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Nach Schriften zur revolutionären Organisation, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 149–180.
Zwischen der sozialistischen Kritik des Liberalismus und der liberalen Kritik des revolutionären Sozialismus besteht fürwahr ein bedeutsamer Unterschied: Die Liberalen werfen uns vor, dass wir Sozialisten seien; wir werfen den Liberalen vor, dass sie schlechte Liberale sind.
Wir lassen uns natürlich nicht die Hände für die Kritik des Liberalismus in seiner Gesamtheit binden. Die sozialistische Propaganda geht aus von der Entlarvung jeder politischen Ideologie, die offen oder stillschweigend die Unverletzlichkeit der kapitalistischen Produktionsverhältnisse anerkennt. Und der Liberalismus, auch der konsequenteste, ist eine solche Ideologie.
Unsere täglichen politischen Auseinandersetzungen mit dem Liberalismus erheben sich jedoch noch viel zu selten bis zur Höhe dieser Wasserscheide. Unsere „Zusammenarbeit“, unsere Konkurrenz, unsere polemischen Scharmützel mit dem Liberalismus entwickeln sich auf der tiefer gelegenen Ebene des Kampfes um die Demokratie. Das bestimmt die konkrete Phase der historischen Entwicklung. In Frankreich, wo der konsequenteste Liberalismus, der demokratische Radikalismus Clemenceaus, am Ruder der Republik steht, dreht sich der gesamte tägliche Kampf unserer Partei mit den Parteien der Bourgeoisie um die Frage: Kapitalismus oder Kollektivismus? In Russland, wo die Eroberung der demokratischen Ordnung die zentrale Aufgabe bildet, sind unsere Beziehungen zum Liberalismus in bejahender wie in ablehnender Hinsicht beinahe ausschließlich auf den Rahmen dieser primären Aufgabe beschränkt. Nur die theoretische Polemik und die sozialistische Propaganda, unerlässliche Teilelemente des proletarischen Klassenkampfes, die jetzt jedoch einen sehr bescheidenen Stellenwert in der Realität des Alltags unserer Partei besitzen, heben die tagtägliche politische Agitation auf die Höhe des Grundwiderspruchs zwischen der Welt kapitalistischer Exploitation und der Welt sozialistischer Gleichberechtigung.
Die Sozialdemokratie schafft nicht für sich selbst ihre eigene historische Grundlage und sucht sich politische Aufgaben nicht aus Eigenmächtigkeit heraus. Sie arbeitet auf der Grundlage, die sie trägt, und nimmt die Probleme in Angriff, die durch die gesellschaftliche Entwicklung gestellt sind. Sie kann die natürlichen Phasen der politischen Entwicklung nicht überspringen – oder besser gesagt, sie kann das Proletariat nicht über die Phasen hinweg tragen, sie kann nicht die Geschichte aufgrund eines verkürzten Lehrgangs oder eines von ihr selbst zusammengestellten Konzepts umgehen. Jeder Versuch, die politischen Ausdrucksformen des Klassenkampfs künstlich zu forcieren, wird, soweit ein solcher Versuch sich nicht einfach als irreal erweist, einen reaktionären Gehalt bekommen. Nach einigen trügerischen politischen Fortschritten wird er unvermeidlich die politische Entwicklung rückwärts treiben.
Mit diesen Überlegungen ist besonders auch unser Verhältnis zum Liberalismus angesprochen. Vor dem Land steht die Aufgabe des demokratischen Neubeginns – ganz offenkundig eine historisch beschränkte Aufgabe. Unsere Verpflichtung gegenüber dieser Aufgabe jedoch besteht nicht nur darin, theoretisch ihre Beschränktheit aufzuzeigen, sondern vor allem darin, sie praktisch zu überwinden. Wenn vor uns der Liberalismus existiert – nicht als bloße Doktrin, sondern als lebendige gesellschaftliche Bewegung – sind wir alles zu tun verpflichtet, um ihn im Interesse der historischen Sache zu nutzen, die an der Reihe ist. Den Liberalismus als solchen mit einem Anathem zu belegen, ihn in der Agitation einer oberflächlichen Negation zu unterwerfen, bevor er sich in gesellschaftlichen Strukturen realisiert, heißt ganz offenkundig, der Reaktion einen Dienst erweisen.
All das ist ganz unbezweifelbar und altbekannt. Diese Binsenwahrheiten und elementaren Anfangsgründe jedoch sind völlig unzureichend für die Bestimmung einer sozialdemokratischen Taktik.
Was bedeutet: den Liberalismus „nutzen“? Was heißt: ihn „anspornen“? Was heißt: den Liberalismus unterstützen, soweit er gegen die Reaktion gewendet ist, und ihn bekämpfen, soweit er danach trachtet, das Volk an der Hälfte des Wegs zurückzuhalten?
Bislang hat der Liberalismus seine historische Mission nicht erfüllt, wir können ihn nicht allein als Liberalismus oder auch nur hauptsächlich als Liberalismus entlarven. Können wir ihn jedoch – und in welchen Grenzen – vor der Masse als schwankenden, unentschlossenen, inkonsequenten, kurzum als schlechten Liberalismus kritisieren? Kann eine solche Kritik nicht der Sache der Reaktion dienen? Und wenn sie es kann, in welchen Fällen?
