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Nach Schriften zur revolutionären Organisation, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 149–180.
Was sind die Kriterien unserer Einschätzung und unserer Kritik des Liberalismus? Ein formales Kriterium bildet unser Programm der bürgerlichen Revolution, d. h. unser Minimalprogramm. Die Methode unserer Kritik ist die materialistische Analyse jeder neuen politischen Situation.
Wenn man von jenem Klasseninhalt abstrahiert, mit dem die sich entwickelnde Arbeiterbewegung unser Minimalprogramm erfüllt, dann steht es als logisch in sich geschlossenes Programm der Demokratie vor uns. In dieser Gestalt müssen wir es so häufig wie möglich für die Kritik der bürgerlichen Opposition benutzen. Das Minimalprogramm, das sind die Forderungen, auf die wir die Demokratie in der Periode ihres Kampfes um die Macht verpflichten wollen und zu deren Erfüllung wir sie zwingen werden, wenn die Macht in ihren Händen sein wird. Wir besitzen keine theoretischen oder taktischen Gründe für eine Beschränkung oder Verkürzung dieser bis ins letzte konsequenten Forderungen der Demokratie oder für ihre Ersetzung durch andere halbherzige, vorbereitende, nicht endgültige Losungen, und es kann sie auch nicht geben.
Ich erlaube mir, dies hier mit zwei, drei Beispielen zu illustrieren. Der Achtstundentag – das ist die zentrale Losung der Arbeiterdemokratie. Man hat häufig gegen uns argumentiert (und wird das noch öfter tun), dass sich die rückständige russische Industrie nicht mit einer nur achtstündigen Ausbeutung der Lohnarbeit begnügen könne; sollten wir uns unter diesen Umständen nicht zeitweilig auf die Forderung eines Zehn- oder Neunstundentages beschränken? Nein! Genau die Frage, ob für die russische Industrie der Achtstundentag tragbar ist, kann nicht mittels statistischer Berechnungen oder auf Grund abstrakt theoretischer Überlegungen entschieden werden, sondern allein durch die Praxis der sozioökonomischen Entwicklung. Zu der Reihe der Faktoren, die ihre Entscheidung bestimmen, gehören: der Druck des Proletariats auf das Kapital, der Widerstand des Kapitals, die Anpassung des Kapitals an den Markt, an den technischen Weltstandard, usw. Wir können lediglich auf einen dieser Faktoren unmittelbar Einfluss ausüben, nämlich auf die Klassenenergie des Proletariats. Die Forderung des Achtstundentags als allgemeine Klassenforderung koordiniert und verallgemeinert den Kampf um die Verkürzung des Arbeitstages, den verschiedene Gruppen des Proletariats zu verschiedenen Zeitpunkten führen. Die grundsätzlich internationale Losung dieses Kampfes bringt es mit sich, dass er mit höchster Anspannung geführt wird, und gerade deshalb wird es möglich, praktische Maximalziele anzustreben. Diese Taktik setzt keineswegs parlamentarischen „Nihilismus“ voraus: Wenn das Schicksal einer Gesetzesvorlage zum Zehnstundentag von unseren Stimmen abhinge, würden wir ihr natürlich unsere Stimmen geben. Eine derartige Gesetzesvorlage hat jedoch um so größere Chancen, in einem bürgerlichen Parlament die Mehrheit hinter sich zu bringen, je energischer die Massen für den Achtstundentag eintreten.
Eine andere Losung, der die Sozialdemokratie breite Popularität verschafft hat, ist die der unbeschränkten Volksherrschaft. Die Liberalen haben uns schon häufig auf die „Taktlosigkeit“ dieser Forderung hingewiesen, die ihrer Meinung nach in einem krassen Widerspruch zu den „naiven monarchistischen Vorurteilen der Massen“ stehe. Im ersten Fall versucht man, uns mit volkswirtschaftlichen Schwierigkeiten einzuschüchtern, im zweiten mit massenpsychologischen: Müssen wir nicht tatsächlich zugeben, dass die Forderung der Volkssouveränität unangebracht ist, wenn sie die Massen „einschüchtert“? Bevor wir das jedoch tun, müssen wir unsere Kritiker fragen, worin denn ihrer Meinung nach das Wesen der Propaganda ganz allgemein besteht, wenn nicht in der Befreiung des Bewusstseins der Massen von „naiven Vorurteilen“? Für uns wenigstens ist das Hauptziel politischer Agitation und Propaganda mit der Entwicklung des Bewusstseins der Massen umrissen. Und wenn wir den Achtstundentag und die Volkssouveränität nicht sofort für die Massen erobern können, dann müssen wir sofort die Massen für den Achtstundentag und die Volkssouveränität erobern.
