Parteiorganisation die Anhänger von Tschernow und Pesechonow mit einzubeziehen.

Entschuldigen Sie, Genosse, wenn ich deshalb glaube, Sie hätten das erforderliche organisatorische Gleichgewicht noch nicht gefunden. Die Entwicklung der Partei hat Sie zu sehr ins Schaukeln gebracht. Sie müssen noch zu einer geordneteren, mehr auf Synthese beruhenden Vorstellung von den Wegen und Mitteln zur Herausbildung einer Partei kommen. Sie denken im Grunde so unabhängig und so scharf, dass Sie – daran zweifle ich persönlich nicht – imstande sein werden, auf sensationelle Paradoxa zu verzichten, die nicht „Kühnheit“ des Denkens bezeugen, sondern nur – geistige Unausgeglichenheit. Ihre allumfassenden Pläne sind nur die formale Antithese zu fraktionellem Konservativismus und Fanatismus. In der Entwicklung Ihrer persönlichen politischen Reflexion ist das wahrscheinlich eine unvermeidliche Periode. Aber für die Partei wäre es ein höchst unsinniger Luxus, diese stürmische Episode zusammen mit Ihnen durchzumachen.

Empfangen Sie meinen Genossengruß

1. Dezember 1906

N. Trotzki

* * *

Anmerkungen

A. Schirokaja rabotschaja partija i rabotschij sesd [Die breite Arbeiterpartei und der Arbeiterkongress], isd. [Edition] Novyj mir, Moskau 1906.

a. K. Marx, Brief an Wilhelm Bracke, Kritik des Gothaer Programms.

B. V. A. Schtscheglo, O rabotschem sesde [Über den Arbeiterkongress], SPb. 1906, S. 14.

C. Schir[okaja] rab[otschaja] partija [ ... ], S. 52–53.

D. Schir[okaja] rab[otschaja] partija [ ... ], S. 20–21; kursiv von mir.

E. Wseobschtschaja sabastowka i nemezkaja s.-d. (Massenstreik, Partei und Gewerkschaften), Kiew, S. XIV

F. Siehe den Artikel Itogi i perspektivy [Ergebnisse und Aussichten] in dem Sammelband Nascha revoljucija [a.&bsp;a. O.].

G. Wseobschtsch. sabastowka i nemezkaja s.-d., S. XIV.

H. Polititscheskoje poloschenie i taktitscheskija problemy (Die politische Lage und die taktischen Probleme), Moskau 1906, S. 153 f.

I. Polit. Polosch. i takt. problemy, S. 154.

1. In der Vorlage „1885“, laut Herausgeber ein Druckfehler.

J. E. Vanderveld i Sch. Destre, Sozialism w Belgii (Sozialismus in Belgien), Moskau 1906, S. 103.


Zuletzt aktualiziert am 4. Dezember 2024