Dem Liberalismus selbst erscheint jede Kritik, die von links gegen ihn gerichtet wird, als Unterstützung des Absolutismus. Deshalb können wir nicht mit dem Selbstverständnis des Liberalismus als einem Kriterium rechnen – sonst müssten wir von Anfang an auf uns selbst verzichten und uns unter die Kappe des Liberalismus stellen, jenes real vorhandenen Liberalismus, wie er im gegebenen Augenblick existiert. Das fordert er im Grunde auch von uns. Die Sozialdemokratie findet nichtsdestoweniger, wie bekannt ist, andere Begründungen für ihre Existenz.
Die Sozialdemokratie unterstützt den Liberalismus und „spornt ihn an“ – und zwar durchaus nicht mit seinem eigenen Einverständnis. Bei dieser Tätigkeit nehmen die Fälle direkter und unmittelbarer Unterstützung der Liberalen (Stimmabgabe für sie bei Wahlen/Abdruck ihrer Aufrufe, auch wenn bei ihnen selbst der Mut dazu nicht ausreicht) einen untergeordneten und völlig unwichtigen Platz in der allgemeinen Ökonomie unserer Beziehungen ein. Ihrem Wesen nach bildet die Unterstützung, die wir dem Liberalismus leisten, die Kehrseite unseres Kampfes mit ihm. Indem wir den Liberalismus kritisieren, indem wir ihn vor dem Angesicht der Bevölkerung, auf die er einwirken will, entlarven, zwingen wir ihn, vorwärts zu schreiten. Aus den Verpflichtungen, die der Liberalismus gegenüber dem Volke eingeht, machen wir eine logische Kette von Konsequenzen; diese Kette werfen wir ihm als Schlinge um den Hals und zerren ihn zu sich selbst. Wenn er sich zu widersetzen beginnt, zieht sich die Schlinge um seinen Hals ein wenig zusammen und schafft ihm Unbequemlichkeit. Freiwillig-unfreiwillig, häufig mit unterdrückten Verwünschungen, geht er vorwärts. Bei jedem Schritt versucht er, uns anzuhalten, redet uns zu, eine Atempause einzulegen, beschuldigt uns der Direktheit, Taktlosigkeit, Vergewaltigung und sagt sich von uns los. Da jedoch Richtung und Tempo unserer Bewegung durch die politische Entwicklung der Volksmassen und nicht durch das Selbstverständnis des Liberalismus bestimmt sind, vergrößern wir unseren Druck beständig in dem Maß, in dem die Massen vorwärts schreiten, und so zwingen wir den Liberalismus, die Marschroute einzuschlagen und voll zu Ende zu gehen, die seine soziale Qualität zulässt. Und wenn er schließlich seine „Grenze“ erreicht und verharrt, zieht sich die Schlinge unerbittlich um seinen Hals zusammen – und auf der Straße der Geschichte bleibt eine Leiche zurück. So verwandelte die „Unterstützung“ der deutschen Sozialdemokratie den deutschen Liberalismus in eine Leiche.
Ist eine solche Taktik gegenüber der bürgerlichen Opposition in Russland gerechtfertigt?
Wenn man die Begriffe: russischer Liberalismus, russische liberale Partei – verwendet, darf man darunter nichts historisch Abgeschlossenes verstehen, das es totaliter zu akzeptieren oder abzulehnen gelte. Tatsächlich haben wir einige liberale Parteien verschiedener Stärke, mit unterschiedlichem Grad von Demokratismus, mehr oder minder ungleichartig in ihrem Inneren (Mirnoe Obnowlenie, Partei Demokratischer Reformen, Kadetten, Trudowiki, Volkssozialisten und schließlich einen guten Teil der Sozialisten-Revolutionäre). All diese Parteien und Gruppen kämpfen um Einfluss, schlagen eine Richtung ein, passen sich an und wandeln sich. Es bilden sich die verschiedenartigsten Kombinationen, hier flüchtigere, dort beständige. Gestern erst entstandene politische Organisationen zerfallen heute schon, und ihre Bestandteile gehen in neue politische Gebilde ein. Das Chaos besteht noch, aber zwei Organisationen sind bereits dabei, es sich zu unterwerfen. Einen derartigen Anblick bot das biblische Land am ersten Tag der Schöpfung.
Wie muss das Verhalten der Sozialdemokratie sein, die selbst als Teilelement in diesem Chaos erscheint, ihrerseits jedoch bewusst auf seine weitere Kristallisierung einwirken kann? Vor allem ist ausdrücklich festzuhalten: Die Sozialdemokratie kann sich in keiner Weise die Aufgabe stellen, irgendeine der bestehenden oppositionellen Gruppen zu fixieren und zu festigen – im Gegenteil, der wichtigste Dienst, den sie der Sache der Demokratie erweisen kann, besteht in der beharrlichen und erbarmungslos misstrauischen Kritik aller liberalen Parteien unter dem Blickwinkel eines konsequenten Demokratismus.
Wenn wir unter faktischer Ignorierung der bestehenden liberalen Parteien lediglich danach strebten, den Liberalismus als solchen zu kompromittieren, dann würden wir reaktionär handeln. Wenn wir jedoch die bestehenden liberalen Parteien einer konkreten Kritik unterziehen, dann entlarven wir ihre Inkonsequenz eben unter dem Aspekt des Liberalismus als solchen, und unsere Kritik dient, wie scharf und hart sie auch sein mag, welchen Schaden sie dieser oder jener Fraktion des Liberalismus auch zufügen sollte, im großen Ganzen der Sache der Demokratie.
Zuletzt aktualiziert am 13. November 2024