Ein drittes Beispiel sei aus der jüngsten Geschichte der taktischen Meinungsverschiedenheiten innerhalb unserer Partei genommen – die Frage der Losungen „für die Duma“ oder „für die Konstituierende Versammlung“ Die Anhänger der ersten Losung wiesen völlig zu Recht darauf hin, dass uns die Duma der Konstituierenden Versammlung nur näher bringen kann, wie uns der Zehnstundentag dem Achtstundentag näher bringt. Aber sie haben sich schwer geirrt, wenn sie behaupteten, dass „uns der Kampf für die Duma gegen die Bürokratie tausendmal näher an die Konstituierende Versammlung heranbringen wird als das ganze Geschrei (?) von der Konstituierenden Versammlung“. (Nasche Djelo) Dagegen können wir mit vollem Recht einwenden, dass uns der Kampf für die Konstituierende Versammlung gegen den Absolutismus tausendmal näher an die Duma heranbringen wird, d. h. auch an die Konstituierende Versammlung, als das ganze Geschrei von eben dieser Reichsduma.
Die Parteigänger der ersten Losung wendeten ein, dass die Konstituierende Versammlung jetzt nicht realisierbar sei; wir antworten, dass unsere Forderungen nicht daraufhin berechnet sind, dass etwas „jetzt“ realisierbar sei; sie stellen ein Programm weit radikalerer Maßnahmen dar, die unter den Bedingungen der bürgerlichen Revolution realisierbar sein werden. Wenn die Konstituierende Versammlung „jetzt“ nicht zu erreichen ist, dann war sie es noch viel weniger zu dem Zeitpunkt, als wir sie in unser Programm aufnahmen und eine gewaltige Agitation um diesen Punkt entfalteten. Bei der Entscheidung der Frage, was realisierbar und was nicht realisierbar ist, haben wir kein anderes Kriterium (und können kein anderes haben) als die objektive Analyse, auf Grund derer unser Minimalprogramm formuliert ist. Müssen wir von ihm abweichen, so erweisen wir uns als Opfer eines subjektiven Voluntarismus und vulgären Empirismus. Wir würden sonst in Abhängigkeit von der Schärfe unseres politischen Weitblicks bald die eine, bald die andere Losung aufstellen, unsere Forderungen dem jeweiligen politischen Niveau der Bauernschaft, des Kleinbürgertums, der mittleren Bourgeoisie und schließlich der jeweiligen Beschaffenheit der staatlichen Macht anpassen, und endlich würden wir unsere Losungen in Abhängigkeit von tausend Faktoren beschneiden müssen – von Faktoren, die sich permanent verändern und neu formen würden, bevor die Partei in ihrer jeweiligen Einschätzung zu Übereinstimmung gelangt wäre. Das wäre keine Taktik mehr, das wären „Millionen Qualen“. Eine solche Art des Vorgehens entwickelt das Bewusstsein der rückständigen Klassen, der Bauern und des Kleinbürgertums, kaum weiter und führt unbestreitbar Verwirrung in die Reihen des Proletariats. Nein, es genügt uns völlig, dass die Forderung nach der Konstituierenden Versammlung nicht nur nicht der bürgerlichen Revolution widerspricht, sondern im Gegenteil sogar die höchste Stufe ihrer Entfaltung voraussetzt und vorbereitet. Wenn die Revolution auf Grund ihres inneren Kräfteverhältnisses nicht bis zur Konstituierenden Versammlung gelangen wird, dann wird sie doch in jedem Falle dank unserer grundsätzlichen Taktik bis zum höchsten ihr erreichbaren Niveau gelangen.
Auf Grund der augenblicklichen Lage ist dieser Streit jetzt von der Tagesordnung abgesetzt – wenigstens bis zur Sprengung der zweiten Duma. Wenn wir noch nicht darüber hinausgelangt sind, so ist das die Folge eines prinzipiellen Irrtums, der sich in ihm abzeichnet.
Ein Genosse, mit dem ich über diese Frage korrespondierte, führte folgende grundsätzliche Überlegung zugunsten der Losung „für die Duma“ an: Unser Ziel, schrieb er, ist die sozialistische Gesellschaftsordnung; das hinderte uns freilich in keiner Weise, das Minimalprogramm voranzutreiben, weil es die Voraussetzung für das Maximalprogramm als Gesamtheit der Maßnahmen darstellt, die die Durchführung des Sozialismus erleichtern müssen. Eben diese politische Logik, so folgert der Genosse, veranlasst uns jetzt, nach der Reichsduma als der Voraussetzung für die Konstituierende Versammlung zu streben. Diese Schlussfolgerung gründet sich auf eine rein formale Analogie logischer Symmetrie. Wenn sie ihre Beweiskraft aus der Existenz des Minimalprogramms zieht, beseitigt sie in Wahrheit den Sinn seiner Existenz; denn sie beraubt es seiner Bedeutung für uns als Minimalprogramm und schafft freien Raum für die Aufstellung immer minimalerer Forderungen. Auf diesem Weg würden wir uns gar in Achilles verwandeln, der mathematisch immer kleinere Schritte machen muss und so die Schildkröte niemals einholen kann – das ewige Drama des Reformismus.
Zuletzt aktualiziert am 13. November 2024